Das Land hinter Schleiern

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 4. 1927
Autor: Dr. Felix Langenegger. Im Weltkrieg politischer Araberagent für den Irak, Erscheinungsjahr: 1927

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Arabien, Orient, Araber, Moscheen,
Es gibt ein großes und geheimnisvolles Land im Orient, dessen Gesicht uns unbekannt ist gleich dem einer verschleierten östlichen Frau, aus deren dunklen Augen hervor den Fremdling doch immerzu eine unerhörte Lockung beunruhigt. Das ist Arabien. Bei der Nennung seines klangvollen Namens schimmern in der Phantasie des Europäers Bilder auf von sonnenüberflammten Wüstenflächen, Oasenparadiesen, lautplätschernden Seegestaden und gefahrumdrohten Wunderstädten, von blendenden Moscheenkuppeln, wildmalerisch gekleideten Reiterhorden auf edelstem Blut und von schmuckumklirrten, dunkeläugigen Frauen — all das weit fort, irgendwo hinter glühenden Sandnebeln, dort, wo man die Kaffeebohne pflückt und wo der Pfeffer wächst. . .

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In der Nachkriegszeit wurde der Blick Europas jäh dorthin gelenkt, als es von jenem Araberscheich vernahm, der da wagte, sich gegen das ländergierige England oder wenigstens gegen die dort von ihm eingesetzten „Könige“ zu wenden: Ibn Saûd. Es war einer seiner Vorfahren, ein Mohammed Ibn Saûd vom Stamme der Wuld Ali in Derijjeh, der um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lebte und die Bezeichnung „Nachkomme des Saûd“ als einen gepriesenen und berühmten Adelstitel schuf und sie vererbte. Es gibt ja nichts, was der freie Araber höher schätzt als einen Stammbaum. Er hat ungeheuren Adelsstolz, und jeder, der auf sich hält, führt seine Abstammung in die graue Vorzeit und möglichst auf eine berühmte Persönlichkeit zurück. Die nächtlichen Versammlungen an den Zeltfeuern klingen wider von den genealogischen Erörterungen und von der Wissenschaft des ungedruckten „Gotha“ der Steppe.

— Jenem ersten Ibn Saûd war es gelungen, sich aus einer beschränkten Häuptlingsmacht zum Herrn über einen großen Teil der arabischen Halbinsel emporzuschwingen und durch geschickte Verbindung von Religion und Politik einen Sturmwind zu entfachen, der das sanft-bewegte Meer des Islams in allen Tiefen aufrührte. Damals nämlich hatte sich gerade im Herzen Arabiens ein einfacher Hirt erhoben, Mohammed Abd ul Wahhab vom Stamme der Tamîm, der zum gewaltigen Reformator seines islamischen Glaubens und zum Gründer jener puritanischen Konfession wurde, die man Wahhabismus nennt. Mit heiligem Eifer bekämpfte er Auswüchse, Abgötterei, Schwulst und Prunk, die der einfachen Lehre des Propheten Mohammed nach und nach aufgepfropft worden waren.

Dem politischen Machthunger des kriegerischen Ibn Saûd kam Abd ul Wahhabs Lehre gerade recht. Er machte sie zu seiner Sache, und in jahrzehntelangen „Bekehrungsfeldzügen“ unterwarf er und nach seinem Tode seine Nachkommen ganz Innerarabien. Heere von tollkühnen Glaubensstreitern wuchsen ihm aus allen den kampfgewohnten Stämmen des Landes zu. Überreiche Beute lockte. Galt es doch, nach der Lehre Abd ul Wahhabs die überladenen heiligen Stätten des Islams ihres Prunkes zu entkleiden, das heißt auszuplündern, und ihnen damit zu strengster Einfachheit zurückzuverhelfen. So wurden schon damals Mekka und Medina von einem Ibn Saûd erobert und schon damals einmal die arabischen Stämme durch Blut und Fanatismus zusammengekettet, bis dann den Türken, diesen eigentlichen „Herren“ des Landes, die Geduld ausging und sie Mehemed Ali, den berühmten Feldherrn und späteren Vizekönig von Ägypten, gegen Ibn Saûd sandten.

