Elftes Kapitel. - Hier im Städtchen war noch nachbarliche Gemeinschaft von Haus zu Haus. ...

Hier im Städtchen war noch nachbarliche Gemeinschaft von Haus zu Haus. Der Gast, den man beherbergt, gehört auch den Nachbarn an und wird schnell heimisch und zugehörig. Man rief Befreundete an, die am Fenster und auf dem Balcon standen, oder auf den Straßen wandelten; man schloß sich an, man plauderte und scherzte, und aus den Fenstern tönte hier und dort Clavierklang und Liederschall.

Die Frau Landrichter und ihre Tochter Lina gingen mit Erich und der Frau seines Gastfreundes. Man wunderte sich, daß er wieder abreise, denn es galt als entschieden, daß er im Hause Sonnenkamps bleibe. Erich hörte von Lina, daß in der That Roland durch das Städtchen geritten war; er war mehrmals vor dem Hause des Arztes vorbeigeritten und hatte sein Pferd steigen lassen, so daß es ängstlich anzuschauen war.


Lina hatte das Verlangen, Erich allein zu sprechen; es gelang ihr, da sich eben die Mutter und die Frau Doctor eine Weile bei dem begegnenden Schuldirector und dessen Frau aufhielten und sich erzählen ließen, wie es der jungen Wöchnerin, der Frau des Försters, ergehe, die im selben Hause mit dem Schuldirector wohnte. Lina ging mit Erich voraus und sagte rasch:

»Wissen Sie auch, daß Ihr Schüler Roland eine Schwester hat?«

»Gewiß; ich hörte davon.«

»Sie hörten davon? Sie haben sie ja gesehen. Es war ja das Mädchen mit dem Stern und den Flügeln, die uns auf der Klostertreppe in der Dämmerung begegnete.«

»So? Ja wol.«

»So? Ja wol?« spottete Lina nach. »Ach, die Männer sind schrecklich; ich habe geglaubt, daß Sie . . .

Sie hielt inne und Erich fragte:

»Daß ich . . . Was soll ich?«

»Ach, die Mutter hat Recht, ich bin zu unerfahren, zu täppisch, und sage Alles heraus. Ihnen hätte ich nun geglaubt . . .«

»Das können Sie auch, unwahr zu sein ist eine Sünde und gegen Sie eine doppelte.«

»Nun gut,« sagte Lina und nahm ihren Hut ab und schüttelte ihre Locken in den Nacken, »nun gut; wenn Sie mir ehrlich bekennen, daß Manna damals auf Sie einen Eindruck gemacht hat, dann sage ich Ihnen auch etwas; aber Sie müssen gerade und ehrlich sein.«

»Glauben Sie, ich würde Nein sagen? Da schneiden Sie mir ja den Weg ab, ehrlich zu sein.«

»Nun, so sage ich Ihnen . . . aber bitte, nicht wahr, Sie behalten es für sich? . . . Manna hat mich gefragt, wer Sie sind, und das ist sehr viel von ihr. Aber nein, das wollte ich nicht sagen . . . Machen Sie doch, daß Manna nicht Nonne wird.«

»Ich soll das hindern?«

»Haben Sie die Trippensandalen der Nonnen gesehen? Entsetzlich! Solche Sandalen soll Manna am Fuße haben, und sie hat den schönsten Fuß.«

»Aber warum soll sie nicht Nonne werden, wenn sie will?«

»Ach,« klagte Lina, »da habe ich mir gedacht . . . nicht wahr, ich bin ein recht einfältiges Ding? . . . In alten Zeiten trat ein Ritter als Knappe oder so was in ein Schloß . . . und da meinte ich . . .«

Sie konnte ihren Traum nicht vollenden, denn die Mutter trat herzu; sie war besorgt, da das Kind mit dem fremden Manne ging und gewiß eine von ihren entsetzlichen Naivetäten vorbrachte.

»Darf man wissen, was Sie so eifrig besprechen?« fragte die Frau Landrichter.

