Sechstes Kapitel. - Hier auf der Bergeshöhe war noch heller Tag. Als man durch den Park ...

Hier auf der Bergeshöhe war noch heller Tag. Als man durch den Park die letzte Höhe hinanfuhr, stand Lina in blaugeblümtem Sommergewande am Weg zwischen den grünen Bäumen. Als sie des Wagens ansichtig wurde, kehrte sie schnell um. Zwei hellblaue Bänder, nach der Mode rückwärts geknüpft, spielten im Abendwinde.

»Ah,« rief Prancken, »wir treffen heute die Gesellschaft zur kalten Küche bei meiner Schwester. Das holde Kind, das dort geht, ist die Tochter des Landrichters, frisch gebacken aus der Pfanne des Klosters Sacré Coeur zu Aachen. Da werden Sie ein echtes rheinisches Kind kennen lernen. Das freundliche Kind meldet uns der Gesellschaft an. Die Familie ist sehr ehrenwerth, sehr achtbar, die Kleine zu einem Interims-Verhältniß eigentlich zu gut.«


Frohgemuth sprang er aus dem Wagen, reichte Erich die Hand und sagte:

»Willkommen auf Wolfsgarten!«

Im Hofe standen mehrere Wagen und im Garten traf man die Gesellschaft der Frauen; sie saßen mit Fächern und Sonnenschirmen in der Hand auf zierlichen Stühlen um ein großes rundes Beet üppig wuchernden Vergißmeinnichts, in dessen Mitte sich blühende rothe Rhododendren erhoben.

»Wir sind keine Ruhestörer, lassen Sie sich nicht stören, meine gnädigen Damen,« rief Prancken schon aus der Ferne in muthwilligem Ton.

Bella grüßte ihren Bruder und sodann Erich, den sie sofort wieder erkannte. Er wurde vorgestellt. Frau Landrichter, Fräulein Lina – diese Beiden waren so glücklich, eine Begegnung von gestern erneuern zu können – dann wurde Frau Kreisphysicus und Schwester, Frau Oberförsterin und Schwester, Frau Apothekerin, Frau Bürgermeisterin, Frau Schuldirector, zwei Kaufmannsfrauen und zwei Fabrikantinnen vorgestellt. Die ganze Honoratiorenschaft des Städtchens schien vollzählig.

Die Herren, hieß es, seien nach einem nahen Aussichtspunkte gegangen und würden bald zurückkehren.

Die Unterhaltung mochte nicht sehr lebhaft gewesen sein; die Erscheinung Erichs erregte Interesse. Die Frau Directorin, eine große üppige Gestalt – Frau Bella nannte sie Frau Kleiderleib, denn sie wußte sich vortrefflich zu kleiden und Alles stand ihr gut – nahm ihre Lorgnette auf und schaute in die Landschaft, benutzte aber diesen Ueberblick, um Erich näher in Augenschein zu nehmen. Die Art, wie sie dann die Lorgnette in der Hand wiegte, schien zu sagen, daß sie einen nicht unangenehmen Anblick gehabt habe.

Nach den ersten Fragen, wie lange Erich den Rhein nicht gesehen, und nachdem er mitgetheilt, wie ihm Alles wieder ganz neu erschien und fast berauschend auf ihn gewirkt habe, erinnerte Bella, daß sie ihn zum letztenmal gesehen, als er ein Solo in einem Wohlthätigkeits-Concerte sang. Sie fragte dann nach seiner Mutter und scheinbar beiläufig, aber nicht ohne Betonung erwähnte sie, daß deren einziger Bruder, der Baron von Burgholz, so plötzlich auf Madeira gestorben sei.

Bella sprach so leicht, das Sprechen schien ihr durchaus Nebensache, sie veränderte beim Sprechen kaum einen Gesichtszug, ja sie bewegte kaum die Lippen; nur beim Lächeln zeigte sie die volle Reihe kleiner weißer Zähne.

Bella wußte, daß Erich sie genau betrachtete, während er sprach, und mit einer Ruhe, als stünde sie nur einem Spiegel gegenüber, schaute sie drein.

Mit großer Freundlichkeit stellte sie dann Erich der anmuthigen Oberförsterin, die eine vortreffliche Liedersängerin sei, noch besonders vor und fragte dabei, ob er auch noch fleißig singe; er erwiderte, daß er jede Möglichkeit benutzt, um in der Uebung zu bleiben.

Der Abend war ungewöhnlich schwül, eine beklemmende Spannung lag auf dem Berge und über dem Thal. In der Ferne zog ein Gewitter herauf. Man überlegte, ob man das Gewitter auf Wolfsgarten abwarten oder sofort zurückkehren solle.

Die anmuthige Oberförsterin sagte, sie gestehe offen, daß sie sich vor einem Gewitter fürchte.

»Ah, da kommen die Herren!« hieß es plötzlich. Zwei schöne Hühnerhunde sprangen voraus in den Garten, sie umkreisten den Hund Pranckens, der in der Fremde gewesen war, und beschnüffelten ihn, als wollten sie auswittern, was er draußen erlebt habe. Hinter den Hunden drein folgten die Männer.

