Kapitel (Worin die Familie Désirandelle mit der Familie Elissane in Berührung kommt)
„Heute warten wir mit dem Essen bis acht Uhr,“ sagte Frau Elissane; „Herr und Frau Désirandelle mit ihrem Sohne und wahrscheinlich jener Herr Dardentor, das macht vier Gedecke.“
„Ganz recht, Madame,“ antwortete das Zimmermädchen.
„Unsre Freunde werden sehr der Erholung bedürfen, Manuela, und ich fürchte, die arme Frau Désirandelle wird von der anstrengenden Ueberfahrt arg zu leiden gehabt haben. Sieh' zu, daß ihr Zimmer vollständig in Ordnung ist, denn vielleicht zieht sie es vor, sich gleich nach der Ankunft niederzulegen.“
„Natürlich, Madame, wird alles besorgt.“
„Wo ist meine Tochter?“
„In der Speisekammer, Madame, wo sie den Nachtisch zurecht macht.“
Manuela, die von Anfang an in Stellung bei Frau Elissane gewesen war, gehörte zu den Spanierinnen, aus denen man das Dienstpersonal der orancsischen Familien meist zu wählen pflegt.
Frau Elissane bewohnte ein hübsches Haus in der Alten Schloßstraße, wo sich die Gebäude einen halb spanischen, halb maurischen Charakter bewahrt haben. Ein kleiner Garten enthielt zwei Blumenkörbe mit Volubilis und zeigte jetzt, zu Anfang der warmen Jahreszeit, noch saftgrüne Rasenflächen neben einigen Bäumen, darunter mehrere Exemplare von „Bella ombra“ ein Name von guter Vorbedeutung, von dem die Promenade de l'Etang sehr schöne Exemplare besitzt.
Das aus Erdgeschoß und einem Stockwerk bestehende Gebäude bot genug Raum, um der Familie Désirandelle bequeme Unterkunft zu gewähren. In Oran sollte es dieser also weder an Zimmern noch an zarter Rücksichtnahme fehlen.
Die Hauptstadt der Provinz hat sich schon zu einer recht hübschen Stadt entwickelt. Sie liegt sehr schön zwischen den Abhängen einer Thalsenkung, deren Grund das schnelle Wasser des Oued-Rehhi durchströmt, welchen die Fahrstraße des Boulevard Oudinot theilweise überdeckt. Durch die Festungswerke des neuen Schlosses getheilt, macht Oran, wie alle diese Städte, auf der einen Seite einen alterthümlichen, auf der andern einen modernen Eindruck. Der alte Theil, die spanische Stadthälfte, hat mit ihrer Kasbah, ihren vielstöckigen Häusern und dem im Osten derselben gelegenen Hafen auch noch die alten Stadtmauern bewahrt. Die neue, noch weiter östlich gebaute Hälfte mit ihren jüdischen und maurischen Gebäuden, wird vom Schlosse an bis zum Fort Saint-André von einer mit Zinnen bekrönten Mauer vertheidigt.
Dieser Theil, der Gouharan der Araber, den Mauren aus Andalusien im zehnten Jahrhundert erbauten, wird von einem hohen Berge beherrscht, dessen steiler Abhang das Fort la Moune trägt. Fünfmal so groß, wie zur Zeit ihrer Gründung, nimmt diese Hälfte jetzt zweiundsiebzig Hektar ein, und mehrere bis außerhalb ihrer Mauer reichende Straßen ziehen sich gegen zwei Kilometer lang bis zum Meere hin. Bei Fortsetzung seines Weges jenseit der Mauern der Forts, würde der Tourist dann nach den neuesten Anbauten, nach den Vorstädten Gambetta und Noiseux-Eckmühl gelangen.
Man wird schwerlich eine algerische Stadt finden können, die eine interessantere Mischung von Volkstypen aufwiese. Unter ihren siebenundvierzigtausend Einwohnern begegnet man nur siebzehntausend Franzosen neben achtzehntausend Fremden. vorzüglich Spaniern und Italienern, Engländern und Anglo-Maltesern. Füge man hierzu gegen viertausend Araber, die im Süden der Stadt, im Vororte Djalis, der auch das Negerdorf genannt wird, zusammen wohnen und woher man die Straßenfeger und Lastträger des Hafens nimmt; theile man diese Mischung von Rassen in siebenundzwanzigtausend Anhänger der katholischen Religion, siebenzehntausend Adepten des israelitischen und etwa tausend Gläubige des muselmanischen Bekenntnisses, so hat man von diesem Gesichtspunkte aus ein ziemlich getreues Bild von der hybridischen Bevölkerung der oranischen Hauptstadt.
Das war die Stadt, wohin sich Herr Elissane einst zurückzog, nachdem er in Perpignan ein Handelsgeschäft fünfzehn Jahre lang und mit solchem Erfolge betrieben hatte, daß er sich zuletzt einer Rente von zwölftausend Francs erfreute, die sich unter der haushälterischen Verwaltung seiner Wittwe auch nicht vermindert hatte.
Die jetzt vierundvierzigjährige Frau Elissane war gewiß nie so hübsch, so graziös und anziehend wie ihre Tochter gewesen. Als eine Frau, die stets wußte, was sie wollte und ihre Worte wie früher ihren Zucker abwog, zeigte sie jenen wohlbekannten Typus des weiblichen Rechnungsführers, „bezifferte“ sie sozusagen ihre Gefühle und befleißigte sich einer doppelten Buchführung bezüglich der ganzen Lebenshaltung mit der Vorsorge, daß ihr Contocorrent immer mit einem Plus auf der Creditseite abschloß. Man kennt ja diese Erscheinungen mit scharfgeschnittnen Gesichtszügen, vortretenden Stirnhöckern, durchdringendem Blicke und ernstem Munde „mit alledem, was bei dem sogenanntenschwachen Geschlecht ebenso bestimmt bewahrte Gewohnheiten, wie Hartnäckigkeit und Zähigkeit verräth. Frau Elissane hatte ihr Hauswesen nach wohlüberlegten Vorschriften organisiert und nirgends nutzlose Ausgaben gestattet. Sie machte noch Ersparnisse, die sie sicher und fruchttragend anzulegen verstand. Handelte es sich jedoch um ihre Tochter, der ihre ganze Liebe gewidmet war, so sah sie das Geld nicht so genau an. Ihre Wünsche galten nur dem Glück dieses einzigen Kindes, und sie bezweifelte gar nicht, daß dessen Glück durch die geplante Verbindung mit der Familie Désirandelle ausreichend gesichert sein werde.
Die zwölftausend Francs Rente, die Agathokles dereinst besitzen würde, und dazu das Vermögen, das Louise von ihrer Mutter zu erhoffen hatte, das ergab ja eine metallische Unterlage, die gewiß viele Leute für solid genug hielten, um eine sorgenlose Zukunft darauf zu begründen.