Lina athmete tief auf und nahm das Gummiband ihres Strohhuts in den Mund; die Mutter hatte ihr das oft verwehrt, aber jetzt that sie es doch, da Erich mit großer Unbefangenheit sagte:

»Ihr Fräulein Tochter erinnerte mich an unsere Begegnung auf der Klosterinsel. Ich muß noch heut um Entschuldigung bitten, und wollen Sie auch Ihrem Herrn Gemal meine Entschuldigung kund geben. Es gibt so viele unwirsche, sich dadurch vornehm dünkende Menschen, denen man auf der Reise begegnet, daß man oft selbst unfreundlich wird.«

Lina hatte schnell der Mutter den Platz neben Erich überlassen, sie ging auf der äußersten Flanke neben der Frau Doctor. Man wandelte lange mit einander und die Doctorin hörte schon aus weiter Ferne das Gerassel vom Wagen ihres Mannes, sie erkannte es, während die Anderen noch nichts vernehmen konnten.

Der Doctor kam. Er erzählte, daß im nächsten Dorfe ein Mann wohnte, dessen Anblick ihm vordem immer einen Stich durchs Herz gegeben, denn der Mann habe ihm durch einen falschen Eid eine Schuld von hundert Gulden abgeleugnet. Mit der Zeit sei ihm das sehr nützlich geworden, denn so oft er ihm begegnete, hätte er wieder an die Niederträchtigkeit der Menschen geglaubt, die man sonst gern vergesse. Jetzt habe der Mann noch vor seinem Tode ihm gebeichtet und das Geld zurückgegeben. Nun stehe er da, sei um hundert Gulden reicher, aber . . .«

»Was thun Sie mit den hundert Gulden?« unterbrach Lina.

»Was thätest Du damit?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was würden Sie thun, Herr Hauptmann?« wendete sich der Arzt zu Erich. »Was würden Sie thun, wenn Sie eine Million verschenken könnten?«

»Ich?« fragte Erich; er begriff nicht, woher plötzlich diese Frage.

»Ja, Sie.«

»Ich habe schon darüber gedacht, was ich in solcher Lage thun möchte. Ich glaube, ich würde zunächst ausgiebige Stipendien auf allen deutschen Universitäten gründen. Der Reiche sollte darauf sinnen, wie er dem Manne der Wissenschaft die Gedankenarbeit erleichtert.«

»Gut,« antwortete der Doctor, »Jeder denkt zunächst an seinen eigenen Kreis. Sehen Sie hier meine kleine Freundin Lina, wenn diese eine Million zu verschenken hätte, würde sie lauter blauen Musselin dafür kaufen und die ganze weibliche Welt in blauen Musselin kleiden. Nicht wahr, Musselina?«

Lina schwieg und die Frau Landrichter ermuthigte:

»Gib doch eine neckische Antwort, Lina, weißt Du denn keine?«

Lina schien keine zu wissen, aber es war ein anmuthiger, heiterer Ton zwischen dem Doctor und dem Kinde.

Als man sich verabschiedet hatte, sagte der Doctor zu Erich:

»Sie können hier eine neue Pädagogik sehen. Die Frau Landrichter will mit aller Gewalt aus ihrer Tochter ein pikantes, weltläufiges Plappermäulchen machen, aber das Kind hat glücklicherweise eine einfache, gediegene, unverwüstliche Natur, und wenn man allein mit ihr redet, ist sie voll sprudelnden Lebens.«

Man saß behaglich im Hause und der Doctor sagte:

»Sie sind der erste Soldat, mit dem ich durchaus harmlos verkehre. Sonst habe ich im Umgange mit Officieren stets . . . ich darf es nicht Furchtsamkeit nennen, aber eine gewisse Empfindung des Unbewaffneten neben dem Bewaffneten. Ihr habt immer was Gerüstetes, auf die Attaque Gefaßtes. Ich nehme mein Wort zurück. Ein Soldat ist vielleicht doch noch ein besserer Erzieher als ein Mediciner. Nun, gute Nacht!«

Als Erich allein war, dachte er sich in die Seele des Knaben hinein, der ihm nachgeritten war, um ihn noch einmal zu sehen. Er versetzte sich in seine Empfindungsweise und doch konnte er es nicht ganz; denn Roland war voll Zorn auf Erich, der ihn verlassen hatte, ihn, der sich so liebevoll und treu hingegeben. Der Knabe kam sich wie geraubt vor, und so ritt er dahin und dachte, Erich müsse ihm entgegenkommen oder am Fenster lauschen, bis er ihn sehe. Vor Zorn weinend war der Knabe wiederum heimgekehrt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 1