All die schlimmen Erfahrungen, die schon Assyrer und Römer bei ihren Feldzügen im „unwirtlichen“ Arabien hatten machen müssen, wiederholten sich für Mehemmed in diesem mit erbitterter Grausamkeit geführten Niederwerfungskrieg. In der freien Wüste hatte sich seit Jahrtausenden nichts geändert. Durst, Hunger, furchtbares Klima, Ode, Seuchen, Unzuverlässigkeit der angeblich befreundeten Bevölkerungsteile waren schlimmere Gegner als die Wahhabiten selbst. Dennoch endete der Krieg 1817 mit deren völliger Niederwerfung, Zerstörung Derijjehs und Hinrichtung des Oberhaupts Abdallah Ibn Saûd.

Vom großen Napoleonsreich blieb nichts als Zerfall, Kampf der Stämme, Rivalität der Stammeshäupter. Aber unter diesen allerorten auflodernden und wieder zusammensinkenden Einzelfeuern glomm doch überall gleich einer glühenden Schlacke der gemeinsame Hass gegen die fremden Unterdrücker weiter. „Das Inland den freien Arabern, die Küsten den Soldaten und Beamten!“ Dieses in allen Herzen brennende Schlagwort gilt auch heute noch, wo die Türken von der Engländerherrschaft abgelöst wurde. In der Tat sind nur die Küsten besetzt, und die englische Macht reicht nicht weiter ins Hinterland hinein, als ihre Geschütze und Maschinengewehre tragen. Im verbrannten Ödland draußen, in den toderstarrten Gebirgen und in den wunderbaren Oasenlandschaften, um die der Tod mit seinen wasserlosen Einsamkeiten einen für fremden Schritt verderblichen Bezirk gelegt hat, findet alle fremde Macht ein Ende. Die Engländer wissen das recht gut und hüten sich daher, in die inneren Kämpfe einzugreifen. Ohne gewaltige Vorbereitungen und große Heeresmacht wäre dem neuen Beherrscher der Wüste keineswegs ein Waterloo zu bereiten. — Aber wozu überhaupt? Man weiß ebenso, dass in diesem Mittelarabien, das doppelt so groß wie Deutschland ist, eine große Menschenarmut herrscht, und es ist bekannt, dass das Land niemals auch nur hunderttausend Streiter auf die Beine bringen könnte. Zum Heraustragen seines Kampfes über die Grenzen ist es gar nicht in der Lage.

Das geheimnisvolle Innerarabien, über das zurzeit ein Buch des Engländers Philby erschienen ist, der das Glück hatte, ohne persönliche Gefahr in der gesicherten Stellung eines politischen Araberagenten im Krieg dahingesandt zu werden, ist freilich keineswegs so unbekannt und unerforscht, wie jener meint. Immerhin ist es doch höchst seltsam, dass bis heute, wo die entlegensten Winkel der Erde von Pol zu Pol enthüllt, wo Afrika und Mittelasien entschleiert und die Geheimnisse der Arktis vom Dunkel befreit worden sind, dies von allen Straßen der Welt umgrenzte Arabien, dies geschichtlich und kulturgeschichtlich so wichtige Land, die Wiege des Islams, nicht weit mehr bekannt wurde. Genau sind nur seine Küsten bekannt. — Den Grund hierfür bildet die elementare Unzugänglichkeit seines Innern für den Forscher, der mit den nötigen wissenschaftlichen Apparaten versehen ist. Er gilt für alle als Spion oder, wenn er mit seinen Instrumenten umgeht, als Zauberer. Er schwebt beständig in Lebensgefahr. Er trifft überall auf die unübersteiglichen Hindernisse des religiösen Fanatismus. Gibt es doch ganze Provinzen, die für „heilig“ gelten und für Andersgläubige bei Todesstrafe unbetretbar sind. So die Provinzen von Mekka und Medina, der fanatische Dschôf und das abgesperrte Assir. Trotzdem gab es kühne Forscher genug, die allein, auf eigene Gefahr und in arabischer Verkleidung in die Nebel des lockenden und feindseligen Landes eindrangen. Nicht alle kehrten zurück. Unter diesen Forschern aus allen Ländern Europas gab es merkwürdig viele Deutsche, von denen nur Burchhardt, Euting, v. Maltzahn, v. Wrede, v. Nolde, Huber genannt seien. Ihnen ist es als ernsten Wissenschaftlern gelungen, schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einige Zipfel des Schleiers zu lüften.