Louise selbst konnte sich des Agathokles kaum noch erinnern. Ihre Mutter hatte sie aber in dem Gedanken erzogen, daß sie eines Tags Frau Désirandelle jun. werden würde; das erschien dem jungen Mädchen auch ganz natürlich, vorausgesetzt, daß der ihr bestimmte Freier ihr auch gefiele, und warum sollte er nicht alle Eigenschaften haben, um zu gefallen?
Nachdem Frau Elissane ihre letzten Befehle ertheilt hatte, begab sie sich in den Salon, wo ihre Tochter ebenfalls erschien.
„Dein Dessert ist fertig, mein Kind?“ fragte sie.
„Ja, liebe Mutter.“
„Es ist unangenehm, daß der Dampfer erst so spät, fast mit anbrechender Nacht ankommt!... Doch um sechs Uhr mußt Du mit der Toilette fertig sein, Louise; zieh' das kleincarrierte Kleid an, wir gehen dann nach dem Hafen hinunter, wo der „Agathokles“ viel leicht schon als in Sicht gemeldet ist.“
Frau Elissane, die den Namen verwechselte, betonte hier das e der Endsilbe, die doch in jenem Namen fast tonlos ist.
„Du meinst wohl den „Argeles“, antwortete Louise lachend. „Und dann heißt mein Zukünftiger auch nicht Agathokles, sondern Agáthokles.“
„Schon gut,“ erwiderte Frau Elissane, „Argeles oder Agathokles, das hat ja nicht viel zu bedeuten! Du kannst Dich aber darauf verlassen, daß er keinen Fehler begehen wird, wenn er den Namen Louise ausspricht.“
„Bist Du dessen so sicher?“ versetzte das junge Mädchen neckisch. „Der Herr Agathokles kennt mich ja kaum und ich gestehe, daß ich ihn auch nicht genauer kenne.“
„O, wir werden Euch schon Zeit geben, vor einer Entscheidung wieder nähere Bekanntschaft zu machen.“
„Das ist wohl nicht mehr als billig!“
„Uebrigens bin ich überzeugt, daß Du ihm gefallen wirst, mein Kind, und ihm muß doch erst recht daranliegen, daß er Dir zu gefallen sacht. Frau Désirandelle ist ja seines Lobes voll! Dann vereinbaren wir den Ehecontract....“
„Und das Ergebniß der Aufstellung, Mutter...“
„Wird natürlich zu Deinen Gunsten sein... Vergessen wir indeß nicht, daß ihr Freund, Herr Clovis Dardentor, die Désirandelle's begleitet... Du weißt doch, jener reiche Perpignaneser, auf den sie so stolz sind und der „ihrem Reden nach „der beste Mensch von der Welt sein soll. Da Herr und Frau Désirandelle nicht an Seefahrten gewöhnt sind, hat er sie nach Oran herüberlootsen wollen. Das ist ja recht hübsch von dem Manne, und wir werden ihn freundlichst empfangen, Louise...“
„Ganz nach Verdienst, und selbst wenn's ihm einfiele, um meine Hand anzuhalten... doch nein, ich vergesse, daß ich Frau Agathokles werden soll und sein werde Agathokles... ein hübscher Name, wenn auch von etwas gar zu altgriechischem Anklang.“
„Sei doch einmal ernsthaft, Louise!“
Das junge Mädchen war auch ernsthaft, trotz ihres lustigen und bestechenden Naturells. Sie war das aber nicht, weil es die Eigenschaft jeder gewöhnlichen Romanheldin ist, sondern infolge ihrer Jugend, ihrer freimüthigen Natur, die sich in den lebhaften, beweglichen Zügen, in den „sammtnen“ glänzenden Augen mit dunkler Pupille in azurblauer Iris, in dem reichen, dunkelblonden Haare und in ihrer graziösen Haltung aussprach.
Diese flüchtigen Pinselstriche genügen zu dem Bilde Louise Elissane's, und der Leser erkennt wohl Schon daraus, daß sie sich nicht wenig von dem Tropfe unterschied, den man ihr mit den andern Frachtstücken des „Argeles“ von Cette her zusendete.
Als die Stunde gekommen war und die Herrin des Hauses einen letzten Blick in die Zimmer der Familie Désirandelle geworfen hatte, rief Frau Elissane ihre Tochter und beide gingen nach dem Hafen hinunter. Sie wollten zuerst in dem amphitheatralischen Garten, der die ganze Rhede beherrscht, Halt machen. Von hier aus reicht der Blick bis zum hohen Meere hinaus. Der Himmel war herrlich, der Horizont vollkommen klar. Schon senkte sich die Sonne nach der Landspitze Mers-el-Kebir, dem Portus divinus der Alten, neben der Panzerschiffe und Kreuzer gegen die häufigen Weststürme vortrefflichen Schutz finden.
Im Norden leuchteten einige weiße Segel. Lange Rauchwolken bezeichneten die Dampfer der zahlreichen Schiffslinien des Mittelmeeres, die an der afrikanischen Küste münden. Zwei oder drei dieser Packetboote steuerten offenbar auf Oran zu, und eines davon konnte kaum noch drei Seemeilen vom Hafen sein. War das der „Argeles“, der von der Mutter, wenn auch nicht von der Tochter, so sehnsüchtig erwartet wurde? Louise kannte den Burschen ja gar nicht, den jede Schraubendrehung ihr näher brachte, und vielleicht wär' es besser gewesen, wenn der „Argeles“ wieder nach rückwärts lief....
„Es ist schon um halb sieben,“ bemerkte Frau Elissane. „Wir wollen vollends hinunter gehen.“
„Ich folge Dir nach, Mutter,“ antwortete Louise.
Durch die breite, am Kai ausmündende Straße erreichten Mutter und Tochter das Hafenbecken, worin die Dampfer gewöhnlich anlegen.
Frau Elissane fragte einen der Hafenbeamten, ob der „Argeles“ schon gemeldet sei.
„Ja, Madame,“ antwortete der Beamte, „er muß in einer halben Stunde einlaufen.“
Frau Elissane und ihre Tochter spazierten nun um den Hafen, an dessen Nordseite einige Anhöhen den Ausblick nach dem Meere verhindern.
Zwanzig Minuten später ertönte ein langgedehntes Pfeifen. Der Dampfer steuerte eben um die Spitze des einen Kilometer langen Hafendammes, der vom Fuße des Fort La Moune ausgeht, und nach einigen Wendungen legte das Schiff am Kai an.
Gleich nach Herstellung der Verbindung mit dem Lande begaben sich Frau Elissane und Louise an Bord. Die erstere öffnete die Arme, um Frau Désirandelle, die sich seit dem Einlaufen in den Hafen endlich wieder wohler fühlte, an sich zu drücken und ebenso Herrn Désirandelle und Agathokles zu begrüßen, während Louise mehr Zurückhaltung bewahrte, was alle jungen Mädchen begreifen werden.
