Das Leichentuch

Autor: Ueberlieferung
Themenbereiche
Der Schulmeister in Möbisburg ging einmal noch in dunkler Nacht zum Frühläuten in die Kirche. Da lag ein feuriger Hund vor dem Altar. Darüber erschrak der Mann so heftig, daß er den dritten Tag danach starb. Nun mußten zunächst die jungen Burschen der Reihe nach, jedesmal zwei, zur Frühkirche läuten. Da geschah es, daß einmal zwei gute Freunde zusammen auf den Turm gingen. Der eine hatte den andern abgerufen, in der Meinung, daß es bald fünf Uhr sei. Als sie aber den Turm erstiegen haben, schlägt es erst zwölf, und zugleich hören sie ein Geräusch auf dem Gottesacker. Zur Turmluke hinausschauend, erblicken sie im Mondschein einen Fremden, der hastig über die Gräber läuft, auf einem Grabe niederkniet, es aufscharrt, den Toten entkleidet, auf die Achsel wirft und mit ihm von dannen rennt. »Was gilts«, spricht der eine Bursche zum andern, »ich hole mir das Leichentuch da unten.« Der andere sucht ihn davon abzubringen; aber der verwegene Mensch hört nicht, holt das Leichentuch und bringt es auf den Turm. Nach einer Welle kommt der Fremde mit dem Toten auf der Achsel zurück, wirft ihn hin und vermißt, als er ihn wieder ankleiden will, das Leichentuch. Sogleich ruft er zum Turme hinauf: »Gib das Leichentuch zurück! « Weil aber der Bursche nicht Folge leistet, so sehr ihn sein Freund auch bittet, so reißt der Fremde die Turmtür auf und stürmt die Treppe empor. In ihrer Angst kriechen die beiden Burschen unter die Glocke., weil man da vor Gespenstern und allem Bösen sicher ist. Der Fremde rennt und tobt um die Glocke herum, doch ohne sie anzurühren. Weil aber ein kleiner Zipfel des Leichentuches hervorsieht, erfaßt er es und trabt damit die Stufen hinab. Im gleichen Augenblick, als er unten den Toten erfaßt, um ihn zu bekleiden, schlägt die Turmuhr eins. Da sehen die Burschen am Turmloche, wie er Leiche und Leichentuch hinwirft und. gleich dem Sturmwinde entflieht. Am andern Morgen fand man die Leiche auf dem Gesichte liegend und über sie das Leichentuch gebreitet.