Abd ul Asis Ibn Saûd, der Beherrscher der arabischen Wüste. (Preßphoto)
Die Stadtbefestigung von Hofuf im Innern Arabiens. Sie ist ganz aus Lehm gebaut.
Eine Märchenstadt in der Wüste: Sana, eine der größeren Städte im südlichen Arabien (Phot. Burchardt)

So wissen wir von den endlosen Steinwüsten und Steppen, die über den Körper des Landes gleichwie Totentücher gebreitet sind und die von dem seit der Kindheit an Entbehrungen gewöhnten Eingeborenen nun auf dem Delûl, dem edlen Rennkamel, zu durchqueren sind. Wir vernahmen von einsamen, starren Gebirgen, in denen hebräische, sabäische, nabatäische, früharabische Felsinschriften und -gemälde von längst erloschenem Menschentum erzählen, wo leere Höhlenwohnungen und Stauwerke über einer verwehten Kultur schweigen und Trümmer seltsamer Bergheiligtümer einer für alle Ewigkeiten in Vergessenheit geratenen Anbetungsart nachträumen. Wir erfuhren von ziellosen Steppenländereien, deren harter Dornkräuterbewuchs es den Nomaden doch ermöglicht, ihre ungeheuerlichen Kamelherden aufzuziehen, und von den Meeren aus rieselndem Sand, deren erstarrter Wellenschlag sich nur im Wirbeln der Wüstenstürme auflöst und über denen jahraus, jahrein die einlullende Musik des Aneinander Klingens der Quarzkörner liegt, die vom Mantelsaume des nimmermüden Monsuns beim Wandern mitgerissen werden. Wohl gibt es in jenen Einsamkeiten auch Seebecken, die von fern kühl und anmutsvoll locken. Aber sie sind unwirtlich, denn ihr Wasser ist salzhaltig. Nur die Wadis, die zur Regenzeit wasserführenden Täler, sind es, die den Menschen die Ansiedlung ermöglichen. Stauwerke, Brunnen- und Zisternenanlagen, die im Grunde dieser Täler allerorten seit alters errichtet sind, sorgen dafür, dass eine reiche Fruchtbarkeit dauernd sprießen kann. Nicht brennende Hitze und jähe Kälte, die sich hier oft über Tag und Nacht hin die Hand reichen, sondern Trockenheit und verhältnismäßige Feuchtigkeit sind in diesem Lande von Einfluss auf Tier- und Pflanzenleben. In den Landschaften, die nicht um wasserreiche Wadis liegen, hängt alles von der Reichhaltigkeit der Winterregen ab, und der Erfolg der Bodenkultur ist dem Zufall ausgeliefert. Schon hieraus geht hervor, wie arm dieses ungeheuer gestreckte Land an Menschen sein muss, die noch dazu bedürfnislos und an Entbehrungen gewöhnt sind.

In jenen häufig von wilden Gebirgen umgebenen Tälern der Entlegenheit finden sich die von allen Wegen der Welt vergessenen Ortschaften mit den Palästen jener Fürsten, Namen so selten unser Ohr berühren. Ihre Häuser, Burgen, Moscheen und die oft gewaltigen, bezinnten Umwallungen sind vielfach aus der Lehmerde des Bodens hergestellt. Es gibt ja im Lande keine Geschütze, deren erstem Schutz sie erliegen müssten. Aber es liegen dort auch sehr fremdartige Städte mit einer bizarren Gipsarchitektur ihrer vielgeschossigen Häuser von Stein, die an engen Gassen und schattigen Plätzen stehen und die niemand in jenen Wildnissen vermutet. Um alle diese Ansiedlungen weiten sich Oasengärten, die von Dattelpalmenhainen überschattet sind und in denen Baumwolle, Tabak, Indigo, Kaffee, Getreide und alle Gemüse des Ostens gebaut werden.