„Nun, und ich, meine vortreffliche, hochgeehrte Dame?... Haben wir uns denn in Perpignan nicht gekannt? Ich erinnere mich der Frau Elissane und des Fräulein Louise, die freilich inzwischen etwas gewachsen ist, sehr gut!... Sapperment, fällt denn kein Küßchen, oder lieber zwei, für den alten Freund Dardentor ab?“
Wenn Patrice etwa gehofft hatte, daß sein Herr bei diesem Wiedersehen sich als Mann von Welt zeigen würde, so mußte er durch solche Vertraulichkeiten sich freilich grausam enttäuscht sehen. Er zog sich also in gerechtem Unwillen in dem Augenblicke zurück, wo die Lippen Clovis Dardentor's auf die dürren Wangen der Frau Elissane, wie der Klöpfel auf das Trommelfell, klatschten.
Selbstverständlich hatte sich Louise der stürmischen Begrüßung des Désirandelle'schen Ehepaares nicht ganz entziehen können. So ungeniert aber Herr Dardentor auch sonst auftrat, ging er doch nicht so weit, auch das junge Mädchen mit einem väterlichen Kusse zu beglücken, obwohl dieses einen solchen vielleicht mit guter Miene hingenommen hätte.
Der junge Agathokles, der auf Louise zutrat, hatte sie nur mit einem mechanischen Gruße beehrt, an dem unter Mithilfe der Halsmuskeln sein Kopf allein theilnahm, dann wich er, ohne ein Wort zu sprechen, wieder zurück.
Das junge Mädchen konnte sich nicht enthalten, den Mund etwas verächtlich zu verziehen, was zwar Clovis Dardentor nicht bemerkte, was aber weder Marcel Lornans noch Jean Taconnat entging.
„Alle Wetter,“ sagte der Erstere leise, „ich hätte nicht erwartet, ein so hübsches Kind zu sehen!“
„Wahrhaftig, ein hübsches Mädchen,“ stimmte der Zweite ein.
„Und sie soll diesen Hohlkopf heiraten?“ setzte Marcel Lornans hinzu.
„Sie! » rief Jean Taconnat. « Gott verzeih' es mir, wenn ich, um das zu verhüten, meinem Schwur, niemals zu heiraten, selbst untreu würde!“
Ja, Jean Taconnat hatte sich das geschworen... er redete sich's wenigstens ein. Das war so ein leicht gethaner Jugendschwur ebensoviel werth, wie manche andre, die auch nicht gehalten werden. Wir bemerken hier übrigens, daß Marcel Lornans sich keinen solchen Eid geleistet hatte. Darauf kam indeß eigentlich nichts an. Beide waren ja nach Oran gereist, um bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten und nicht, um Fräulein Louise Elissane zu heiraten.
Wir fügen hier noch ein, um nicht wieder darauf zurückzukommen, daß die Fahrt des „Argeles“ zwischen Palma und Oran unter den denkbar günstigsten Umständen von statten gegangen war. Ein Meer aus Oel, wie man sagt, so daß man glauben konnte, alles Oel der Provence wäre darauf ausgegossen worden, eine leichte Nordostbrise, die den Dampfer von der Backbordseite her traf, so daß man ihn mit den dreieckigen, den Klüversegeln und der Brigantine vor dem Schwanken bewahren konnte. Keine Welle war während der dreiundzwanzigstündigen Seefahrt auf das Deck geschlagen, und seit der Abfahrt von Palma hatten fast alle Passagiere ihre Plätze an der gemeinsamen Tafel eingenommen, so daß sich die Schiffsküche heimlich über die ungewöhnliche Zahl der Tischgäste beklagen mochte.
Herrn Oriental hatten die auf neapolitanische Art zubereiteten Forellen köstlich geschmeckt, und an den Encimadas hatte er sich mit dem Behagen des professionellen Gourmands aufs beste gelabt.
Alle Welt war in Oran also gesund eingetroffen, selbst Frau Désirandelle, die bis zu den Balearen so arg zu leiden gehabt hatte.
Obgleich nun Herr Désirandelle im zweiten Theile der Fahrt sein physisches und moralisches Gleichgewicht wieder erlangte, hatte er mit den beiden Parisern doch keine nähere Bekanntschaft gemacht. Die beiden jungen Leute ließen ihn gleichgiltig. Trotz ihrer geistigen Veranlagung, die ihm sozusagen von schlechtem Beigeschmack zu sein schien, standen sie seinem Urtheile nach entschieden unter seinem Agathokles. Dardentor mochte getrost den Verkehr mit ihnen angenehm und ihre Unterhaltung anregend finden... mit der Landung des „Argeles“ würde das ja so wie so zu Ende sein.
Unter diesen Umständen kam es Herrn Désirandelle natürlich nicht in den Sinn, der Frau Elissane und deren Tochter die beiden Vettern vorzustellen. Mit der Ungeniertheit des Südländers und bei der Gewohnheit, seiner ersten Eingebung zu folgen, zögerte Clovis Dardentor dagegen nicht, das selbst zu thun.
„Herr Marcel Lornans und Herr Jean Taconnat, beide aus Paris,“ sagte er, „zwei junge Freunde, für die ich eine lebhafte, von ihnen erwiderte Theilnahme empfinde, während ich auch die Hoffnung hege, daß unsre Freundschaft diese kurze Ueberfahrt überdauern werde.“
Wie ganz anders zeigte sich dieser Perpignaneser doch zuweilen. Hier gab er seinen Gefühlen in wohlgesetzter Rede Ausdruck. Leider war Patrice nicht anwesend, um ihn zu hören.
Die beiden jungen Leute verneigten sich vor Frau Elissane, die mit einem gemessnen Gruße dankte.
„Madame,“ sagte Marcel Lornans, „wir sind Herrn Dardentor für diese Aufmerksamkeit sehr verbunden. Wir hatten ja Gelegenheit, ihn nach Verdienst schätzen zu lernen. Auch wir glauben an die Fortdauer dieser...“
„Väterlichen Freundschaft seinerseits und kindlichen Ergebenheit unsrerseits!“ schloß Jean Taconnat die Worte seines Vetters.
Etwas verstimmt durch diese Höflichkeiten, blickte Frau Désirandelle nach ihrem Sohne, der den Mund noch nicht aufgethan hatte. Frau Elissane, die zu den jungen Parisern vielleicht hätte sagen können, daß sie sie bei deren Verweilen in Oran gern in ihrem Hause empfangen würde, that das doch nicht, eine Rücksichtnahme, wofür ihr die Mutter des Agathokles heimlich dankte. Die beiden Damen mochten sich mit mütterlichem Instinct wohl sagen, daß es rathsamer sei, gegenüber diesen Fremden einige Zurückhaltung zu bewahren.
Frau Elissane bemerkte dann gegen Herrn Dardentor, daß bei ihr für ihn mit gedeckt sei und sie sich glücklich schätzen werde, ihn an diesem ersten Tage mit der Familie Désirandelle als Tischgast zu sehen.