Erich erkannte sofort den Grafen Clodwig. Es war eine saubere, wohlgepflegte Erscheinung; das glattrasirte, ältliche Gesicht, das aber keinerlei Abspannung und Schlaffheit bemerken ließ, zeigte ständige Freundlichkeit. Clodwig hatte zwei Eigenschaften, die sich selten vereinen: er war liebenswürdig und imponirend; obgleich er nie etwas von aristokratischer Ueberhebung zeigte und Jeden gleich freundlich und gütig behandelte, verstand es sich von selbst, daß sich ihm Alle unterordneten.

Als ihm Erich vorgestellt wurde, sagte er:

»Seien Sie mir willkommen als Sohn meines römischen Freundes.« Er drückte dann die feine goldene Brille mit dem kleinen Finger der linken Hand etwas schärfer ans Auge.

Als nun Erich erwiderte, sagte er in bewegtem Tone:

»Sie haben ganz die Stimme Ihres Vaters.«

Nur einen Augenblick schaute er vor sich nieder und preßte die feinen Lippen zusammen.

Die Art, wie Clodwig sprach, war maßvoll und anmuthend.

»Hier stelle ich Sie einem guten Kameraden vor,« sagte er aufschauend und lächelte auffällig, indem er auf einen alten Herrn mit dickem, rothem Kopfe und schneeweißen, kurzgehaltenen Haaren wies. »Das ist unser Major, Herr Major Graßler.«

Der Major nickte wohlwollend und reichte Erich eine Hand mit vier Fingern, der Zeigefinger fehlte; aber der Alte wußte doch die Hand des Fremden kräftig zu drücken. Er nickte nochmals, sagte aber kein Wort.

Die anderen Herren wurden ebenfalls genannt. Ein schöner junger Mann mit gebräuntem Gesicht und schönem Kinn- und Schnurrbart wurde als Architekt Erhardt vorgestellt. Er verabschiedete sich aber sofort bei dem Grafen, da er noch in dem Kalksteinbruche eine Bestellung zu machen habe.

Der Schuldirector sagte Erich, daß auch er ein Schüler des Professor Einsiedel sei.

Der Major wurde von den Frauen aus dem Männerkreise abgerufen. Man schalt, daß er, der sonst immer aufmerksam gegen die Frauen und ihr treuer Beschützer, sie heute auch verlassen hatte und mit den Männern gegangen war. Jetzt sollte er Alle entschädigen.

Die Mädchen hatten spielend einen Kranz gewunden.

Kaum hatte der Major sich gesetzt, als die Mädchen ihm den Kranz auf sein weißes Haupt legten. Er nickte fröhlich und wünschte, daß man einen Spiegel hole, damit er sich auch sehen könne. Gegen Lina hob er den Zeigefinger der linken Hand auf und fragte, ob sie das im Kloster gelernt habe.

Es zeigte sich bald, daß der Major die Zielscheibe für die Witzbolzen war, denn es gibt nicht leicht eine Gesellschaft, wo nicht Einer sich dazu hergeben muß oder sich freiwillig zu Gebote stellt. Der Major machte jedem Menschen, der ihn kannte, mehr Freude, als er selber wußte, denn Jeder lächelte freundlich, wenn er an ihn dachte oder wenn von ihm gesprochen wurde.

Ein Windstoß flog über die Hochebene dahin, die Flagge auf dem Herrenhause wurde eingezogen, man trug die gepolsterten Stühle schnell unter den bedeckten Vorbau. Mit behaglichem Gefühl saß dann die Gesellschaft im erleuchteten Saale beisammen, während es draußen stürmte.

Eine Weile konnte noch kein anderes Gespräch aufkommen, als vom Gewitter. Der Major erzählte von einem kleinen Scharmützel, das sie einmal ausgeführt hätten, während es entsetzlich donnerte und blitzte; er brachte es sehr ungeschickt vor, aber man verstand doch, daß er sagen wollte: wie gräulich es war, daß man einander mordete, während der Himmel drein sprach.

Der Landrichter erzählte, daß ein Bursche, der einen falschen Eid schwören wollte, plötzlich, als er eben die Hand aufhob und ein Donnerschlag dreinschallte, die Hand sinken ließ und rief: »Ich hab's gethan.« Der Oberförster berichtete vergnüglich, daß das Gewitter dem Jäger besonders willkommen sei, denn nach demselben komme gewiß das Wild schußgerecht heraus. Der Schuldirector gab eine Schilderung, wie die Kinder während eines Gewitters so schwer in der Schulstube zu beschäftigen seien; man könne im Unterricht nicht fortfahren, und wisse doch nicht, was man mit ihnen anfangen solle.

