Das Doseh in Kairo
Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1873
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Orient, Ägypten, Kairo, Drewisch-Sekte, Religion, Glaube, Pilger, Schech, Rituale, Opferwut,
Unter dem vielen haarsträubenden Aberglauben und Unwesen, welches der so tief heruntergekommene Islam der Gegenwart in seinem Schoße birgt, ist einer der widerlichsten Züge das Treiben der verschiedenen Arten von Derwischen, dieser gewohnheitsmäßigen Tagediebe, die sich immer mit einem mehr oder weniger geheimnisvollen religiösen Schwindel zu umgeben suchen, um das arme unwissende Volk zu betören. Man kennt das Unwesen der heulenden und tanzenden Derwische, deren ekelhaften Aufführungen selten mehr Europäer anwohnen. Aber es ist vielleicht nicht so bekannt, dass die religiöse Feier der alljährlichen Absendung eines Teppichs aus Kairo nach Mekka, um denselben an den heiligen Stätten weihen zu lassen, vorzugsweise in den Händen einer Derwisch-Sekte liegt, welche den Mittelpunkt des alljährlichen Zuges der Hadschis oder Pilger nach der heiligen Stätte aus Ägypten und Moghreb, d. h. dem westlicher liegenden Teile von Nordafrika, bildet.
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Der Schech dieser Derwisch-Sekte macht stets die Pilgerfahrt mit und übernimmt es gegen Geld und Geschenke, für andere Gläubige an den heiligen Stätten zu beten. Seine Sekte schickt immer eine Menge Jünger mit dem großen Pilgerzuge, und die Rückkehr desselben, das sogenannte Doseh, ist eines der volkstümlichsten Feste in Kairo. Diese Pilgerderwische stehen nämlich in großem Ansehen beim Volke und in dem Rufe, giftige Schlangen bezaubern, Geisterbannen, Wunden heilen und alle möglichen Wunder verrichten zu können. Sobald daher die Kunde sich verbreitet, dass der große Schech der Pilgerderwische, El-Selim Bekr, mit der heimkehrenden Pilgerkarawane sich Kairo nähere und den geweihten Teppich mitbringe, so strömt das Volk in ungeheuren Mengen auf die Straße nach Bulak hinaus, denn von dort her kommt der Zug der Pilger. An ihrer Spitze reitet auf einem edlen milchweißen Rosse, das von zwei Sahis oder Dienern am Zügel geführt wird, der Schech El-Selim Bekr in seinem dunklen Burnus, auf dem Kopfe einen gewaltigen grünen Turban, mit verzücktem Gesicht, ganz geistesabwesend und unbeweglich, die verdrehten Augen gen Himmel aufgeschlagen. Die ganze Straße von Bulak nach Kairo ist dicht gedrängt von Volk, vorherrschend jüngeren Burschen und Männern, die nach Branntwein und Haschisch (einem Berauschungsmittel aus Hanf) riechen, größtenteils betrunken sind, sich ganz toll gebärden und mit Pauken, Trommeln, Pfeifen etc. einen betäubenden Lärm machen. Sobald die Derwische dieser Sekte des Schechs ansichtig werden, werfen sie sich in der Mitte der Straße dicht an einander gedrängt flach auf den Boden nieder und lassen den Schech über sich hinreiten. Kaum sieht dies das Volk, so werfen sich — wie unser Bild S. 85 zeigt — Jung und Alt gleichsam flach auf den Bauch und in den Staub und priesen sich glücklich, wenn der fromme Mann über sie hingeritten ist. Sobald er vorüber ist, springen sie dann auf und folgen ihm mit betäubendem verrücktem Geschrei oder werden von ihren Freunden und Verwandten umringt und beglückwünscht, als ob die soeben erstandene Demütigung den höchsten Segen bringe. Der schwere Hufschlag des Pferdes verletzt aber natürlich auch manchen jener Fanatiker, und wenn ein solcher sich mit gebrochenen Rippen oder sonstigen Verletzungen aufrichtet, so eilen Dutzende herbei und bewerben sich um die Ehre, ihn gastlich in ihr Haus aufzunehmen. Stirbt er in Folge einer hierbei erhaltenen Wunde, so ist ihm das herrlichste Los gefallen, denn er kommt direkt in den Himmel und wird von Muhamed in seinen eigenen Divan aufgenommen. Daher diese Opferwut der unwissenden Massen.