„Gönnen Sie mir nur die Zeit, nach dem Hôtel zu eilen,“ antwortete der Perpignaneser, „ein wenig Toilette zu machen und meine Joppe gegen einen schicklichen Anzug zu vertauschen, so werde ich mich, geehrte Frau, mit Vergnügen bei Ihnen einfinden.“
Clovis Dardentor, Jean Taconnat und Marcel Lornans verabschiedeten sich hierauf vom Kapitän Bugarach und Doctor Bruno. Wenn sie sich je wieder auf dem „Argeles“ einschiffen sollten, würde es ihnen die größte Befriedigung gewähren, dem liebenswürdigen Doctor und dem aufmerksamen Kapitän daselbst wieder zu begegnen. Die Beiden antworteten, daß sie nur sehr selten so angenehme Passagiere getroffen hätten, und so schieden alle vollbefriedigt von einander.
Herr Eustache Oriental hatte bereits, das Fernrohr im Lederetui auf dem Rücken und die Reisetasche in der Hand, den afrikanischen Boden betreten und folgte einem Manne, der sein schwereres Gepäck trug. Da er sich während der Ueberfahrt stets abseits gehalten hatte, fiel es auch niemand ein, ihn bei seinem Weggange zu begrüßen.
Clovis Dardentor und die Pariser gingen ebenfalls ans Land und überließen es der Familie Désirandelle, sich um die Beförderung ihres Gepäcks nach dem Hause in der Alten Schloßstraße selbst zu bekümmern. Dann bestiegen sie zusammen einen mit ihren Reisetaschen beladenen Wagen und fuhren nach einem vortrefflichen Hôtel am Platze der Republik, das ihnen der Doctor Bruno angelegentlich empfohlen hatte. Hier wurde Clovis Dardentor ein Salon, ein Zimmer und ein Cabinet eingeräumt, während sich Marcel Lornans und Jean Taconnat nach zwei Zimmern des obern Stockwerks mit den Fenstern nach dem Platze zu begaben.
Da fand es sich, daß auch Herr Oriental in demselben Hôtel abgestiegen war. Als seine Reisegesellschafter nämlich hier eintrafen, sahen sie ihn schon im Speisesaale sitzen und die Karte prüfen, nach der er sich eine Mahlzeit bestellen wollte.
„Ein seltsamer Astronom!“ bemerkte Jean Taconnat. „Mich wundert nur, daß er zum Diner nicht einen Eierkuchen mit Sternencompot oder eine Ente mit kleinen Planeten verlangt!“
Eine halbe Stunde später trat Clovis Dardentor aus seinem Zimmer, jetzt in gewählter Toilette, deren geringste Einzelheiten Patrice sorgsam überwacht hatte.
Sobald er die beiden Vettern am Hausthore traf, rief er:
„Na, meine jungen Freunde, da wären wir ja glücklich nach Oran geschafft!“
„Geschafft, ja, das ist das richtige Wort,“ meinte Jean Taconnat.
„Ich hoffe doch, Sie denken nicht daran, sich gleich heute bei den Siebenten Jägern eintragen zu lassen...
„Nun, Herr Dardentor, lange wird das nicht dauern,“ antwortete Marcel Lornans.
„Haben Sie es denn so eilig, in die blaue Jacke und in die besetzte rothe Hose zu kommen und die Dienstmütze auf den Kopf zu stülpen?...“
„Ja, wenn man sich einmal etwas vorgenommen hat...“
„Schon gut! Schon gut! Warten Sie wenigstens, bis wir die Stadt und ihre Umgebungen zusammen angesehen haben. Also auf morgen!“
„Auf Wiedersehen morgen!“ sagte Jean Taconnat.
Clovis Dardentor ließ sich darauf zur Frau Elissane führen.
„Ja, wie der liebenswürdige Mann sagte, da sind wir nun in Oran!“ wiederholte Marcel Lornans.
„Und wenn man irgendwo einmal ist,“ fuhr Jean Taconnat fort, „so entsteht die Frage, was man daselbst beginnt.“
„Nun, ich dächte, Jean, diese Frage wäre schon längst gelöst. Wir haben unsern Dienstvertrag zu vollziehen...“
„Gewiß, Marcel... aber...“
„Wie, dächtest Du etwa gar noch an den Artikel dreihundertfünfundvierzig des Civilgesetzbuchs?“
„Welcher Artikel ist das?“
„Der, der von den Vorbedingungen einer Adoption handelt.“
„Wenn das der Artikel dreihundertfünfundvierzig ist, antwortete Jean Taconnat, ja, dann denk' ich eben an diesen Artikel. Die Gelegenheit, die sich in Palma nicht bot, könnte sich doch in Oran bieten...“
„Mit einer Aussicht weniger,“ fiel Marcel Lornans ein. „Du hast hier kein Wasser mehr zur Verfügung, mein armer Jean, und mußt Dir's mit dem Feuer oder einem Kampfe genug sein lassen! Sieh, wenn heute Nacht das Hôtel in Brand gerathen sollte, verspreche ich Dir, daß ich zuerst Dich zu retten und dann mich in Sicherheit zu bringen suchen werde...“
„Du bist doch ein wahrhafter Freund, Marcel.“
„Herr Dardentor scheint mir der Mann dazu zu sein, sich schon selbst retten zu können. Er besitzt eine Kaltblütigkeit erster Sorte... davon wissen wir zu erzählen....“
„Zugegeben, Marcel, das hat er bewiesen, als er in die Eulalienkirche hineinstürmte, um daselbst den Segen zu empfangen. Anders aber, wenn er sich einer Gefahr nicht versähe, wenn er vom Feuer überrascht würde und ihm nur von außen Hilfe gebracht werden könnte...“
„Du giebst also den Gedanken nicht auf, Jean, daß Herr Dardentor unser Adoptivvater werden möchte?...“
„Gewiß... unser Adoptivvater!“
„Ja doch!... Du willst also nicht darauf verzichten?“
„Nimmermehr!“
„Nun, so will ich nicht länger darüber scherzen, Jean, doch unter einer Bedingung...“
„Und die wäre?...“
„Daß Du endlich Dein griesgrämiges Gesicht ablegst, wieder den guten, schönen Humor von früher zeigst, und die suchen von der lustigen Seite nimmst.“
„Zugestanden,“ Marcel... lachend, „wenn es mir gelingt, Herrn Dardentor aus einer der vom Civilgesetzbuch vorgesehenen Gefahren zu retten... lachend. wenn sich die Gelegenheit dazu nicht böte... lachend, wenn ich Erfolg habe lachend wenn mir's mißglückt, lachend, immer und überall!“
„So lass' ich mir's gefallen, dann bist Du wieder der Alte. Was nun unsern Dienstantritt betrifft...“
„O, damit hat es keine solche Eile, Marcel, und bevor ich nach dem Bureau des Unterintendanten gehe, beanspruche ich eine Gnadenfrist...“
„Für wie lange?“
„Für wenigstens vierzehn Tage. Was zum Kuckuck, wenn man sich für's ganze Leben eintragen läßt, kann man sich doch erst vierzehn Tage schöner Freiheit zusprechen...“
„Meinetwegen, vierzehn Tage, Jean, und wenn Du bis dahin keinen Vater in der Person des Herrn Dardentor beschafft hast...“
„Ich oder Du, Marcel...“
„Oder ich... mag sein... dann setzen wir die Soldatenmütze auf.“
„Einverstanden, Marcel!“
„Bist dahin bleibst Du aber lustig, Jean?“
„Lustig, wie der ausgelassenste Buchfink!“
„Ganz recht, Madame,“ antwortete das Zimmermädchen.