Hier hausen die Herren des Landes, die an Hautfarbe dunkelbraunen, schwarzbärtigen Araber, deren Vornehme sich in golddurchwirkte weite Mäntel aus feinstem Kamelhaar und in seidene oder baumwollene weite Leibröcke hüllen. Ihr Haupt bedeckt das prächtige Kopftuch, das von einem Tau aus von Goldfäden umwundenen Wollsträhnen festgehalten wird. Hier gehen die dunklen, schwarzäugigen Frauen zum Brunnen und verrichten die Arbeit des Wasserholens, eine den Frauen des Orients seit Urzeiten überwiesene Aufgabe. — Draußen aber in den Steppen verstecken sich an den spärlichen Brunnenstellen die Krieger des Landes, die waffengeübten, raschbeweglichen, die beduinischen Nomaden. Sie sind es vor allem, die Ibn Saûd wieder unter seine Fahnen zu vereinen verstand und die seit dem letzten großen Krieg vielfach englische oder türkisch-deutsche Beutewaffen führen. Sie können unter dem Befehl eines Mannes, der den Zauber eines Mahdi auf sie auszuüben vermöchte, gefährliche Massenstoßkraft erhalten, solange sie innerhalb der Grenzen ihrer Heimat operieren, deren Unwirtlichkeit, Öde und Ziellosigkeit sie besser schützt als Drahtverhaue, Festungsgräben und Panzerkuppeln. Wird ihre Angriffslust aber von Dauer sein? Werden nicht die Ureigenschaften der Araber, die Eifersucht, Geldgier, Treulosigkeit und Unbeständigkeit, wird nicht die Blutrache, der sie alle unterworfen sind, ihre Einheit wieder entzweien? Einem politisch klugen Feind wird es durch die Kenntnis der Araberseele immer gelingen, ihre Massen zu teilen und dadurch über sie zu herrschen.

Aus der Bewegung des Ibn Saûd sprüht kaum das glühende Ideal eines Panarabismus, einer Vereinigung aller arabischen Stämme, an der die nach dem heiligen Arabien sich ausstreckende Hand des Fremden verdorren müsste. Ibn Saûd, der neue Komet über der fernen Wüste, wird wieder vergehen müssen, wie schon einst sein Vorläufer vor hundert Jahren. Und er wird nichts hinterlassen als eine sehnsüchtige Erinnerung an eine jähe, leuchtende Bahn über dem Land hinter den Schleiern. —

Vornehmer Araberhäuptling mit seinen Söhnen. Der Säbel ist das Zeichen der Herrscherwürde. (Phot. Burchhardt)

Abd ul Asis Ibn Saûd, der Beherrscher der arabischen Wüste. (Preßphoto)

Abd ul Asis Ibn Saûd, der Beherrscher der arabischen Wüste. (Preßphoto)

Die Stadtbefestigung von Hofuf im Innern Arabiens. Sie ist ganz aus Lehm gebaut.

Die Stadtbefestigung von Hofuf im Innern Arabiens. Sie ist ganz aus Lehm gebaut.

Die Wüstenstadt Taj im Innern Arabiens (Phot. Burchardt)

Die Wüstenstadt Taj im Innern Arabiens (Phot. Burchardt)

Eine Märchenstadt in der Wüste, Sana, eine der größeren Städte im südlichen Arabien (Phot. Burchardt)

Eine Märchenstadt in der Wüste, Sana, eine der größeren Städte im südlichen Arabien (Phot. Burchardt)

Vornehmer Araberhäuptling mit seinen Söhnen. Der Säbel ist das Zeichen der Herrscherwürde. (Phot. Burchhardt)

Vornehmer Araberhäuptling mit seinen Söhnen. Der Säbel ist das Zeichen der Herrscherwürde. (Phot. Burchhardt)