Erich bemerkte in leichtem Ton:

»Was uns hier als tobendes Gewitter die Seele einnimmt, ist drunten am Niederrhein, droben im Elsaß ein fernes Wetterleuchten, das die bedrückende Hitze des Tages kühlt. Mit Behagen sitzen die Menschen dort in Gärten und auf Balconen und athmen die reine Luft ein.«

Er führte das in heiterer Weise aus und wußte das Gegenwärtige ganz vergessen zu machen. Die Oberförsterin, die in einer Nebenstube im Dunkeln gesessen und sich die Augen zugehalten hatte, kam bei den Worten Erichs, die sie vernommen haben mußte, in den Saal und war ganz unbefangen. Erich fuhr fort zu berichten, wie ihn am vergangenen Abend die Zeitungsnachrichten aus Amerika berührt haben; jetzt erscheine ihm die Luftspannung überm Ocean auch als ein Gewitter, das vielleicht die beklemmende Atmosphäre der alten Welt reinige.

Der Landrichter und der Schuldirector zuckten die Achseln. Die Energie, mit welcher Erich aus geschlossener Sammlung sein Gedankenleben kundgab, hatte etwas Befremdendes, ja für einen Theil der Männer etwas Verletzendes. Sie fühlten, daß diese fremde Tonart und dieses Herausheben des Besten, das man in sich wußte, die Frauen anzog und diejenigen in Schatten stellte, die nur gelegentlich und da noch ohne Sammlung und Abrundung etwas mittheilten. Der Landrichter sah in das strahlende Auge seiner Tochter und der Oberförsterin und sagte leise zum Schuldirector:

»Das ist ein gefährlicher Mensch.«

Das Gespräch zertheilte sich in Gruppen. Erich stand mit Clodwig im Erkerfenster; sie schauten in die Nacht hinaus. Ueber den jenseitigen Bergen zuckten die Blitze auf, bald eine glühende Höhe am Horizont zeigend, bald nur den Himmel zerreißend, wie wenn hinter ihm noch ein zweiter Himmel wäre, und der Donner rollte drein, daß die Decke zitterte und die herabhängenden Prismen an den Kronleuchtern klirrten.

»Wie jetzt hier mit Ihnen, stand ich einst mit Ihrem Vater in der Campagna bei Rom,« begann Clodwig: »Ich bin nie dazu gekommen, ihm ganz zu sagen, was ich ihm von damals an verdanke. Wir lebten damals in einer künstlichen Welt, Ausbildung unserer Individualität erschien uns als einziges Ziel; jedes Einwirken auf das Leben Anderer erschien uns störend. Ich weiß nicht, wie es kam, wir sprachen über jene Anschauung, die die Dinge der Welt unter dem Gesichtspunkt der Unendlichkeit betrachtet. Da sagte Ihr Vater . . . ich meine, ich höre seine Stimme noch: Indem wir das Leben der Menschheit als Ganzes fassen, finden wir jene Ruhe, die die Gläubigen haben, da wir mit ihnen dann die Welt in der Einheit des Gottesgedankens halten. Wer den Gang der einzelnen Ameise verfolgt, begreift ihre Zickzackwege nicht und das Schicksal, wie sie plötzlich in die Grube des Ameisenlöwen fällt, der doch auch leben muß. Wer aber den Ameisenhaufen als Einheit sieht . . .«

Clodwig hielt in seiner Rede inne. Aus dem Thal heraus hörte man den schrillen Pfiff der Locomotive und das dumpfe Rollen des Bahnzuges.

»Damals freilich,« setzte er nach einer Pause hinzu, und sein Antlitz wurde von einem raschen Blitz erleuchtet, »damals störte die stille Betrachtung noch kein Pfiff der Locomotive.«

»Und doch,« entgegnete Erich, »ist dieser schrille Ton eigentlich keine Dissonanz. Die Menschen führen ihr gesetztes Leben fort mitten im Aufruhr der Natur. In unserer Zeit zieht sich ein unabänderliches System von Bewegungen unaufhaltsam über unsere Erde. Man könnte sagen, all unser Schaffen und Wirken ist ein Bereiten von Wegen, ein Offenhalten der Bahn, daß sich die ewigen Naturkräfte frei bewegen. Bahndienst hat der neue Mensch auf Erden.«

Clodwig faßte die Hand Erichs. Ein lang anhaltender, sich mehrfach fortsetzender Blitz zuckte über der Landschaft und beleuchtete das strahlende Antlitz des jungen Mannes und das klare des alten Herrn. Fest drückte Clodwig die Hand Erichs.

Mit bewegter Stimme, als offenbare er ein Geheimniß, das sich ihm schwer von der Lippe ringe, das er aber doch kundgeben müsse, sagte Clodwig:

»In solchen Gewittern dachte ich mich schon oft in jene Zeit zurück, da alles Land hier bis zum Odenwald hin ein großer Landsee war, woraus einzelne Berge wie Inseln hervorragten, bis der Strom sich sein Bett durch die Felswand riß. Und haben Sie, junger Freund, sich schon einmal dem Gedanken hingegeben, daß das Chaos wieder hereinbricht?«

»Ich habe es versucht, aber wir können uns weder in die vormenschliche, noch in die nachmenschliche Zeit denken. Wir können nur die Arbeitsstunde, die man siebzig Jahr nennt, nach bester Kraft ausfüllen.«

Der Major kam und bat die beiden Herren, in den inneren Saal einzutreten, wo sich die Gesellschaft versammelt habe.

Ein heller Glanz lag auf dem Antlitz der Beiden, die in die Gesellschaft zurückkehrten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 1