„Unsre Freunde werden sehr der Erholung bedürfen, Manuela, und ich fürchte, die arme Frau Désirandelle wird von der anstrengenden Ueberfahrt arg zu leiden gehabt haben. Sieh' zu, daß ihr Zimmer vollständig in Ordnung ist, denn vielleicht zieht sie es vor, sich gleich nach der Ankunft niederzulegen.“
„Natürlich, Madame, wird alles besorgt.“
„Wo ist meine Tochter?“
„In der Speisekammer, Madame, wo sie den Nachtisch zurecht macht.“
Manuela, die von Anfang an in Stellung bei Frau Elissane gewesen war, gehörte zu den Spanierinnen, aus denen man das Dienstpersonal der orancsischen Familien meist zu wählen pflegt.
Frau Elissane bewohnte ein hübsches Haus in der Alten Schloßstraße, wo sich die Gebäude einen halb spanischen, halb maurischen Charakter bewahrt haben. Ein kleiner Garten enthielt zwei Blumenkörbe mit Volubilis und zeigte jetzt, zu Anfang der warmen Jahreszeit, noch saftgrüne Rasenflächen neben einigen Bäumen, darunter mehrere Exemplare von „Bella ombra“ ein Name von guter Vorbedeutung, von dem die Promenade de l'Etang sehr schöne Exemplare besitzt.
Das aus Erdgeschoß und einem Stockwerk bestehende Gebäude bot genug Raum, um der Familie Désirandelle bequeme Unterkunft zu gewähren. In Oran sollte es dieser also weder an Zimmern noch an zarter Rücksichtnahme fehlen.
Die Hauptstadt der Provinz hat sich schon zu einer recht hübschen Stadt entwickelt. Sie liegt sehr schön zwischen den Abhängen einer Thalsenkung, deren Grund das schnelle Wasser des Oued-Rehhi durchströmt, welchen die Fahrstraße des Boulevard Oudinot theilweise überdeckt. Durch die Festungswerke des neuen Schlosses getheilt, macht Oran, wie alle diese Städte, auf der einen Seite einen alterthümlichen, auf der andern einen modernen Eindruck. Der alte Theil, die spanische Stadthälfte, hat mit ihrer Kasbah, ihren vielstöckigen Häusern und dem im Osten derselben gelegenen Hafen auch noch die alten Stadtmauern bewahrt. Die neue, noch weiter östlich gebaute Hälfte mit ihren jüdischen und maurischen Gebäuden, wird vom Schlosse an bis zum Fort Saint-André von einer mit Zinnen bekrönten Mauer vertheidigt.
Dieser Theil, der Gouharan der Araber, den Mauren aus Andalusien im zehnten Jahrhundert erbauten, wird von einem hohen Berge beherrscht, dessen steiler Abhang das Fort la Moune trägt. Fünfmal so groß, wie zur Zeit ihrer Gründung, nimmt diese Hälfte jetzt zweiundsiebzig Hektar ein, und mehrere bis außerhalb ihrer Mauer reichende Straßen ziehen sich gegen zwei Kilometer lang bis zum Meere hin. Bei Fortsetzung seines Weges jenseit der Mauern der Forts, würde der Tourist dann nach den neuesten Anbauten, nach den Vorstädten Gambetta und Noiseux-Eckmühl gelangen.
Man wird schwerlich eine algerische Stadt finden können, die eine interessantere Mischung von Volkstypen aufwiese. Unter ihren siebenundvierzigtausend Einwohnern begegnet man nur siebzehntausend Franzosen neben achtzehntausend Fremden. vorzüglich Spaniern und Italienern, Engländern und Anglo-Maltesern. Füge man hierzu gegen viertausend Araber, die im Süden der Stadt, im Vororte Djalis, der auch das Negerdorf genannt wird, zusammen wohnen und woher man die Straßenfeger und Lastträger des Hafens nimmt; theile man diese Mischung von Rassen in siebenundzwanzigtausend Anhänger der katholischen Religion, siebenzehntausend Adepten des israelitischen und etwa tausend Gläubige des muselmanischen Bekenntnisses, so hat man von diesem Gesichtspunkte aus ein ziemlich getreues Bild von der hybridischen Bevölkerung der oranischen Hauptstadt.
Das war die Stadt, wohin sich Herr Elissane einst zurückzog, nachdem er in Perpignan ein Handelsgeschäft fünfzehn Jahre lang und mit solchem Erfolge betrieben hatte, daß er sich zuletzt einer Rente von zwölftausend Francs erfreute, die sich unter der haushälterischen Verwaltung seiner Wittwe auch nicht vermindert hatte.
Die jetzt vierundvierzigjährige Frau Elissane war gewiß nie so hübsch, so graziös und anziehend wie ihre Tochter gewesen. Als eine Frau, die stets wußte, was sie wollte und ihre Worte wie früher ihren Zucker abwog, zeigte sie jenen wohlbekannten Typus des weiblichen Rechnungsführers, „bezifferte“ sie sozusagen ihre Gefühle und befleißigte sich einer doppelten Buchführung bezüglich der ganzen Lebenshaltung mit der Vorsorge, daß ihr Contocorrent immer mit einem Plus auf der Creditseite abschloß. Man kennt ja diese Erscheinungen mit scharfgeschnittnen Gesichtszügen, vortretenden Stirnhöckern, durchdringendem Blicke und ernstem Munde „mit alledem, was bei dem sogenanntenschwachen Geschlecht ebenso bestimmt bewahrte Gewohnheiten, wie Hartnäckigkeit und Zähigkeit verräth. Frau Elissane hatte ihr Hauswesen nach wohlüberlegten Vorschriften organisiert und nirgends nutzlose Ausgaben gestattet. Sie machte noch Ersparnisse, die sie sicher und fruchttragend anzulegen verstand. Handelte es sich jedoch um ihre Tochter, der ihre ganze Liebe gewidmet war, so sah sie das Geld nicht so genau an. Ihre Wünsche galten nur dem Glück dieses einzigen Kindes, und sie bezweifelte gar nicht, daß dessen Glück durch die geplante Verbindung mit der Familie Désirandelle ausreichend gesichert sein werde.
Die zwölftausend Francs Rente, die Agathokles dereinst besitzen würde, und dazu das Vermögen, das Louise von ihrer Mutter zu erhoffen hatte, das ergab ja eine metallische Unterlage, die gewiß viele Leute für solid genug hielten, um eine sorgenlose Zukunft darauf zu begründen.
Louise selbst konnte sich des Agathokles kaum noch erinnern. Ihre Mutter hatte sie aber in dem Gedanken erzogen, daß sie eines Tags Frau Désirandelle jun. werden würde; das erschien dem jungen Mädchen auch ganz natürlich, vorausgesetzt, daß der ihr bestimmte Freier ihr auch gefiele, und warum sollte er nicht alle Eigenschaften haben, um zu gefallen?
Nachdem Frau Elissane ihre letzten Befehle ertheilt hatte, begab sie sich in den Salon, wo ihre Tochter ebenfalls erschien.
„Dein Dessert ist fertig, mein Kind?“ fragte sie.
„Ja, liebe Mutter.“
„Es ist unangenehm, daß der Dampfer erst so spät, fast mit anbrechender Nacht ankommt!... Doch um sechs Uhr mußt Du mit der Toilette fertig sein, Louise; zieh' das kleincarrierte Kleid an, wir gehen dann nach dem Hafen hinunter, wo der „Agathokles“ viel leicht schon als in Sicht gemeldet ist.“
Frau Elissane, die den Namen verwechselte, betonte hier das e der Endsilbe, die doch in jenem Namen fast tonlos ist.
„Du meinst wohl den „Argeles“, antwortete Louise lachend. „Und dann heißt mein Zukünftiger auch nicht Agathokles, sondern Agáthokles.“
„Schon gut,“ erwiderte Frau Elissane, „Argeles oder Agathokles, das hat ja nicht viel zu bedeuten! Du kannst Dich aber darauf verlassen, daß er keinen Fehler begehen wird, wenn er den Namen Louise ausspricht.“
„Bist Du dessen so sicher?“ versetzte das junge Mädchen neckisch. „Der Herr Agathokles kennt mich ja kaum und ich gestehe, daß ich ihn auch nicht genauer kenne.“
„O, wir werden Euch schon Zeit geben, vor einer Entscheidung wieder nähere Bekanntschaft zu machen.“
„Das ist wohl nicht mehr als billig!“
„Uebrigens bin ich überzeugt, daß Du ihm gefallen wirst, mein Kind, und ihm muß doch erst recht daranliegen, daß er Dir zu gefallen sacht. Frau Désirandelle ist ja seines Lobes voll! Dann vereinbaren wir den Ehecontract....“
„Und das Ergebniß der Aufstellung, Mutter...“
„Wird natürlich zu Deinen Gunsten sein... Vergessen wir indeß nicht, daß ihr Freund, Herr Clovis Dardentor, die Désirandelle's begleitet... Du weißt doch, jener reiche Perpignaneser, auf den sie so stolz sind und der „ihrem Reden nach „der beste Mensch von der Welt sein soll. Da Herr und Frau Désirandelle nicht an Seefahrten gewöhnt sind, hat er sie nach Oran herüberlootsen wollen. Das ist ja recht hübsch von dem Manne, und wir werden ihn freundlichst empfangen, Louise...“
„Ganz nach Verdienst, und selbst wenn's ihm einfiele, um meine Hand anzuhalten... doch nein, ich vergesse, daß ich Frau Agathokles werden soll und sein werde Agathokles... ein hübscher Name, wenn auch von etwas gar zu altgriechischem Anklang.“
„Sei doch einmal ernsthaft, Louise!“
Das junge Mädchen war auch ernsthaft, trotz ihres lustigen und bestechenden Naturells. Sie war das aber nicht, weil es die Eigenschaft jeder gewöhnlichen Romanheldin ist, sondern infolge ihrer Jugend, ihrer freimüthigen Natur, die sich in den lebhaften, beweglichen Zügen, in den „sammtnen“ glänzenden Augen mit dunkler Pupille in azurblauer Iris, in dem reichen, dunkelblonden Haare und in ihrer graziösen Haltung aussprach.
Diese flüchtigen Pinselstriche genügen zu dem Bilde Louise Elissane's, und der Leser erkennt wohl Schon daraus, daß sie sich nicht wenig von dem Tropfe unterschied, den man ihr mit den andern Frachtstücken des „Argeles“ von Cette her zusendete.
Als die Stunde gekommen war und die Herrin des Hauses einen letzten Blick in die Zimmer der Familie Désirandelle geworfen hatte, rief Frau Elissane ihre Tochter und beide gingen nach dem Hafen hinunter. Sie wollten zuerst in dem amphitheatralischen Garten, der die ganze Rhede beherrscht, Halt machen. Von hier aus reicht der Blick bis zum hohen Meere hinaus. Der Himmel war herrlich, der Horizont vollkommen klar. Schon senkte sich die Sonne nach der Landspitze Mers-el-Kebir, dem Portus divinus der Alten, neben der Panzerschiffe und Kreuzer gegen die häufigen Weststürme vortrefflichen Schutz finden.
Im Norden leuchteten einige weiße Segel. Lange Rauchwolken bezeichneten die Dampfer der zahlreichen Schiffslinien des Mittelmeeres, die an der afrikanischen Küste münden. Zwei oder drei dieser Packetboote steuerten offenbar auf Oran zu, und eines davon konnte kaum noch drei Seemeilen vom Hafen sein. War das der „Argeles“, der von der Mutter, wenn auch nicht von der Tochter, so sehnsüchtig erwartet wurde? Louise kannte den Burschen ja gar nicht, den jede Schraubendrehung ihr näher brachte, und vielleicht wär' es besser gewesen, wenn der „Argeles“ wieder nach rückwärts lief....
„Es ist schon um halb sieben,“ bemerkte Frau Elissane. „Wir wollen vollends hinunter gehen.“
„Ich folge Dir nach, Mutter,“ antwortete Louise.
Durch die breite, am Kai ausmündende Straße erreichten Mutter und Tochter das Hafenbecken, worin die Dampfer gewöhnlich anlegen.
Frau Elissane fragte einen der Hafenbeamten, ob der „Argeles“ schon gemeldet sei.
„Ja, Madame,“ antwortete der Beamte, „er muß in einer halben Stunde einlaufen.“
Frau Elissane und ihre Tochter spazierten nun um den Hafen, an dessen Nordseite einige Anhöhen den Ausblick nach dem Meere verhindern.
Zwanzig Minuten später ertönte ein langgedehntes Pfeifen. Der Dampfer steuerte eben um die Spitze des einen Kilometer langen Hafendammes, der vom Fuße des Fort La Moune ausgeht, und nach einigen Wendungen legte das Schiff am Kai an.
Gleich nach Herstellung der Verbindung mit dem Lande begaben sich Frau Elissane und Louise an Bord. Die erstere öffnete die Arme, um Frau Désirandelle, die sich seit dem Einlaufen in den Hafen endlich wieder wohler fühlte, an sich zu drücken und ebenso Herrn Désirandelle und Agathokles zu begrüßen, während Louise mehr Zurückhaltung bewahrte, was alle jungen Mädchen begreifen werden.
„Nun, und ich, meine vortreffliche, hochgeehrte Dame?... Haben wir uns denn in Perpignan nicht gekannt? Ich erinnere mich der Frau Elissane und des Fräulein Louise, die freilich inzwischen etwas gewachsen ist, sehr gut!... Sapperment, fällt denn kein Küßchen, oder lieber zwei, für den alten Freund Dardentor ab?“
Wenn Patrice etwa gehofft hatte, daß sein Herr bei diesem Wiedersehen sich als Mann von Welt zeigen würde, so mußte er durch solche Vertraulichkeiten sich freilich grausam enttäuscht sehen. Er zog sich also in gerechtem Unwillen in dem Augenblicke zurück, wo die Lippen Clovis Dardentor's auf die dürren Wangen der Frau Elissane, wie der Klöpfel auf das Trommelfell, klatschten.
Selbstverständlich hatte sich Louise der stürmischen Begrüßung des Désirandelle'schen Ehepaares nicht ganz entziehen können. So ungeniert aber Herr Dardentor auch sonst auftrat, ging er doch nicht so weit, auch das junge Mädchen mit einem väterlichen Kusse zu beglücken, obwohl dieses einen solchen vielleicht mit guter Miene hingenommen hätte.
Der junge Agathokles, der auf Louise zutrat, hatte sie nur mit einem mechanischen Gruße beehrt, an dem unter Mithilfe der Halsmuskeln sein Kopf allein theilnahm, dann wich er, ohne ein Wort zu sprechen, wieder zurück.
Das junge Mädchen konnte sich nicht enthalten, den Mund etwas verächtlich zu verziehen, was zwar Clovis Dardentor nicht bemerkte, was aber weder Marcel Lornans noch Jean Taconnat entging.
„Alle Wetter,“ sagte der Erstere leise, „ich hätte nicht erwartet, ein so hübsches Kind zu sehen!“
„Wahrhaftig, ein hübsches Mädchen,“ stimmte der Zweite ein.
„Und sie soll diesen Hohlkopf heiraten?“ setzte Marcel Lornans hinzu.
„Sie! » rief Jean Taconnat. « Gott verzeih' es mir, wenn ich, um das zu verhüten, meinem Schwur, niemals zu heiraten, selbst untreu würde!“
Ja, Jean Taconnat hatte sich das geschworen... er redete sich's wenigstens ein. Das war so ein leicht gethaner Jugendschwur ebensoviel werth, wie manche andre, die auch nicht gehalten werden. Wir bemerken hier übrigens, daß Marcel Lornans sich keinen solchen Eid geleistet hatte. Darauf kam indeß eigentlich nichts an. Beide waren ja nach Oran gereist, um bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten und nicht, um Fräulein Louise Elissane zu heiraten.
Wir fügen hier noch ein, um nicht wieder darauf zurückzukommen, daß die Fahrt des „Argeles“ zwischen Palma und Oran unter den denkbar günstigsten Umständen von statten gegangen war. Ein Meer aus Oel, wie man sagt, so daß man glauben konnte, alles Oel der Provence wäre darauf ausgegossen worden, eine leichte Nordostbrise, die den Dampfer von der Backbordseite her traf, so daß man ihn mit den dreieckigen, den Klüversegeln und der Brigantine vor dem Schwanken bewahren konnte. Keine Welle war während der dreiundzwanzigstündigen Seefahrt auf das Deck geschlagen, und seit der Abfahrt von Palma hatten fast alle Passagiere ihre Plätze an der gemeinsamen Tafel eingenommen, so daß sich die Schiffsküche heimlich über die ungewöhnliche Zahl der Tischgäste beklagen mochte.
Herrn Oriental hatten die auf neapolitanische Art zubereiteten Forellen köstlich geschmeckt, und an den Encimadas hatte er sich mit dem Behagen des professionellen Gourmands aufs beste gelabt.
Alle Welt war in Oran also gesund eingetroffen, selbst Frau Désirandelle, die bis zu den Balearen so arg zu leiden gehabt hatte.
Obgleich nun Herr Désirandelle im zweiten Theile der Fahrt sein physisches und moralisches Gleichgewicht wieder erlangte, hatte er mit den beiden Parisern doch keine nähere Bekanntschaft gemacht. Die beiden jungen Leute ließen ihn gleichgiltig. Trotz ihrer geistigen Veranlagung, die ihm sozusagen von schlechtem Beigeschmack zu sein schien, standen sie seinem Urtheile nach entschieden unter seinem Agathokles. Dardentor mochte getrost den Verkehr mit ihnen angenehm und ihre Unterhaltung anregend finden... mit der Landung des „Argeles“ würde das ja so wie so zu Ende sein.
Unter diesen Umständen kam es Herrn Désirandelle natürlich nicht in den Sinn, der Frau Elissane und deren Tochter die beiden Vettern vorzustellen. Mit der Ungeniertheit des Südländers und bei der Gewohnheit, seiner ersten Eingebung zu folgen, zögerte Clovis Dardentor dagegen nicht, das selbst zu thun.
„Herr Marcel Lornans und Herr Jean Taconnat, beide aus Paris,“ sagte er, „zwei junge Freunde, für die ich eine lebhafte, von ihnen erwiderte Theilnahme empfinde, während ich auch die Hoffnung hege, daß unsre Freundschaft diese kurze Ueberfahrt überdauern werde.“
Wie ganz anders zeigte sich dieser Perpignaneser doch zuweilen. Hier gab er seinen Gefühlen in wohlgesetzter Rede Ausdruck. Leider war Patrice nicht anwesend, um ihn zu hören.
Die beiden jungen Leute verneigten sich vor Frau Elissane, die mit einem gemessnen Gruße dankte.
„Madame,“ sagte Marcel Lornans, „wir sind Herrn Dardentor für diese Aufmerksamkeit sehr verbunden. Wir hatten ja Gelegenheit, ihn nach Verdienst schätzen zu lernen. Auch wir glauben an die Fortdauer dieser...“
„Väterlichen Freundschaft seinerseits und kindlichen Ergebenheit unsrerseits!“ schloß Jean Taconnat die Worte seines Vetters.
Etwas verstimmt durch diese Höflichkeiten, blickte Frau Désirandelle nach ihrem Sohne, der den Mund noch nicht aufgethan hatte. Frau Elissane, die zu den jungen Parisern vielleicht hätte sagen können, daß sie sie bei deren Verweilen in Oran gern in ihrem Hause empfangen würde, that das doch nicht, eine Rücksichtnahme, wofür ihr die Mutter des Agathokles heimlich dankte. Die beiden Damen mochten sich mit mütterlichem Instinct wohl sagen, daß es rathsamer sei, gegenüber diesen Fremden einige Zurückhaltung zu bewahren.
Frau Elissane bemerkte dann gegen Herrn Dardentor, daß bei ihr für ihn mit gedeckt sei und sie sich glücklich schätzen werde, ihn an diesem ersten Tage mit der Familie Désirandelle als Tischgast zu sehen.
„Gönnen Sie mir nur die Zeit, nach dem Hôtel zu eilen,“ antwortete der Perpignaneser, „ein wenig Toilette zu machen und meine Joppe gegen einen schicklichen Anzug zu vertauschen, so werde ich mich, geehrte Frau, mit Vergnügen bei Ihnen einfinden.“
Clovis Dardentor, Jean Taconnat und Marcel Lornans verabschiedeten sich hierauf vom Kapitän Bugarach und Doctor Bruno. Wenn sie sich je wieder auf dem „Argeles“ einschiffen sollten, würde es ihnen die größte Befriedigung gewähren, dem liebenswürdigen Doctor und dem aufmerksamen Kapitän daselbst wieder zu begegnen. Die Beiden antworteten, daß sie nur sehr selten so angenehme Passagiere getroffen hätten, und so schieden alle vollbefriedigt von einander.
Herr Eustache Oriental hatte bereits, das Fernrohr im Lederetui auf dem Rücken und die Reisetasche in der Hand, den afrikanischen Boden betreten und folgte einem Manne, der sein schwereres Gepäck trug. Da er sich während der Ueberfahrt stets abseits gehalten hatte, fiel es auch niemand ein, ihn bei seinem Weggange zu begrüßen.
Clovis Dardentor und die Pariser gingen ebenfalls ans Land und überließen es der Familie Désirandelle, sich um die Beförderung ihres Gepäcks nach dem Hause in der Alten Schloßstraße selbst zu bekümmern. Dann bestiegen sie zusammen einen mit ihren Reisetaschen beladenen Wagen und fuhren nach einem vortrefflichen Hôtel am Platze der Republik, das ihnen der Doctor Bruno angelegentlich empfohlen hatte. Hier wurde Clovis Dardentor ein Salon, ein Zimmer und ein Cabinet eingeräumt, während sich Marcel Lornans und Jean Taconnat nach zwei Zimmern des obern Stockwerks mit den Fenstern nach dem Platze zu begaben.
Da fand es sich, daß auch Herr Oriental in demselben Hôtel abgestiegen war. Als seine Reisegesellschafter nämlich hier eintrafen, sahen sie ihn schon im Speisesaale sitzen und die Karte prüfen, nach der er sich eine Mahlzeit bestellen wollte.
„Ein seltsamer Astronom!“ bemerkte Jean Taconnat. „Mich wundert nur, daß er zum Diner nicht einen Eierkuchen mit Sternencompot oder eine Ente mit kleinen Planeten verlangt!“
Eine halbe Stunde später trat Clovis Dardentor aus seinem Zimmer, jetzt in gewählter Toilette, deren geringste Einzelheiten Patrice sorgsam überwacht hatte.
Sobald er die beiden Vettern am Hausthore traf, rief er:
„Na, meine jungen Freunde, da wären wir ja glücklich nach Oran geschafft!“
„Geschafft, ja, das ist das richtige Wort,“ meinte Jean Taconnat.
„Ich hoffe doch, Sie denken nicht daran, sich gleich heute bei den Siebenten Jägern eintragen zu lassen...
„Nun, Herr Dardentor, lange wird das nicht dauern,“ antwortete Marcel Lornans.
„Haben Sie es denn so eilig, in die blaue Jacke und in die besetzte rothe Hose zu kommen und die Dienstmütze auf den Kopf zu stülpen?...“
„Ja, wenn man sich einmal etwas vorgenommen hat...“
„Schon gut! Schon gut! Warten Sie wenigstens, bis wir die Stadt und ihre Umgebungen zusammen angesehen haben. Also auf morgen!“
„Auf Wiedersehen morgen!“ sagte Jean Taconnat.
Clovis Dardentor ließ sich darauf zur Frau Elissane führen.
„Ja, wie der liebenswürdige Mann sagte, da sind wir nun in Oran!“ wiederholte Marcel Lornans.
„Und wenn man irgendwo einmal ist,“ fuhr Jean Taconnat fort, „so entsteht die Frage, was man daselbst beginnt.“
„Nun, ich dächte, Jean, diese Frage wäre schon längst gelöst. Wir haben unsern Dienstvertrag zu vollziehen...“
„Gewiß, Marcel... aber...“
„Wie, dächtest Du etwa gar noch an den Artikel dreihundertfünfundvierzig des Civilgesetzbuchs?“
„Welcher Artikel ist das?“
„Der, der von den Vorbedingungen einer Adoption handelt.“
„Wenn das der Artikel dreihundertfünfundvierzig ist, antwortete Jean Taconnat, ja, dann denk' ich eben an diesen Artikel. Die Gelegenheit, die sich in Palma nicht bot, könnte sich doch in Oran bieten...“
„Mit einer Aussicht weniger,“ fiel Marcel Lornans ein. „Du hast hier kein Wasser mehr zur Verfügung, mein armer Jean, und mußt Dir's mit dem Feuer oder einem Kampfe genug sein lassen! Sieh, wenn heute Nacht das Hôtel in Brand gerathen sollte, verspreche ich Dir, daß ich zuerst Dich zu retten und dann mich in Sicherheit zu bringen suchen werde...“
„Du bist doch ein wahrhafter Freund, Marcel.“
„Herr Dardentor scheint mir der Mann dazu zu sein, sich schon selbst retten zu können. Er besitzt eine Kaltblütigkeit erster Sorte... davon wissen wir zu erzählen....“
„Zugegeben, Marcel, das hat er bewiesen, als er in die Eulalienkirche hineinstürmte, um daselbst den Segen zu empfangen. Anders aber, wenn er sich einer Gefahr nicht versähe, wenn er vom Feuer überrascht würde und ihm nur von außen Hilfe gebracht werden könnte...“
„Du giebst also den Gedanken nicht auf, Jean, daß Herr Dardentor unser Adoptivvater werden möchte?...“
„Gewiß... unser Adoptivvater!“
„Ja doch!... Du willst also nicht darauf verzichten?“
„Nimmermehr!“
„Nun, so will ich nicht länger darüber scherzen, Jean, doch unter einer Bedingung...“
„Und die wäre?...“
„Daß Du endlich Dein griesgrämiges Gesicht ablegst, wieder den guten, schönen Humor von früher zeigst, und die suchen von der lustigen Seite nimmst.“
„Zugestanden,“ Marcel... lachend, „wenn es mir gelingt, Herrn Dardentor aus einer der vom Civilgesetzbuch vorgesehenen Gefahren zu retten... lachend. wenn sich die Gelegenheit dazu nicht böte... lachend, wenn ich Erfolg habe lachend wenn mir's mißglückt, lachend, immer und überall!“
„So lass' ich mir's gefallen, dann bist Du wieder der Alte. Was nun unsern Dienstantritt betrifft...“
„O, damit hat es keine solche Eile, Marcel, und bevor ich nach dem Bureau des Unterintendanten gehe, beanspruche ich eine Gnadenfrist...“
„Für wie lange?“
„Für wenigstens vierzehn Tage. Was zum Kuckuck, wenn man sich für's ganze Leben eintragen läßt, kann man sich doch erst vierzehn Tage schöner Freiheit zusprechen...“
„Meinetwegen, vierzehn Tage, Jean, und wenn Du bis dahin keinen Vater in der Person des Herrn Dardentor beschafft hast...“
„Ich oder Du, Marcel...“
„Oder ich... mag sein... dann setzen wir die Soldatenmütze auf.“
„Einverstanden, Marcel!“
„Bist dahin bleibst Du aber lustig, Jean?“
„Lustig, wie der ausgelassenste Buchfink!“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor