Kapitel (Worin die 14tägige Frist für Marcel Lornans wie für Jean Taconnat erfolglos verstreicht)
Ein Haushahn kann beim ersten Morgengrauen nicht fideler sein als Jean Taconnat, als er aus seinem Bette sprang und Marcel Lornans mit seinem Trällern weckte. Vierzehn Tage... er hatte ja vierzehn Tage vor sich, um jenen braven Mann und doppelten Millionär zu ihrem Adoptivvater umzuwandeln.
Uebrigens war es gewiß, daß Clovis Dardentor Oran nicht verlassen würde, ehe nicht die Vermählung Agathokles Désirandelle's und Louise Elissane's gefeiert war. Er mußte dem Sohne seiner alten Freunde doch als Trauzeuge dienen. Vier bis fünf Wochen mochten aber wenigstens hingehen, bevor es zu dieser Hochzeitsfeier kam... wenn es überhaupt dazu kam. Würde sie aber wirklich stattfinden?...
Diese „Wenn“ und „Aber“ hüpften im Gehirn Marcel Lornans' hin und her. Es schien ihm ganz undenkbar, daß jener Bursche der Gatte dieses reizenden jungen Mädchens werden sollte, denn so wenig er sie auf dem Verdeck des „Argeles“ auch gesehen hatte, hätte er es doch als eine Pflichtvergessenheit empfunden, sie nicht zu verehren und zu bewundern. Daß Herr und Frau Désirandelle in ihrem Agathokles einen für Louise ganz passenden Ehegemahl erblickten, war ja am Ende erklärlich.
Von jeher sind Eltern bezüglich ihrer Kinder ja stets mit ziemlich starker Blindheit geschlagen. Es war aber ganz ausgeschlossen, daß der Perpignaneser sich nicht früher oder später von der völligen Bedeutungslosigkeit des Agathokles Rechenschaft geben und nicht erkennen sollte, daß zwei so verschiedne Wesen nicht für einander geschaffen seien.
Um halb neun Uhr früh trafen sich Herr Dardentor und die Pariser im Speisesaale des Hôtels beim ersten Frühstück.
Clovis Dardentor war in rosigster Laune. Er hatte gestern Abend gut gegessen und die Nacht über gut geschlafen. Wer aber mit einem vortrefflichen Magen, einem ausgezeichneten Schlaf und einem guten Gewissen dem nächsten Tage nicht freudig entgegensehen kann, der wird das niemals können.
„Meine jungen Freunde,“ begann Herr Dardentor, während er sein Weißbrödchen in eine Tasse ausgezeichneter Chocolade tauchte, „wir haben uns seit gestern Abend nicht gesehen, und diese Zeit der Trennung ist mir recht lang vorgekommen.“
„Sie sind uns aber im Traum erschienen, Herr Dardentor,“ antwortete Jean Taconnat, mit einem Strahlenscheine um den Kopf...“
„Als Heiliger, nicht wahr?“
„Nun, so wie ein Schutzpatron der Ostpyrenäen!“
„Ah, Herr Jean, Sie haben also die alte Fröhlichkeit wieder geangelt?“
„Geangelt... wie Sie sagen,“ bestätigte Marcel Lornans, „er ist nur der Gefahr ausgesetzt, sie sich wieder entwischen zu lassen.“
„Ei, weshalb denn?“
„Weil wir uns doch wieder trennen müssen, Herr Dardentor, und Sie nach der einen, wir nach der andern Seite gehen müssen.“
„Wie?... Uns trennen?...“
„Nun freilich... da die Familie Désirandelle auf Ihre Person Beschlag legen wird.“
„Ach, Papperlapapp, das giebt's nicht! Ich leide es nicht, daß jemand mich in Fesseln und Bande schlägt. Daß ich es von Zeit zu Zeit annehme, bei Frau Elissane einen Teller Suppe mit zu essen... das mag sein. Den Vormittag und den Nachmittag behalte ich mir aber vor und hoffe, daß wir sie dazu verwenden, durch die Stadt zu spazieren... zusammen, durch die Stadt und ihre Nachbarschaft...“
„Ah, das ist schön, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat. „Ich möchte niemals von Ihrer Seite weichen!“
„Keinen Fuß breit und keine Woche lang!“ erwiderte unser Perpignaneser wärmer werdend. Ich liebe einmal die Jugend und komme mir nur halb so alt vor, wenn ich mit Freunden zusammen bin, die um die Hälfte jünger sind als ich!... Und doch... recht überlegt... könnt' ich bequem Ihr Vater sein...“
„O, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat, der diesen Herzensaufschrei nicht zurückhalten konnte.
„Wir bleiben also vereinigt, meine jungen Herren! Es wird Zeit genug sein, von einander zu lassen, wenn ich von Oran scheide, um... ja, meiner Treu, ich weiß nicht, wohin zu gehen.“
„Nach der Verheiratung?...“
„Welcher Verheiratung?“
„Der des jungen Désirandelle.“
„Ah, richtig. Daran dacht' ich schon gar nicht mehr.... Hm, 's ist doch ein sehr hübsches Mädchen, das Fräulein Elissane!“
„Das haben wir auch sofort entdeckt, als sie an Bord des „Argeles“ kam,“ bestätigte Marcel Lornans.
„Ja, ich nicht weniger. Seit ich aber bei ihrer Mutter gesehen habe, wie sie so graziös, so aufmerksam, so... nun ja, so... kurz, da hat sie bei mir noch um hundert Procent gewonnen! Wahrlich, dieser Guckindiewelt Agathokles wird nicht zu beklagen sein...“
„Wenn er Fräulein Elissane gefällt,“ glaubte Marcel Lornans einwerfen zu sollen.
„Natürlich... er wird aber gefallen, der Bursche! Beide kennen sich ja seit ihrer Geburt...“
„Und sogar seit noch früher!“ sagte Jean Taconnat.
„Agathokles ist eine gutmüthige Natur... freilich, vielleicht ein wenig... ein wenig...“
„Ein wenig... viel...“ sagte Marcel Lornans.
„Und eigentlich doch gar nicht...“ fiel Jean Taconnat ein.
Für sich aber murmelte er weiter:
„Doch gar nicht das, was Fräulein Elissane verlangen kann!“
Jedenfalls glaubte er die Stunde aber noch nicht gekommen, diese Ansicht vor Herrn Dardentor auszusprechen, der in seinem Satze fortfuhr:
„Ja... er ist ein wenig... ich geb' es zu... Doch, mag sein... er wird schon gelenkiger werden... wie ein Murmelthier nach dem Winterschlaf...“
„Und wird doch ewig ein Murmelthier bleiben! konnte Marcel Lornans zu sagen nicht unterdrücken.“
„Nachsichtig, meine jungen Herren, nachsichtig!“ mahnte Herr Dardentor. „Wenn Agathokles nur mit Parisern, wie mit Ihnen, verkehrte, würde er sich vor Ablauf von zwei Monaten gehäutet haben. Sie sollten ihm Unterricht geben.“
„Unterricht, um geistvoller zu werden... zu hundert Sold die Stunde!“ rief Jean Taconnat. „Das hieße: ihm sein Geld stehlen!“
Herr Dardentor wollte sich noch nicht ergeben. Daß der junge Désirandelle schneidig war wie eine bleierne Klinge, das sagte er sich wohl selbst.
„Lachen Sie, lachen Sie nur, meine Herren! fuhr er fort. Sie vergessen, daß die Liebe den Dümmsten giebt, was sie den Schlausten an Geist raubt, und sonach wird sie reichlichst beschenken den jungen...“
„Gagathokles!“ vollendete Jean Taconnat den Satz.
Herr Dardentor mußte über die Verdrehung laut auflachen.
Marcel Lornans brachte das Gespräch jetzt auf Frau Elissane. Er erkundigte sich nach der Lebensweise, die sie in Oran führe... wie Herr Dardentor ihr Haus gefunden habe...
„O, eine sehr nette Wohnstätte,“ antwortete dieser, „ein niedlicher Käfig, der durch die Anwesenheit eines reizenden Vogels belebt wird. Sie werden dahin kommen...“
„Wenn das nicht indiscret erscheint,“ bemerkte Marcel Lornans.
„Ich führe Sie ein, da macht sich das schon von selbst. Uebrigens nicht gleich heute... Agathokles muß erst festen Fuß fassen können. Wir werden morgen einmal sehen.... Jetzt lassen Sie uns an die spätern Spaziergänge denken. Die Stadt... ihr Hafen... ihre Bauwerke...“
„Und unser Dienstvertrag?“ wendete Marcel Lornans ein.
„Den brauchen Sie heute noch nicht zu unterschreiben... morgen auch nicht... übermorgen auch noch nicht! Warten Sie wenigstens bis nach der Hochzeit...“
„Da müßten wir vielleicht bis zu dem Alter warten, wo man uns entlassen muß...“
„Nein, nein! Das wird sich nicht verschleppen!“
Welcher Schwall von Ausdrücken, die alle die Feinfühligkeit Patrice's schwer verletzt hätten.
„Jetzt sei also,“ nahm Herr Dardentor wieder das Wort, „nicht mehr vom Eintreten in den Dienst die Rede...“
„Beruhigen Sie sich,“ versicherte Jean Taconnat. „Wir haben uns einen vierzehntägigen Urlaub geleistet. Haben sich unsre Verhältnisse bis dahin nicht geändert, sind nicht neue Interessen...“
„Schön, liebe Freunde... jetzt keine Auseinandersetzungen!“ rief Clovis Dardentor. „Sie haben sich vierzehn Tage vorbehalten... ich nehme sie und gebe Ihnen Quittung darüber! Während dieser Zeit gehören Sie mir. Wahrlich, ich habe mich auf dem „Argeles“ doch nur eingeschifft, weil ich wußte, daß ich Sie auf dem Schiffe treffen würde...“
„Und doch hatten Sie die Abfahrt versäumt, Herr Dardentor!“ gab ihm Jean Taconnat anzuhören.
In der besten Laune der Welt stand unser Perpignaneser vom Tische auf und trat in die Vorhalle hinaus.
Hier wartete Patrice.
„Hat der Herr mir noch Befehle zu ertheilen?“
„Befehle?... Nein, doch, Dir „Campo“ für den ganzen Tag. Schreib' Dir das hinter die Ohren und lösch' es vor zehn Uhr nicht aus!“
Patrice verzog den Mund, denn er dankte seinem Herrn nicht im mindesten für einen Urlaub, der in solchen Ausdrücken ertheilt wurde.
„Der Herr wünscht also nicht, daß ich ihn begleite?“
„Ich wünsche weiter nichts, Patrice, als Dich nicht länger auf den Fersen zu haben, und bitte Dich, mir die Deinigen zuzukehren!“
„Der Herr gestattet mir wohl noch eine Empfehlung...“
„Nun ja, wenn Du gleich darauf verschwindest.“
„Nun, die Empfehlung, deren der Herr eingedenk sein mag, geht dahin, keinen Wagen zu besteigen, ehe der Kutscher nicht auf seinem Platze ist. Das dürfte nicht immer mit einem Segensspruch enden, sondern gelegentlich mit einem Kopfsturz...“
„Nun aber zum Teufel mit Dir!“
Clovis Dardentor ging zwischen den beiden Parisern die Freitreppe vor dem Hôtel hinunter.
„Wahrlich, ein seltenes Muster von Diener, das Sie haben,“ bemerkte Marcel „Lornans, correct und vornehm im höchsten Grade.“
„Doch auch ein Quälgeist erster Sorte! Im übrigen ist er ein prächtiger Kerl, der durchs Feuer ginge, um mich zu retten...“
„Damit wäre er nicht der Einzige, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat, der eintretenden Falls gewiß versucht hätte, Patrice aus seiner Rolle als Lebensretter zu verdrängen.
Im Laufe dieses Morgens lustwandelten Clovis Dardentor und die beiden Vettern längs der Kais in der untern Stadt hin. Der Hafen von Oran ist dem Meere erst abgerungen worden. Ein langer Molo beschützt ihn und quer verlaufende Dämme theilen ihn in einzelne Becken, die zusammen eine Oberfläche von vierundzwanzig Hektar haben.
Wenn die beiden jungen Leute dem lebhaften Handelstreiben, das Oran unter den algerischen Städten den ersten Rang gesichert hat, keinen besondern Geschmack abgewinnen konnten, so zeigte der frühere Industrielle von Perpignan dafür doch das größte Interesse. Das Verladen der Alfa, die einen bedeutenden Ausfuhrartikel bildet und von ausgedehnten Gebieten des Südens der Provinz in großer Menge geliefert wird, die Verschiffung der Thiere, des Getreides und Rohzuckers, die Verfrachtung der in der Berggegend gewonnenen Mineralien „das war so etwas für Herrn Dardentor.
„Das weiß ich,“ sagte er, „in dem Leben und Treiben hier werd' ich noch manchen Tag verbringen. Hier ist's mir, als befände ich mich noch in meinen mit Fässern angefüllten Schuppen. Etwas Merkwürdigeres kann Oran gar nicht zu bieten haben...“
„Außer vielleicht seinen Baudenkmälern, seiner Kathedrale, seinen Moscheen und ähnlichem,“ sagte Marcel Lornans.
„Ei,“ fiel Jean Taconnat ein, der seinem Zukunftsvater offenbar etwas nach dem Munde reden wollte, „ich möchte Herrn Dardentor wirklich Recht geben. Dieses Treiben ist doch höchst interessant, das Ein-und Auslaufen der Schiffe, die mit Waaren beladenen Lastwagen, die Unmenge arabischer Träger.... In der Stadt selbst giebt's gewiß recht sehenswerthe Gebäude, die wir ja auch besichtigen werden. Der Hafen aber, das Meer, das seine Becken füllt, das azurblaue Wasser mit dem Spiegelbild der vielen Masten...“
Marcel Lornans warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
„Bravo!“ rief Herr Dardentor. „Sehen Sie, wenn es einer Gegend an Wasser gebricht, dann fehlt ihr, meines Erachtens nach, ich weiß nicht was! Ich besitze einige vorzügliche Gemälde in meinem Hause am Logeplatze, doch auf allen spielt das Wasser die Hauptrolle. Sonst hätt' ich sie gar nicht gekauft.“
„O, Sie sind darin ja Kenner, Herr Dardentor,“ antwortete Marcel Lornans. „Wir wollen also Oertlichkeiten aufsuchen, wo sich Wasser vorfindet. Muß es etwa Süßwasser sein?
„Das gilt mir gleich; es handelt sich doch nicht darum, es zu trinken!“
„Und Du, Jean? »
„Mir ist es auch gleichgiltig... bezüglich dessen, wozu ich es brauchen könnte, erwiderte Jean Taconnat mit einem Blicke auf seinen Freund.“
„Gut also, fuhr Marcel Lornans fort, Wasser finden wir auch anderswo, als am Hafen; so giebt es nach Joanne auch noch den Bergbach Rehhi, der vom Boulevard Oudinot theilweise überdeckt ist.“
Was Marcel Lornans aber auch anführte, dieser Vormittag wurde doch auf den Kais des Hafens zugebracht, und erst als diese überall besucht waren, gingen Dardentor und die beiden Pariser zum zweiten Frühstück nach dem Hôtel zurück. Nach zweistündiger Siesta und nach Durchlesung der Zeitungen machte Clovis Dardentor seinen jungen Freunden den Vorschlag, den Spaziergang durch das Innere der Stadt auf den nächsten Tag zu verschieben.
„Und warum das?“ fragte Marcel Lornans.
„Weil die Désirandelle's es doch übel deuten könnten, wenn ich sie allein in der Patsche sitzen ließe!“
Da Patrice nicht dabei war, konnte Herr Dardentor die Worte getrost so brauchen, wie sie ihm gerade auf die Zunge kamen.
„Werden Sie denn bei Frau Elissane nicht zu Mittag essen?“ fragte Jean Taconnat.
„Ja... heute noch einmal. Von morgen ab mögen sie bis zum Abend sehen, wie sie allein fertig werden. Auf Wiedersehen also!“
Damit wendete sich Clovis Dardentor schnellen Schrittes der Alten Schloßstraße zu.
„Wenn ich nicht mehr an seiner Seite bin,“ versicherte Jean Taconnat, „fürchte ich immer, daß ihm ein Unglück zustoßen könne...“
„Du gute Seele!“ antwortete Marcel Lornans.
Es wäre eine unnütze Zeitvergeudung, hier eingehender zu schildern, mit welchem Vergnügen Herr Dardentor im Hause der Frau Elissane empfangen wurde und wie freundschaftlich Louise, die sich instinctiv zu dem trefflichen Manne hingezogen fühlte, ihm entgegenkam. Der junge Désirandelle war nicht da... er war niemals da, statt im Hause zu bleiben, zog es der Schwachkopf vor, draußen gedankenlos umherzulungern. Nur zum Essen pflegte er sich einzustellen. Obwohl er bei Tische rechts neben Louise Elissane saß, richtete er doch kein Wort an seine Nachbarin. Dardentor, der an ihrer andern Seite saß, war freilich nicht dazu geschaffen, die Unterhaltung einschlafen zu lassen. Er sprach von allerlei, von seinem Departement, seiner Heimatstadt, von der Fahrt an Bord des „Argeles“, von seinen Abenteuern in Palma, erzählte von der durchgegangenen Galera, von seiner großartigen Einfahrt in die Kirche der heiligen Eulalia, ebenso wie von seinen jungen Reisegefährten, die er nicht genug rühmen konnte... von den jungen zwanzigjährigen Freunden, die er zwar erst seit drei Tagen kannte, während er sein freundschaftliches Verhältniß zu ihnen gleich vom Tage ihrer Geburt an rechnete. Als Folge davon erwachte in Louise der Wunsch, die beiden jungen Pariser im Hause ihrer Mutter eingeführt zu sehen, und sie konnte auch ein leichtes Zeichen der Befriedigung nicht unterdrücken, als Dardentor mit einem solchen Vorschlage hervortrat.
„Ich werde sie Ihnen vorstellen, Frau Elissane,“ sagte er, „gleich morgen bring' ich sie mit her. „Vortreffliche junge Leute... reine Musterexemplare... und Sie werden es nicht bedauern, meine Freunde empfangen zu haben.“
Vielleicht fand Frau Désirandelle diesen Vorschlag des Herrn Dardentor mindestens etwas unzeitig. Frau Elissane mußte ihm aber doch wohl oder übel zustimmen. Sie konnte Herrn Dardentor einmal nichts abschlagen.
„Mir nichts abschlagen!“ rief dieser. „Gut, ich halte Sie beim Wort, geehrte Frau! Uebrigens verlange ich nur vernünftige Dinge, die mir und Andern so erscheinen, fragen Sie den Freund Désirandelle darüber.“
„Gewiß, gewiß!“ bestätigte, ohne besonders davon überzeugt zu sein, der Vater des Agathokles.
„Es ist also abgemacht,“ fuhr Herr Dardentor fort, „die Herren Marcel Lornans und Jean Taconnat werden den morgenden Abend bei Frau Elissane zubringen. Ah, Désirandelle, wären Sie bereit, morgen von neun Uhr an bis zu Mittag mit uns die Stadt zu besuchen?
„Sie werden mich entschuldigen, Dardentor, ich wünschte aber, die Damen nicht zu verlassen und unsrer lieben Louise Gesellschaft zu leisten...“
„Ganz nach Belieben... ich begreife das. O, Fräulein Louise, wie liebt man Sie schon in der vortrefflichen Familie, in die Sie eintreten sollen!... Nun, Agathokles, Du sagst gar nichts, mein Junge?... Sapperment, findest Du denn Fräulein Louise nicht ebenfalls reizend?“...
Agathokles hielt es für geistreich, zu antworten, daß, wenn er nicht laut sagte, was er dächte, er eben dächte, es wäre besser, das heimlich zu sagen... eine mühsam zusammengedrechselte Phrase die gar nichts bedeutete, und mit der er ohne Nachhilfe Dardentor's nicht einmal fertig geworden wäre.
Louise Elissane bemühte sich gar nicht, den Widerwillen zu verhehlen, den dieser Tropf ihr einflößte. Sie sah nur Herrn Dardentor mit ihren großen, schönen Augen an, während Frau Désirandelle, um ihren Sohn zu ermuthigen, sagte:
„Ist er nicht nett?“
Und Herr Désirandelle setzte noch hinzu:
„Und wie lieb er sie hat!“
Offenbar wehrte sich Herr Dardentor, klar zu sehen. Wenn die Heirat beschlossen war, so war sie, seiner Meinung nach, so gut wie vollzogen, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß die Sache anders ablaufen könnte.
Frisch, lustig, strahlend, zu allem aufgelegt wie immer traf Clovis Dardentor am folgenden Morgen bei der Chocolade mit den beiden Parisern zusammen.
Sofort theilte er ihnen mit, daß sie den heutigen Abend bei Frau Elissane verbringen sollten.
„Ein herrlicher Gedanke von Ihnen, uns dort einzuführen, jubelte Marcel Lornans. Während des Verweilens in der Garnison wird uns wenigstens ein angenehmes Haus offen stehen...“
„Ein angenehmes... sogar sehr angenehmes!“ erwiderte Clovis Dardentor. „Freilich... nach der Verehelichung des Fräuleins Louise...“
„Ja, das ist wahr,“ sagte Marcel Lornans, „da giebt's eine Hochzeit...“
„Zu der Sie natürlich eingeladen werden, meine jungen Freunde.“
„Herr Dardentor,“ meldete sich Jean Taconnat, „Sie überhäufen uns mit Freundlichkeiten. Ich weiß nicht, wie wir das einmal vergelten sollten. Sie behandeln uns...“
„Wie meine Kinder! Würde mein Alter mir denn nicht erlauben, Ihr Vater zu sein?“
„Ach Herr Dardentor, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat mit einer Stimme, die gar vieles verrieth.
Der ganze Tag wurde angewendet, die Stadt zu durchstreifen. Das Touristentrio besuchte deren vornehmste Promenaden, die mit schönen Blumen besetzte Turiner-Allee, den Boulevard Oudinot mit seiner Doppelreihe von Bella-ombra, den Carrière-, den Theaterplatz, sowie den von Orléans und Nemours.
Dabei fand sich Gelegenheit, die verschiedenen Typen der oranischen Bevölkerung kennen zu lernen, worunter sich viele Angehörige des Heeres befanden, von denen wieder eine Anzahl die Uniform der Siebenten Afrikanischen Jäger trug.
„Höchst elegant, diese Uniform,“ rief Clovis Dardentor wiederholt. „Die verzierte Joppe müßte Ihnen knapp wie ein Handschuh sitzen und Sie würden im Trabe avancieren! O, ich sehe Sie schon als glänzende Officiere, denen eine noch glänzendere Heirat bevorsteht! Wahrhaftig, es ist doch ein stolzer Beruf, der des Soldaten... wenn man eben Lust dazu verspürt... und das gilt doch von Ihnen.“
„Ja, das liegt so im Blute,“ erklärte Jean Taconnat. „Wir verdanken es unsern Vorfahren, braven Kaufleuten der Saint-Denisstraße, deren militärische Neigungen wir geerbt haben!“
Daneben begegnete man Juden in marokkanischer Tracht, Juden in seidnem goldgestickten Kaftan, ferner Mauren, die sorglos auf den sonnenbeschienenen Trottoirs einherwandelten, und endlich auch Franzosen und Französinnen.
Clovis Dardentor erklärte sich natürlich entzückt von allem, was er sah. Vielleicht wurde sein Interesse aber doch noch lebendiger, als die kleine Gesellschaft zufällig einzelne industrielle Anlagen, wie eine Gerberei, eine Fadennudelfabrik, eine Gießerei oder eine Tabakmanufactur zu Gesicht bekam.
In engeren Grenzen hielt sich seine Bewunderung dagegen angesichts der bedeutenderen städtischen Bauwerke, wie der 1839 umgebauten Kathedrale mit ihren drei Rundbogenschiffen, der Präfectur, der Bank und des Theaters. Letztere waren übrigens erst neueren Ursprungs.
Erhöhte Aufmerksamkeit schenkten die jungen Leute der Kirche des heiligen Andreas, einer ehemaligen viereckigen Moschee, deren Decke auf hufeisenförmigen maurischen Bögen ruht und die von einem schlanken Minaret überragt wird. Immerhin erschien ihnen diese Kirche minder merkwürdig, als die des Pascha, deren Vorhalle in Gestalt einer „Kubba“ von Kunstverständigen warm bewundert wird. Vielleicht hätten sie auch vor der Moschee Sidi-el-Hâuri mit ihren drei als Arcadengänge ausgebildeten Stockwerken längere Zeit verweilt, wenn Clovis Dardentor nicht zur Eile gemahnt hätte.
Beim Fortgehen bemerkte Marcel Lornans auf dem Austritt des Minarets eine Persönlichkeit, die mit dem Fernrohr den Horizont absuchte.
„Da... da... Herr Oriental!“ rief er.
„Wie... der Sternenjäger... der Planetenrecensent!“ platzte der Perpignaneser heraus.
„Er selbst... er äugt ins Weite...“
„Wenn er hinausängt, ist er es auch gar nicht!“ erklärte Jean Taconnat. „Von dem Moment an, wo er nicht ißt, ist es Herr Oriental nicht mehr!“
Dennoch war das der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar, der das Strahlengestirn in seinem Tageslaufe beobachtete.
Als sie endlich zum Mittagsmahl nach dem Hôtel zurückkehrten, empfanden die Herren Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat ein ausgesprochnes Bedürfniß nach Ruhe.
Patrice, der von dem ihm durch seinen Herrn gewährten Urlaub Gebrauch machte, war methodisch durch die Straßen hingewandert, wo er sich nicht für verpflichtet hielt, alles an einem Tage zu sehen und er sein Gedächtniß doch mit werthvollen Erinnerungen bereicherte.
So erlaubte er sich auch einen leisen Tadel gegen Herrn Dardentor, der in allem, was er vornahm, nicht die nöthige Mäßigung einhalte und Gefahr laufe, sich über die Gebühr zu ermüden. Er erhielt dafür zur Antwort, daß ein Eingeborner der Ostpyrenäen überhaupt keine Müdigkeit kenne, und daß er sich ruhig schlafen legen solle.
Das that denn Patrice auch gegen acht Uhr, nachdem er das Hôtelpersonal vorher durch seine wohlgesetzten Reden und seinen Manieren höchlichst ergötzt hatte.
In derselben Stunde fanden sich Herr Dardentor und die beiden Vettern in dem bewußten Hause der Alten Schloßstraße ein. Die Familien Elissane und Désirandelle verweilten hier im Salon. Von Clovis Dardentor vorgestellt, wurden Marcel Lornans und Jean Taconnat sehr liebenswürdig empfangen.
Die Abendgesellschaft verlief wie alle bürgerlichen Abendgesellschaften, man plauderte, schlürfte eine Tasse Thee und musicierte ein wenig. Louise Elissane spielte mit seinem Geschmack und wirklichem Kunstverständniß Piano, Marcel Lornans „welcher Zufall! besaß“, um das gebräuchliche Wort anzuwenden, gerade eine recht hübsche Stimme. So fügte es sich, daß der junge Mann und das junge Mädchen einige neuere Compositionen vortragen konnten.
Clovis Dardentor verehrte die Musik und widmete ihr eine so begeisterte unbewußte Aufmerksamkeit wie viele andre Leute, die nur wenig davon verstehen. Diesen genügt es, daß die Töne zu einem Ohre ein- und durch das andre austreten, ohne daß ihr Gemüth einen Eindruck davon empfängt. Nichtsdestoweniger unterließ es unser Perpignaneser nicht, seine Lobsprüche auszutheilen, zu applaudieren und mit südländischer Begeisterung „Bravo“ und „Bravissimo“ zu rufen.
„Zwei Talente, die sich einander vermählen!“ sagte er schließlich.
Die junge Pianistin lächelte dazu, der junge Sänger sah etwas verlegen aus, und Herr und Frau Désirandelle runzelten die Stirne. Ihr Freund war in der That nicht glücklich in der Wahl seiner Ausdrücke, und seine letzten Worte, die gewiß auch Patrice's Beifall gefunden hätten, begegneten hier getheilter Aufnahme.
An Agathokles freilich konnte man sich mit nichts „vermählen“, weder mit Talent, noch mit Geist oder seiner Persönlichkeit, „an ihm, dachte Jean Taconnat, war nicht einmal genug für eine Convenienzheirat.“
Das Gespräch kam dann gelegentlich auch auf den Spaziergang, den Herr Dardentor und die beiden Pariser durch die Stadt gemacht hatten. Die recht gut unterrichtete Louise Elissane beantwortete ohne Ziererei einige Fragen, die ihr gestellt wurden, und gab Aufschluß über die Festsetzung der Araber hier seit drei Jahrhunderten, über die Einnahme Orans durch die Franzosen vor einigen sechzig Jahren, und über den Handel von Oran, der diesem die erste Rangstellung unter den algerischen Städten sicherte.
„Unsre Stadt,“ fügte das junge Mädchen hinzu, „ist aber nicht immer vom Glück begünstigt gewesen und ihre Geschichte ist reich an trüben Erinnerungen. Den Angriffen der Muselmanen folgten schwere Naturereignisse. So war sie durch das Erdbeben von 1790 fast gänzlich zerstört worden...“
Jean Taconnat spitzte das Ohr.
„Und,“ fuhr das junge Mädchen fort, „nach den Bränden, die dieses unglückselige Ereigniß im Gefolge hatte, kamen die Türken und Araber und setzten sich in Besitz der Stadt. Ruhe hat sie eigentlich erst seit der französischen Herrschaft.“
Jean Taconnat aber dachte dabei:
„Erdbeben... Feuersbrünste... feindliche Angriffe! O weh, ich komme hundert Jahre zu spät!... Werden Erdstöße auch jetzt noch dann und wann beobachtet, mein Fräulein?“ fragte er.
„Nein, das nicht, Herr Taconnat,“ antwortete gleich Frau Elissane.
„Das ist schade!“
„Was?... Schade?“ rief Herr Désirandelle. „Sie brauchen wohl Erdbeben und derartige schreckliche Ereignisse sehr nöthig, junger Herr?“
„Schweigen wir davon,“ fiel Frau Désirandelle ein, „ich könnte sonst wieder seekrank werden. Wir sind auf festem Lande, und es ist übrig genug, daß die Schiffe schwanken, ohne daß die Städte das nachmachen!“
Marcel Lornans konnte sich nicht enthalten, über diese Bemerkung der guten Frau zu lächeln.
„Ich bedaure es, derartige Erinnrungen wach gerufen zu haben,“ mischte sich Louise Elissane ein, „da Frau Désirandelle gar so empfindlich ist...“
„O, liebes Kind,“ antwortete Herr Désirandelle, „machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe!“
„Wenn es wirklich zu einem Erdbeben käme,“ erklärte Herr Dardentor, „so würde ich schon mit ihm fertig zu werden wissen! Den einen Fuß hier- und den andern dorthin, wie der selige Koloß von Rhodus, da sollte sich wohl noch etwas rühren können!“
Mit gespreizten Beinen hintretend, machte der Perpignaneser den Fußboden unter seinen Stiefeln krachen, bereit, gegen jede Erschütterung des afrikanischen Bodens anzukämpfen. Und aus seinem weit offnen Munde tönte ein so lautes Lachen, daß er mit seiner Heiterkeit auch die Andern ansteckte.
Als die Stunde des Abschieds gekommen war, ging die Gesellschaft auseinander, nachdem mit den beiden Familien ein Zusammentreffen zum Besuche der Kasbah verabredet worden war.
In Gedanken versunken, sagte sich Marcel Lornans aber auf dem Rückwege zum Hôtel, daß der Dienst bei den Siebenten Jägern denn doch nicht als das Ideal des irdischen Glücks zu betrachten sei.
Am nächsten Vormittage durchstreiften die Familien Elissane und Désirandelle, Herr Dardentor und die beiden Pariser die winkligen Gänge der alten oranischen Kasbah, jetzt einer gewöhnlichen Kaserne, die mit zwei Thoren der Stadt in Verbindung steht. Dann wurde der Spaziergang bis zum Negerdorfe der Djalis ausgedehnt, das mit Recht als eine der Merkwürdigkeiten Orans gilt. Bei diesem Ausfluge wollte es der Zufall, o, nur der Zufall, daß sich Louise Elissane zum großen Mißvergnügen der Frau Désirandelle sehr lebhaft mit Marcel Lornans unterhielt.
Am Abend war „die ganze Compagnie“ von Clovis Dardentor zum Essen eingeladen. Da gab es eine vorzügliche Mahlzeit, deren Zurichtung der in solchen Dingen erfahrne Patrice ganz besonders überwacht hatte. Frau Elissane gefiel dem Gentleman in Livree am meisten, da er in ihr eine Dame von vornehmem Auftreten erkannte.
Mehrere Tage gingen so hin, ohne daß das gegenseitige Verhältniß der Gäste im Hause der Alten Schloßstraße eine Aenderung erfuhr.
Wiederholt nahm Frau Elissane ihre Tochter wegen der Angelegenheit mit Agathokles ins Gebet. Als zielbewußte Frau stellte sie ihr die Vortheile, die aus einer Verbindung der beiden Familien entspringen mußten, vor Augen. Louise vermied es, auf das Zureden ihrer Mutter zu antworten, die selbst wieder nichts zu antworten wußte, wenn Frau Désirandelle die Heiratsangelegenheit zur Sprache brachte.
Daß diese keine Fortschritte machte, war ihr Fehler gewiß nicht, denn sie bemühte sich nach Kräften, ihren Sohn anzuspornen.
„Betreibe die Sache doch besser!“ mahnte sie ihn täglich wohl zehnmal. „Wir sorgen ja dafür, daß Ihr, Du und Louise, gelegentlich allein seid; ich bin aber überzeugt, daß Du dann dastehst und starrst durchs Fenster, statt einmal ein Compliment zu machen...“
„Doch... doch...“
„Ach was, Du drehst die Zunge im Munde hin und her, sprichst aber keine zehn Worte in zehn Minuten...“
„Zehn Minuten... das ist lange!“
„Bedenke doch Deine Zukunft, mein Sohn!“ fuhr die trostlose Mutter fort, indem sie ihn am Aermel seines Jackets zupfte. „Das ist doch eine Heirat, die sich ganz von allein machen sollte, da die beiden Familien darüber einig sind, und jetzt ist die Sache noch nicht halb geklärt...“
„O doch, da ich meine Zustimmung gegeben habe,“ antwortete Agathokles höchst naiv.
„Nein, weil Louise die ihrige noch nicht gegeben hat!“ entgegnete Frau Désirandelle.
Thatsächlich kam die Angelegenheit keinen Schritt vorwärts, und auch wenn sich Herr Dardentor einmischte, konnte er doch keinen Funken aus diesem Jungen locken.
„Ein eingeweichter Kiesel, statt eines Feuersteins, der sofort Funken sprüht, dachte er. Und doch, es genügte eine Gelegenheit... Freilich in diesem friedlichen Hause...“
Kurz, man drehte sich hier auf derselben Stelle. Zum Angriff schreitet man aber nur durch Vorwärtsgehen. Außerdem begannen die täglichen Zerstreuungen sich zu erschöpfen. Die Stadt hatte man bis zu den entlegensten Vororten besucht. Jetzt kannte sie Herr Dardentor ebenso genau, wie der gelehrte Vorsitzende der Geographischen Gesellschaft von Oran, die die bedeutendste in ganz Algerien ist. Doch ebenso wie die Désirandelle's verzweifelten, verzweifelte auch Jean Taconnat in dieser wohlgegründeten Stadt, deren Untergrund sich einer unerschütterlichen Ruhe erfreute, bei der „nichts zu machen“ war.
Zum Glück kam Clovis Dardentor auf eine Idee, eine Idee, wie man sich ihrer nur von einem solchen Manne versehen konnte.
Die Algerische Eisenbahngesellschaft hatte zu ermäßigten Preisen eine Rundreise durch den Süden der Provinz Oran angekündigt. Das mußte auch den schlimmsten Stubenhocker anlocken. Die Reise ging auf einer Linie hin und auf einer andern zurück. Zwischen beiden lag eine hundert Lieues lange Tour durch herrliche Landschaften. Die ganze Sache war in vierzehn Tagen abzumachen.
Auf den bunten Placaten der Gesellschaft sah man eine Karte des betreffenden Landestheils, den eine starke rothe Zickzacklinie durchzog. Mit der Eisenbahn sollte man nach Tlelat, nach Saint-Denis du Sig, von da nach Perregaux und Mascara und bis zum Endpunkte in Saïda fahren. Von hier aus besuchte man zu Wagen oder Karawane Daya, Magenta, Sebdou, Tlemcen, Lamoricière und Sidi-bel-Abbès und kehrte von letztgenanntem Orte aus auf dem Schienenwege nach Oran zurück.
Für diese Reise schwärmte Clovis Dardentor sofort mit der Leidenschaftlichkeit, die die unbedeutendsten Handlungen des außergewöhnlichen Mannes kennzeichnete. Er fand auch keine Schwierigkeiten, die Zustimmung der Désirandelle's zu diesem Plane zu erlangen. Die Zufälligkeiten der Reise, das gemeinschaftliche Leben und die kleinen Dienste, die man sich da gegenseitig erweisen konnte, mußten Agathokles doch vielfache Gelegenheit bieten, sich bei der reizenden Louise beliebt zu machen.
Frau Elissane ließ sich freilich erst etwas bitten. Die Ortsveränderung erschreckte sie aus dem und jenem Grunde. Versuche aber nur Einer, dem Herrn Dardentor zu widerstehen! Die vortreffliche Dame hatte ja gesagt, daß sie ihm nichts abschlagen könne, und jetzt erinnerte er sie an ihre Worte. Seine angeführten Gründe gaben endlich den Ausschlag. Bei dieser Vergnügungsreise werde sich Agathokles gewiß in ganz neuem Lichte zeigen, Fräulein Louise ihn aber nach Verdienst schätzen lernen und nach der Rückkehr würde die Heirat beschlossen.
„Doch werden die Herren Lornans und Taconnat auch an der Fahrt theilnehmen?“ fragte die vorsichtige Frau Elissane.
„Nein, leider nicht! In einigen Tagen gedenken sie in Dienst zu treten, und das würde sie zu lange aufhalten.“
Frau Elissane schien befriedigt zu sein.
Nach der Zustimmung der Mutter galt es aber auch noch die des jungen Mädchens einzuholen.
Hier hatte Herr Dardentor schwerere Arbeit. Sie widersetzte sich dieser Reise sichtlich, während der sie in fortwährender Berührung mit der Familie Désirandelle bleiben mußte. In Oran war Agathokles wenigstens häufig außer dem Hause und wurde meist nur zur Essenszeit sichtbar „die einzige Zeit, wo er den Mund wirklich aufthat, doch auch da nicht zum Plaudern. Im Waggon, im Wagen, in der Karawane würde er immer in der Nähe sein. Diese Aussicht konnte Louise Elissane nicht reizen. Der junge Mann mißfiel ihr einmal, und es wäre vielleicht das klügste gewesen, ihrer Mutter rund heraus zu erklären, daß sie ihn nie heiraten würde. Sie kannte aber diese entschlossne, zähe Frau, die nicht geneigt war, auf ihre Projecte zu verzichten. Im Grunde schien es auch wirklich besser, daß die gute Dame selbst das Unpassende dieser geplanten Ehe einsah.
Herr Dardentor entwickelte eine unwiderstehliche Beredtsamkeit. Er war in dem gutem Glauben, daß diese Reise dem Erben der Désirandelle's Gelegenheit geben werde, sich vortheilhafter zu zeigen, und er hoffte, daß der Wunsch seiner alten Freunde doch schließlich in Erfüllung ginge. Es wäre ein großer Kummer für sie, wenn die Sache scheiterte. Obgleich das dem jungen Mädchen gewiß keine Schmerzen machte, erhielt er zuletzt doch die Zusage, daß sie sich mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigen werde.
„Sie werden mir's später danken,“ wiederholte er... „ja, Sie werden mir's schon noch danken!“
Patrice, der nun von dem Vorhaben unterrichtet wurde, verhehlte seinem Herrn gar nicht, daß diese Reise nicht seinen vollen Beifall habe. Er machte Einwendungen... da würden jedenfalls auch andre Touristen dabei sein... man wisse doch nicht wer... und... so mit andern zusammenzuleben... so ein Mischmasch...
Sein Herr erklärte ihm dagegen nur, er habe sich bereit zu halten, daß am Abend des 10. Mai, also binnen achtundvierzig Stunden, die Reisetaschen gepackt seien.
Als Herr Dardentor den beiden jungen Leuten den Entschluß der Familien Elissane und Désirandelle, sowie seinen eignen, mittheilte, beeilte er sich, ihnen sein Bedauern, sein lebhaftes, aufrichtiges Bedauern auszudrücken, daß sie ihn nicht begleiten könnten. Das wäre erst das volle Vergnügen gewesen, mit ihnen vereint zu „karawanen“ , so drückte er sich aus „und einige Wochen durch die Provinz Oran zu pilgern!“
Marcel Lornans und Jean Taconnat gaben ihr ebenso aufrichtiges wie nicht minder lebhaftes Bedauern kund. Nachdem sie jetzt aber schon zehn Tage lang in Oran weilten, konnten sie nicht länger zögern, ihre Stellung hier zu sichern.
Am nächsten Abend freilich, am Vorabend der geplanten Reise und nach Verabschiedung von Herrn Dardentor, wechselten die beiden Vettern folgende Fragen und Antworten:
„Sag' einmal, Jean...“
„Was willst Du, Marcel?“
„Sollte denn eine Verzögerung von zwei Wochen...“
„Länger als vierzehn Tage dauern?... Nein, Marcel, ich glaube das wenigstens nicht... auch nicht in Algerien!“
„Wenn wir nun mit Herrn Dardentor reisten...“
„Reisen, Marcel?... Den Vorschlag machst Du mir... Du, der mir nicht einmal für mein Rettungswerk vierzehn Tage bewilligen wollte?“
„Ja, Jean... weil hier... in Oran... die Stadt ist so friedlich... da könntest Du keinen Erfolg erzielen. Auf so einer Rundreise aber... wer weiß... da kann irgend etwas vorkommen...“
„He, Marcel, es wäre ja möglich. Feuer... Wasser... vorzüglich ein Kampf... Und auf diese Idee bist Du nur verfallen, um mir keine Gelegenheit entschlüpfen zu lassen?...“
„Einzig deshalb! versicherte Marcel Lornans.“
„Spaßvogel Du!“ antwortete Jean Taconnat.
Uebrigens war es gewiß, daß Clovis Dardentor Oran nicht verlassen würde, ehe nicht die Vermählung Agathokles Désirandelle's und Louise Elissane's gefeiert war. Er mußte dem Sohne seiner alten Freunde doch als Trauzeuge dienen. Vier bis fünf Wochen mochten aber wenigstens hingehen, bevor es zu dieser Hochzeitsfeier kam... wenn es überhaupt dazu kam. Würde sie aber wirklich stattfinden?...
Diese „Wenn“ und „Aber“ hüpften im Gehirn Marcel Lornans' hin und her. Es schien ihm ganz undenkbar, daß jener Bursche der Gatte dieses reizenden jungen Mädchens werden sollte, denn so wenig er sie auf dem Verdeck des „Argeles“ auch gesehen hatte, hätte er es doch als eine Pflichtvergessenheit empfunden, sie nicht zu verehren und zu bewundern. Daß Herr und Frau Désirandelle in ihrem Agathokles einen für Louise ganz passenden Ehegemahl erblickten, war ja am Ende erklärlich.
Von jeher sind Eltern bezüglich ihrer Kinder ja stets mit ziemlich starker Blindheit geschlagen. Es war aber ganz ausgeschlossen, daß der Perpignaneser sich nicht früher oder später von der völligen Bedeutungslosigkeit des Agathokles Rechenschaft geben und nicht erkennen sollte, daß zwei so verschiedne Wesen nicht für einander geschaffen seien.
Um halb neun Uhr früh trafen sich Herr Dardentor und die Pariser im Speisesaale des Hôtels beim ersten Frühstück.
Clovis Dardentor war in rosigster Laune. Er hatte gestern Abend gut gegessen und die Nacht über gut geschlafen. Wer aber mit einem vortrefflichen Magen, einem ausgezeichneten Schlaf und einem guten Gewissen dem nächsten Tage nicht freudig entgegensehen kann, der wird das niemals können.
„Meine jungen Freunde,“ begann Herr Dardentor, während er sein Weißbrödchen in eine Tasse ausgezeichneter Chocolade tauchte, „wir haben uns seit gestern Abend nicht gesehen, und diese Zeit der Trennung ist mir recht lang vorgekommen.“
„Sie sind uns aber im Traum erschienen, Herr Dardentor,“ antwortete Jean Taconnat, mit einem Strahlenscheine um den Kopf...“
„Als Heiliger, nicht wahr?“
„Nun, so wie ein Schutzpatron der Ostpyrenäen!“
„Ah, Herr Jean, Sie haben also die alte Fröhlichkeit wieder geangelt?“
„Geangelt... wie Sie sagen,“ bestätigte Marcel Lornans, „er ist nur der Gefahr ausgesetzt, sie sich wieder entwischen zu lassen.“
„Ei, weshalb denn?“
„Weil wir uns doch wieder trennen müssen, Herr Dardentor, und Sie nach der einen, wir nach der andern Seite gehen müssen.“
„Wie?... Uns trennen?...“
„Nun freilich... da die Familie Désirandelle auf Ihre Person Beschlag legen wird.“
„Ach, Papperlapapp, das giebt's nicht! Ich leide es nicht, daß jemand mich in Fesseln und Bande schlägt. Daß ich es von Zeit zu Zeit annehme, bei Frau Elissane einen Teller Suppe mit zu essen... das mag sein. Den Vormittag und den Nachmittag behalte ich mir aber vor und hoffe, daß wir sie dazu verwenden, durch die Stadt zu spazieren... zusammen, durch die Stadt und ihre Nachbarschaft...“
„Ah, das ist schön, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat. „Ich möchte niemals von Ihrer Seite weichen!“
„Keinen Fuß breit und keine Woche lang!“ erwiderte unser Perpignaneser wärmer werdend. Ich liebe einmal die Jugend und komme mir nur halb so alt vor, wenn ich mit Freunden zusammen bin, die um die Hälfte jünger sind als ich!... Und doch... recht überlegt... könnt' ich bequem Ihr Vater sein...“
„O, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat, der diesen Herzensaufschrei nicht zurückhalten konnte.
„Wir bleiben also vereinigt, meine jungen Herren! Es wird Zeit genug sein, von einander zu lassen, wenn ich von Oran scheide, um... ja, meiner Treu, ich weiß nicht, wohin zu gehen.“
„Nach der Verheiratung?...“
„Welcher Verheiratung?“
„Der des jungen Désirandelle.“
„Ah, richtig. Daran dacht' ich schon gar nicht mehr.... Hm, 's ist doch ein sehr hübsches Mädchen, das Fräulein Elissane!“
„Das haben wir auch sofort entdeckt, als sie an Bord des „Argeles“ kam,“ bestätigte Marcel Lornans.
„Ja, ich nicht weniger. Seit ich aber bei ihrer Mutter gesehen habe, wie sie so graziös, so aufmerksam, so... nun ja, so... kurz, da hat sie bei mir noch um hundert Procent gewonnen! Wahrlich, dieser Guckindiewelt Agathokles wird nicht zu beklagen sein...“
„Wenn er Fräulein Elissane gefällt,“ glaubte Marcel Lornans einwerfen zu sollen.
„Natürlich... er wird aber gefallen, der Bursche! Beide kennen sich ja seit ihrer Geburt...“
„Und sogar seit noch früher!“ sagte Jean Taconnat.
„Agathokles ist eine gutmüthige Natur... freilich, vielleicht ein wenig... ein wenig...“
„Ein wenig... viel...“ sagte Marcel Lornans.
„Und eigentlich doch gar nicht...“ fiel Jean Taconnat ein.
Für sich aber murmelte er weiter:
„Doch gar nicht das, was Fräulein Elissane verlangen kann!“
Jedenfalls glaubte er die Stunde aber noch nicht gekommen, diese Ansicht vor Herrn Dardentor auszusprechen, der in seinem Satze fortfuhr:
„Ja... er ist ein wenig... ich geb' es zu... Doch, mag sein... er wird schon gelenkiger werden... wie ein Murmelthier nach dem Winterschlaf...“
„Und wird doch ewig ein Murmelthier bleiben! konnte Marcel Lornans zu sagen nicht unterdrücken.“
„Nachsichtig, meine jungen Herren, nachsichtig!“ mahnte Herr Dardentor. „Wenn Agathokles nur mit Parisern, wie mit Ihnen, verkehrte, würde er sich vor Ablauf von zwei Monaten gehäutet haben. Sie sollten ihm Unterricht geben.“
„Unterricht, um geistvoller zu werden... zu hundert Sold die Stunde!“ rief Jean Taconnat. „Das hieße: ihm sein Geld stehlen!“
Herr Dardentor wollte sich noch nicht ergeben. Daß der junge Désirandelle schneidig war wie eine bleierne Klinge, das sagte er sich wohl selbst.
„Lachen Sie, lachen Sie nur, meine Herren! fuhr er fort. Sie vergessen, daß die Liebe den Dümmsten giebt, was sie den Schlausten an Geist raubt, und sonach wird sie reichlichst beschenken den jungen...“
„Gagathokles!“ vollendete Jean Taconnat den Satz.
Herr Dardentor mußte über die Verdrehung laut auflachen.
Marcel Lornans brachte das Gespräch jetzt auf Frau Elissane. Er erkundigte sich nach der Lebensweise, die sie in Oran führe... wie Herr Dardentor ihr Haus gefunden habe...
„O, eine sehr nette Wohnstätte,“ antwortete dieser, „ein niedlicher Käfig, der durch die Anwesenheit eines reizenden Vogels belebt wird. Sie werden dahin kommen...“
„Wenn das nicht indiscret erscheint,“ bemerkte Marcel Lornans.
„Ich führe Sie ein, da macht sich das schon von selbst. Uebrigens nicht gleich heute... Agathokles muß erst festen Fuß fassen können. Wir werden morgen einmal sehen.... Jetzt lassen Sie uns an die spätern Spaziergänge denken. Die Stadt... ihr Hafen... ihre Bauwerke...“
„Und unser Dienstvertrag?“ wendete Marcel Lornans ein.
„Den brauchen Sie heute noch nicht zu unterschreiben... morgen auch nicht... übermorgen auch noch nicht! Warten Sie wenigstens bis nach der Hochzeit...“
„Da müßten wir vielleicht bis zu dem Alter warten, wo man uns entlassen muß...“
„Nein, nein! Das wird sich nicht verschleppen!“
Welcher Schwall von Ausdrücken, die alle die Feinfühligkeit Patrice's schwer verletzt hätten.
„Jetzt sei also,“ nahm Herr Dardentor wieder das Wort, „nicht mehr vom Eintreten in den Dienst die Rede...“
„Beruhigen Sie sich,“ versicherte Jean Taconnat. „Wir haben uns einen vierzehntägigen Urlaub geleistet. Haben sich unsre Verhältnisse bis dahin nicht geändert, sind nicht neue Interessen...“
„Schön, liebe Freunde... jetzt keine Auseinandersetzungen!“ rief Clovis Dardentor. „Sie haben sich vierzehn Tage vorbehalten... ich nehme sie und gebe Ihnen Quittung darüber! Während dieser Zeit gehören Sie mir. Wahrlich, ich habe mich auf dem „Argeles“ doch nur eingeschifft, weil ich wußte, daß ich Sie auf dem Schiffe treffen würde...“
„Und doch hatten Sie die Abfahrt versäumt, Herr Dardentor!“ gab ihm Jean Taconnat anzuhören.
In der besten Laune der Welt stand unser Perpignaneser vom Tische auf und trat in die Vorhalle hinaus.
Hier wartete Patrice.
„Hat der Herr mir noch Befehle zu ertheilen?“
„Befehle?... Nein, doch, Dir „Campo“ für den ganzen Tag. Schreib' Dir das hinter die Ohren und lösch' es vor zehn Uhr nicht aus!“
Patrice verzog den Mund, denn er dankte seinem Herrn nicht im mindesten für einen Urlaub, der in solchen Ausdrücken ertheilt wurde.
„Der Herr wünscht also nicht, daß ich ihn begleite?“
„Ich wünsche weiter nichts, Patrice, als Dich nicht länger auf den Fersen zu haben, und bitte Dich, mir die Deinigen zuzukehren!“
„Der Herr gestattet mir wohl noch eine Empfehlung...“
„Nun ja, wenn Du gleich darauf verschwindest.“
„Nun, die Empfehlung, deren der Herr eingedenk sein mag, geht dahin, keinen Wagen zu besteigen, ehe der Kutscher nicht auf seinem Platze ist. Das dürfte nicht immer mit einem Segensspruch enden, sondern gelegentlich mit einem Kopfsturz...“
„Nun aber zum Teufel mit Dir!“
Clovis Dardentor ging zwischen den beiden Parisern die Freitreppe vor dem Hôtel hinunter.
„Wahrlich, ein seltenes Muster von Diener, das Sie haben,“ bemerkte Marcel „Lornans, correct und vornehm im höchsten Grade.“
„Doch auch ein Quälgeist erster Sorte! Im übrigen ist er ein prächtiger Kerl, der durchs Feuer ginge, um mich zu retten...“
„Damit wäre er nicht der Einzige, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat, der eintretenden Falls gewiß versucht hätte, Patrice aus seiner Rolle als Lebensretter zu verdrängen.
Im Laufe dieses Morgens lustwandelten Clovis Dardentor und die beiden Vettern längs der Kais in der untern Stadt hin. Der Hafen von Oran ist dem Meere erst abgerungen worden. Ein langer Molo beschützt ihn und quer verlaufende Dämme theilen ihn in einzelne Becken, die zusammen eine Oberfläche von vierundzwanzig Hektar haben.
Wenn die beiden jungen Leute dem lebhaften Handelstreiben, das Oran unter den algerischen Städten den ersten Rang gesichert hat, keinen besondern Geschmack abgewinnen konnten, so zeigte der frühere Industrielle von Perpignan dafür doch das größte Interesse. Das Verladen der Alfa, die einen bedeutenden Ausfuhrartikel bildet und von ausgedehnten Gebieten des Südens der Provinz in großer Menge geliefert wird, die Verschiffung der Thiere, des Getreides und Rohzuckers, die Verfrachtung der in der Berggegend gewonnenen Mineralien „das war so etwas für Herrn Dardentor.
„Das weiß ich,“ sagte er, „in dem Leben und Treiben hier werd' ich noch manchen Tag verbringen. Hier ist's mir, als befände ich mich noch in meinen mit Fässern angefüllten Schuppen. Etwas Merkwürdigeres kann Oran gar nicht zu bieten haben...“
„Außer vielleicht seinen Baudenkmälern, seiner Kathedrale, seinen Moscheen und ähnlichem,“ sagte Marcel Lornans.
„Ei,“ fiel Jean Taconnat ein, der seinem Zukunftsvater offenbar etwas nach dem Munde reden wollte, „ich möchte Herrn Dardentor wirklich Recht geben. Dieses Treiben ist doch höchst interessant, das Ein-und Auslaufen der Schiffe, die mit Waaren beladenen Lastwagen, die Unmenge arabischer Träger.... In der Stadt selbst giebt's gewiß recht sehenswerthe Gebäude, die wir ja auch besichtigen werden. Der Hafen aber, das Meer, das seine Becken füllt, das azurblaue Wasser mit dem Spiegelbild der vielen Masten...“
Marcel Lornans warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
„Bravo!“ rief Herr Dardentor. „Sehen Sie, wenn es einer Gegend an Wasser gebricht, dann fehlt ihr, meines Erachtens nach, ich weiß nicht was! Ich besitze einige vorzügliche Gemälde in meinem Hause am Logeplatze, doch auf allen spielt das Wasser die Hauptrolle. Sonst hätt' ich sie gar nicht gekauft.“
„O, Sie sind darin ja Kenner, Herr Dardentor,“ antwortete Marcel Lornans. „Wir wollen also Oertlichkeiten aufsuchen, wo sich Wasser vorfindet. Muß es etwa Süßwasser sein?
„Das gilt mir gleich; es handelt sich doch nicht darum, es zu trinken!“
„Und Du, Jean? »
„Mir ist es auch gleichgiltig... bezüglich dessen, wozu ich es brauchen könnte, erwiderte Jean Taconnat mit einem Blicke auf seinen Freund.“
„Gut also, fuhr Marcel Lornans fort, Wasser finden wir auch anderswo, als am Hafen; so giebt es nach Joanne auch noch den Bergbach Rehhi, der vom Boulevard Oudinot theilweise überdeckt ist.“
Was Marcel Lornans aber auch anführte, dieser Vormittag wurde doch auf den Kais des Hafens zugebracht, und erst als diese überall besucht waren, gingen Dardentor und die beiden Pariser zum zweiten Frühstück nach dem Hôtel zurück. Nach zweistündiger Siesta und nach Durchlesung der Zeitungen machte Clovis Dardentor seinen jungen Freunden den Vorschlag, den Spaziergang durch das Innere der Stadt auf den nächsten Tag zu verschieben.
„Und warum das?“ fragte Marcel Lornans.
„Weil die Désirandelle's es doch übel deuten könnten, wenn ich sie allein in der Patsche sitzen ließe!“
Da Patrice nicht dabei war, konnte Herr Dardentor die Worte getrost so brauchen, wie sie ihm gerade auf die Zunge kamen.
„Werden Sie denn bei Frau Elissane nicht zu Mittag essen?“ fragte Jean Taconnat.
„Ja... heute noch einmal. Von morgen ab mögen sie bis zum Abend sehen, wie sie allein fertig werden. Auf Wiedersehen also!“
Damit wendete sich Clovis Dardentor schnellen Schrittes der Alten Schloßstraße zu.
„Wenn ich nicht mehr an seiner Seite bin,“ versicherte Jean Taconnat, „fürchte ich immer, daß ihm ein Unglück zustoßen könne...“
„Du gute Seele!“ antwortete Marcel Lornans.
Es wäre eine unnütze Zeitvergeudung, hier eingehender zu schildern, mit welchem Vergnügen Herr Dardentor im Hause der Frau Elissane empfangen wurde und wie freundschaftlich Louise, die sich instinctiv zu dem trefflichen Manne hingezogen fühlte, ihm entgegenkam. Der junge Désirandelle war nicht da... er war niemals da, statt im Hause zu bleiben, zog es der Schwachkopf vor, draußen gedankenlos umherzulungern. Nur zum Essen pflegte er sich einzustellen. Obwohl er bei Tische rechts neben Louise Elissane saß, richtete er doch kein Wort an seine Nachbarin. Dardentor, der an ihrer andern Seite saß, war freilich nicht dazu geschaffen, die Unterhaltung einschlafen zu lassen. Er sprach von allerlei, von seinem Departement, seiner Heimatstadt, von der Fahrt an Bord des „Argeles“, von seinen Abenteuern in Palma, erzählte von der durchgegangenen Galera, von seiner großartigen Einfahrt in die Kirche der heiligen Eulalia, ebenso wie von seinen jungen Reisegefährten, die er nicht genug rühmen konnte... von den jungen zwanzigjährigen Freunden, die er zwar erst seit drei Tagen kannte, während er sein freundschaftliches Verhältniß zu ihnen gleich vom Tage ihrer Geburt an rechnete. Als Folge davon erwachte in Louise der Wunsch, die beiden jungen Pariser im Hause ihrer Mutter eingeführt zu sehen, und sie konnte auch ein leichtes Zeichen der Befriedigung nicht unterdrücken, als Dardentor mit einem solchen Vorschlage hervortrat.
„Ich werde sie Ihnen vorstellen, Frau Elissane,“ sagte er, „gleich morgen bring' ich sie mit her. „Vortreffliche junge Leute... reine Musterexemplare... und Sie werden es nicht bedauern, meine Freunde empfangen zu haben.“
Vielleicht fand Frau Désirandelle diesen Vorschlag des Herrn Dardentor mindestens etwas unzeitig. Frau Elissane mußte ihm aber doch wohl oder übel zustimmen. Sie konnte Herrn Dardentor einmal nichts abschlagen.
„Mir nichts abschlagen!“ rief dieser. „Gut, ich halte Sie beim Wort, geehrte Frau! Uebrigens verlange ich nur vernünftige Dinge, die mir und Andern so erscheinen, fragen Sie den Freund Désirandelle darüber.“
„Gewiß, gewiß!“ bestätigte, ohne besonders davon überzeugt zu sein, der Vater des Agathokles.
„Es ist also abgemacht,“ fuhr Herr Dardentor fort, „die Herren Marcel Lornans und Jean Taconnat werden den morgenden Abend bei Frau Elissane zubringen. Ah, Désirandelle, wären Sie bereit, morgen von neun Uhr an bis zu Mittag mit uns die Stadt zu besuchen?
„Sie werden mich entschuldigen, Dardentor, ich wünschte aber, die Damen nicht zu verlassen und unsrer lieben Louise Gesellschaft zu leisten...“
„Ganz nach Belieben... ich begreife das. O, Fräulein Louise, wie liebt man Sie schon in der vortrefflichen Familie, in die Sie eintreten sollen!... Nun, Agathokles, Du sagst gar nichts, mein Junge?... Sapperment, findest Du denn Fräulein Louise nicht ebenfalls reizend?“...
Agathokles hielt es für geistreich, zu antworten, daß, wenn er nicht laut sagte, was er dächte, er eben dächte, es wäre besser, das heimlich zu sagen... eine mühsam zusammengedrechselte Phrase die gar nichts bedeutete, und mit der er ohne Nachhilfe Dardentor's nicht einmal fertig geworden wäre.
Louise Elissane bemühte sich gar nicht, den Widerwillen zu verhehlen, den dieser Tropf ihr einflößte. Sie sah nur Herrn Dardentor mit ihren großen, schönen Augen an, während Frau Désirandelle, um ihren Sohn zu ermuthigen, sagte:
„Ist er nicht nett?“
Und Herr Désirandelle setzte noch hinzu:
„Und wie lieb er sie hat!“
Offenbar wehrte sich Herr Dardentor, klar zu sehen. Wenn die Heirat beschlossen war, so war sie, seiner Meinung nach, so gut wie vollzogen, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß die Sache anders ablaufen könnte.
Frisch, lustig, strahlend, zu allem aufgelegt wie immer traf Clovis Dardentor am folgenden Morgen bei der Chocolade mit den beiden Parisern zusammen.
Sofort theilte er ihnen mit, daß sie den heutigen Abend bei Frau Elissane verbringen sollten.
„Ein herrlicher Gedanke von Ihnen, uns dort einzuführen, jubelte Marcel Lornans. Während des Verweilens in der Garnison wird uns wenigstens ein angenehmes Haus offen stehen...“
„Ein angenehmes... sogar sehr angenehmes!“ erwiderte Clovis Dardentor. „Freilich... nach der Verehelichung des Fräuleins Louise...“
„Ja, das ist wahr,“ sagte Marcel Lornans, „da giebt's eine Hochzeit...“
„Zu der Sie natürlich eingeladen werden, meine jungen Freunde.“
„Herr Dardentor,“ meldete sich Jean Taconnat, „Sie überhäufen uns mit Freundlichkeiten. Ich weiß nicht, wie wir das einmal vergelten sollten. Sie behandeln uns...“
„Wie meine Kinder! Würde mein Alter mir denn nicht erlauben, Ihr Vater zu sein?“
„Ach Herr Dardentor, Herr Dardentor!“ rief Jean Taconnat mit einer Stimme, die gar vieles verrieth.
Der ganze Tag wurde angewendet, die Stadt zu durchstreifen. Das Touristentrio besuchte deren vornehmste Promenaden, die mit schönen Blumen besetzte Turiner-Allee, den Boulevard Oudinot mit seiner Doppelreihe von Bella-ombra, den Carrière-, den Theaterplatz, sowie den von Orléans und Nemours.
Dabei fand sich Gelegenheit, die verschiedenen Typen der oranischen Bevölkerung kennen zu lernen, worunter sich viele Angehörige des Heeres befanden, von denen wieder eine Anzahl die Uniform der Siebenten Afrikanischen Jäger trug.
„Höchst elegant, diese Uniform,“ rief Clovis Dardentor wiederholt. „Die verzierte Joppe müßte Ihnen knapp wie ein Handschuh sitzen und Sie würden im Trabe avancieren! O, ich sehe Sie schon als glänzende Officiere, denen eine noch glänzendere Heirat bevorsteht! Wahrhaftig, es ist doch ein stolzer Beruf, der des Soldaten... wenn man eben Lust dazu verspürt... und das gilt doch von Ihnen.“
„Ja, das liegt so im Blute,“ erklärte Jean Taconnat. „Wir verdanken es unsern Vorfahren, braven Kaufleuten der Saint-Denisstraße, deren militärische Neigungen wir geerbt haben!“
Daneben begegnete man Juden in marokkanischer Tracht, Juden in seidnem goldgestickten Kaftan, ferner Mauren, die sorglos auf den sonnenbeschienenen Trottoirs einherwandelten, und endlich auch Franzosen und Französinnen.
Clovis Dardentor erklärte sich natürlich entzückt von allem, was er sah. Vielleicht wurde sein Interesse aber doch noch lebendiger, als die kleine Gesellschaft zufällig einzelne industrielle Anlagen, wie eine Gerberei, eine Fadennudelfabrik, eine Gießerei oder eine Tabakmanufactur zu Gesicht bekam.
In engeren Grenzen hielt sich seine Bewunderung dagegen angesichts der bedeutenderen städtischen Bauwerke, wie der 1839 umgebauten Kathedrale mit ihren drei Rundbogenschiffen, der Präfectur, der Bank und des Theaters. Letztere waren übrigens erst neueren Ursprungs.
Erhöhte Aufmerksamkeit schenkten die jungen Leute der Kirche des heiligen Andreas, einer ehemaligen viereckigen Moschee, deren Decke auf hufeisenförmigen maurischen Bögen ruht und die von einem schlanken Minaret überragt wird. Immerhin erschien ihnen diese Kirche minder merkwürdig, als die des Pascha, deren Vorhalle in Gestalt einer „Kubba“ von Kunstverständigen warm bewundert wird. Vielleicht hätten sie auch vor der Moschee Sidi-el-Hâuri mit ihren drei als Arcadengänge ausgebildeten Stockwerken längere Zeit verweilt, wenn Clovis Dardentor nicht zur Eile gemahnt hätte.
Beim Fortgehen bemerkte Marcel Lornans auf dem Austritt des Minarets eine Persönlichkeit, die mit dem Fernrohr den Horizont absuchte.
„Da... da... Herr Oriental!“ rief er.
„Wie... der Sternenjäger... der Planetenrecensent!“ platzte der Perpignaneser heraus.
„Er selbst... er äugt ins Weite...“
„Wenn er hinausängt, ist er es auch gar nicht!“ erklärte Jean Taconnat. „Von dem Moment an, wo er nicht ißt, ist es Herr Oriental nicht mehr!“
Dennoch war das der Vorsitzende der Astronomischen Gesellschaft von Montélimar, der das Strahlengestirn in seinem Tageslaufe beobachtete.
Als sie endlich zum Mittagsmahl nach dem Hôtel zurückkehrten, empfanden die Herren Dardentor, Marcel Lornans und Jean Taconnat ein ausgesprochnes Bedürfniß nach Ruhe.
Patrice, der von dem ihm durch seinen Herrn gewährten Urlaub Gebrauch machte, war methodisch durch die Straßen hingewandert, wo er sich nicht für verpflichtet hielt, alles an einem Tage zu sehen und er sein Gedächtniß doch mit werthvollen Erinnerungen bereicherte.
So erlaubte er sich auch einen leisen Tadel gegen Herrn Dardentor, der in allem, was er vornahm, nicht die nöthige Mäßigung einhalte und Gefahr laufe, sich über die Gebühr zu ermüden. Er erhielt dafür zur Antwort, daß ein Eingeborner der Ostpyrenäen überhaupt keine Müdigkeit kenne, und daß er sich ruhig schlafen legen solle.
Das that denn Patrice auch gegen acht Uhr, nachdem er das Hôtelpersonal vorher durch seine wohlgesetzten Reden und seinen Manieren höchlichst ergötzt hatte.
In derselben Stunde fanden sich Herr Dardentor und die beiden Vettern in dem bewußten Hause der Alten Schloßstraße ein. Die Familien Elissane und Désirandelle verweilten hier im Salon. Von Clovis Dardentor vorgestellt, wurden Marcel Lornans und Jean Taconnat sehr liebenswürdig empfangen.
Die Abendgesellschaft verlief wie alle bürgerlichen Abendgesellschaften, man plauderte, schlürfte eine Tasse Thee und musicierte ein wenig. Louise Elissane spielte mit seinem Geschmack und wirklichem Kunstverständniß Piano, Marcel Lornans „welcher Zufall! besaß“, um das gebräuchliche Wort anzuwenden, gerade eine recht hübsche Stimme. So fügte es sich, daß der junge Mann und das junge Mädchen einige neuere Compositionen vortragen konnten.
Clovis Dardentor verehrte die Musik und widmete ihr eine so begeisterte unbewußte Aufmerksamkeit wie viele andre Leute, die nur wenig davon verstehen. Diesen genügt es, daß die Töne zu einem Ohre ein- und durch das andre austreten, ohne daß ihr Gemüth einen Eindruck davon empfängt. Nichtsdestoweniger unterließ es unser Perpignaneser nicht, seine Lobsprüche auszutheilen, zu applaudieren und mit südländischer Begeisterung „Bravo“ und „Bravissimo“ zu rufen.
„Zwei Talente, die sich einander vermählen!“ sagte er schließlich.
Die junge Pianistin lächelte dazu, der junge Sänger sah etwas verlegen aus, und Herr und Frau Désirandelle runzelten die Stirne. Ihr Freund war in der That nicht glücklich in der Wahl seiner Ausdrücke, und seine letzten Worte, die gewiß auch Patrice's Beifall gefunden hätten, begegneten hier getheilter Aufnahme.
An Agathokles freilich konnte man sich mit nichts „vermählen“, weder mit Talent, noch mit Geist oder seiner Persönlichkeit, „an ihm, dachte Jean Taconnat, war nicht einmal genug für eine Convenienzheirat.“
Das Gespräch kam dann gelegentlich auch auf den Spaziergang, den Herr Dardentor und die beiden Pariser durch die Stadt gemacht hatten. Die recht gut unterrichtete Louise Elissane beantwortete ohne Ziererei einige Fragen, die ihr gestellt wurden, und gab Aufschluß über die Festsetzung der Araber hier seit drei Jahrhunderten, über die Einnahme Orans durch die Franzosen vor einigen sechzig Jahren, und über den Handel von Oran, der diesem die erste Rangstellung unter den algerischen Städten sicherte.
„Unsre Stadt,“ fügte das junge Mädchen hinzu, „ist aber nicht immer vom Glück begünstigt gewesen und ihre Geschichte ist reich an trüben Erinnerungen. Den Angriffen der Muselmanen folgten schwere Naturereignisse. So war sie durch das Erdbeben von 1790 fast gänzlich zerstört worden...“
Jean Taconnat spitzte das Ohr.
„Und,“ fuhr das junge Mädchen fort, „nach den Bränden, die dieses unglückselige Ereigniß im Gefolge hatte, kamen die Türken und Araber und setzten sich in Besitz der Stadt. Ruhe hat sie eigentlich erst seit der französischen Herrschaft.“
Jean Taconnat aber dachte dabei:
„Erdbeben... Feuersbrünste... feindliche Angriffe! O weh, ich komme hundert Jahre zu spät!... Werden Erdstöße auch jetzt noch dann und wann beobachtet, mein Fräulein?“ fragte er.
„Nein, das nicht, Herr Taconnat,“ antwortete gleich Frau Elissane.
„Das ist schade!“
„Was?... Schade?“ rief Herr Désirandelle. „Sie brauchen wohl Erdbeben und derartige schreckliche Ereignisse sehr nöthig, junger Herr?“
„Schweigen wir davon,“ fiel Frau Désirandelle ein, „ich könnte sonst wieder seekrank werden. Wir sind auf festem Lande, und es ist übrig genug, daß die Schiffe schwanken, ohne daß die Städte das nachmachen!“
Marcel Lornans konnte sich nicht enthalten, über diese Bemerkung der guten Frau zu lächeln.
„Ich bedaure es, derartige Erinnrungen wach gerufen zu haben,“ mischte sich Louise Elissane ein, „da Frau Désirandelle gar so empfindlich ist...“
„O, liebes Kind,“ antwortete Herr Désirandelle, „machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe!“
„Wenn es wirklich zu einem Erdbeben käme,“ erklärte Herr Dardentor, „so würde ich schon mit ihm fertig zu werden wissen! Den einen Fuß hier- und den andern dorthin, wie der selige Koloß von Rhodus, da sollte sich wohl noch etwas rühren können!“
Mit gespreizten Beinen hintretend, machte der Perpignaneser den Fußboden unter seinen Stiefeln krachen, bereit, gegen jede Erschütterung des afrikanischen Bodens anzukämpfen. Und aus seinem weit offnen Munde tönte ein so lautes Lachen, daß er mit seiner Heiterkeit auch die Andern ansteckte.
Als die Stunde des Abschieds gekommen war, ging die Gesellschaft auseinander, nachdem mit den beiden Familien ein Zusammentreffen zum Besuche der Kasbah verabredet worden war.
In Gedanken versunken, sagte sich Marcel Lornans aber auf dem Rückwege zum Hôtel, daß der Dienst bei den Siebenten Jägern denn doch nicht als das Ideal des irdischen Glücks zu betrachten sei.
Am nächsten Vormittage durchstreiften die Familien Elissane und Désirandelle, Herr Dardentor und die beiden Pariser die winkligen Gänge der alten oranischen Kasbah, jetzt einer gewöhnlichen Kaserne, die mit zwei Thoren der Stadt in Verbindung steht. Dann wurde der Spaziergang bis zum Negerdorfe der Djalis ausgedehnt, das mit Recht als eine der Merkwürdigkeiten Orans gilt. Bei diesem Ausfluge wollte es der Zufall, o, nur der Zufall, daß sich Louise Elissane zum großen Mißvergnügen der Frau Désirandelle sehr lebhaft mit Marcel Lornans unterhielt.
Am Abend war „die ganze Compagnie“ von Clovis Dardentor zum Essen eingeladen. Da gab es eine vorzügliche Mahlzeit, deren Zurichtung der in solchen Dingen erfahrne Patrice ganz besonders überwacht hatte. Frau Elissane gefiel dem Gentleman in Livree am meisten, da er in ihr eine Dame von vornehmem Auftreten erkannte.
Mehrere Tage gingen so hin, ohne daß das gegenseitige Verhältniß der Gäste im Hause der Alten Schloßstraße eine Aenderung erfuhr.
Wiederholt nahm Frau Elissane ihre Tochter wegen der Angelegenheit mit Agathokles ins Gebet. Als zielbewußte Frau stellte sie ihr die Vortheile, die aus einer Verbindung der beiden Familien entspringen mußten, vor Augen. Louise vermied es, auf das Zureden ihrer Mutter zu antworten, die selbst wieder nichts zu antworten wußte, wenn Frau Désirandelle die Heiratsangelegenheit zur Sprache brachte.
Daß diese keine Fortschritte machte, war ihr Fehler gewiß nicht, denn sie bemühte sich nach Kräften, ihren Sohn anzuspornen.
„Betreibe die Sache doch besser!“ mahnte sie ihn täglich wohl zehnmal. „Wir sorgen ja dafür, daß Ihr, Du und Louise, gelegentlich allein seid; ich bin aber überzeugt, daß Du dann dastehst und starrst durchs Fenster, statt einmal ein Compliment zu machen...“
„Doch... doch...“
„Ach was, Du drehst die Zunge im Munde hin und her, sprichst aber keine zehn Worte in zehn Minuten...“
„Zehn Minuten... das ist lange!“
„Bedenke doch Deine Zukunft, mein Sohn!“ fuhr die trostlose Mutter fort, indem sie ihn am Aermel seines Jackets zupfte. „Das ist doch eine Heirat, die sich ganz von allein machen sollte, da die beiden Familien darüber einig sind, und jetzt ist die Sache noch nicht halb geklärt...“
„O doch, da ich meine Zustimmung gegeben habe,“ antwortete Agathokles höchst naiv.
„Nein, weil Louise die ihrige noch nicht gegeben hat!“ entgegnete Frau Désirandelle.
Thatsächlich kam die Angelegenheit keinen Schritt vorwärts, und auch wenn sich Herr Dardentor einmischte, konnte er doch keinen Funken aus diesem Jungen locken.
„Ein eingeweichter Kiesel, statt eines Feuersteins, der sofort Funken sprüht, dachte er. Und doch, es genügte eine Gelegenheit... Freilich in diesem friedlichen Hause...“
Kurz, man drehte sich hier auf derselben Stelle. Zum Angriff schreitet man aber nur durch Vorwärtsgehen. Außerdem begannen die täglichen Zerstreuungen sich zu erschöpfen. Die Stadt hatte man bis zu den entlegensten Vororten besucht. Jetzt kannte sie Herr Dardentor ebenso genau, wie der gelehrte Vorsitzende der Geographischen Gesellschaft von Oran, die die bedeutendste in ganz Algerien ist. Doch ebenso wie die Désirandelle's verzweifelten, verzweifelte auch Jean Taconnat in dieser wohlgegründeten Stadt, deren Untergrund sich einer unerschütterlichen Ruhe erfreute, bei der „nichts zu machen“ war.
Zum Glück kam Clovis Dardentor auf eine Idee, eine Idee, wie man sich ihrer nur von einem solchen Manne versehen konnte.
Die Algerische Eisenbahngesellschaft hatte zu ermäßigten Preisen eine Rundreise durch den Süden der Provinz Oran angekündigt. Das mußte auch den schlimmsten Stubenhocker anlocken. Die Reise ging auf einer Linie hin und auf einer andern zurück. Zwischen beiden lag eine hundert Lieues lange Tour durch herrliche Landschaften. Die ganze Sache war in vierzehn Tagen abzumachen.
Auf den bunten Placaten der Gesellschaft sah man eine Karte des betreffenden Landestheils, den eine starke rothe Zickzacklinie durchzog. Mit der Eisenbahn sollte man nach Tlelat, nach Saint-Denis du Sig, von da nach Perregaux und Mascara und bis zum Endpunkte in Saïda fahren. Von hier aus besuchte man zu Wagen oder Karawane Daya, Magenta, Sebdou, Tlemcen, Lamoricière und Sidi-bel-Abbès und kehrte von letztgenanntem Orte aus auf dem Schienenwege nach Oran zurück.
Für diese Reise schwärmte Clovis Dardentor sofort mit der Leidenschaftlichkeit, die die unbedeutendsten Handlungen des außergewöhnlichen Mannes kennzeichnete. Er fand auch keine Schwierigkeiten, die Zustimmung der Désirandelle's zu diesem Plane zu erlangen. Die Zufälligkeiten der Reise, das gemeinschaftliche Leben und die kleinen Dienste, die man sich da gegenseitig erweisen konnte, mußten Agathokles doch vielfache Gelegenheit bieten, sich bei der reizenden Louise beliebt zu machen.
Frau Elissane ließ sich freilich erst etwas bitten. Die Ortsveränderung erschreckte sie aus dem und jenem Grunde. Versuche aber nur Einer, dem Herrn Dardentor zu widerstehen! Die vortreffliche Dame hatte ja gesagt, daß sie ihm nichts abschlagen könne, und jetzt erinnerte er sie an ihre Worte. Seine angeführten Gründe gaben endlich den Ausschlag. Bei dieser Vergnügungsreise werde sich Agathokles gewiß in ganz neuem Lichte zeigen, Fräulein Louise ihn aber nach Verdienst schätzen lernen und nach der Rückkehr würde die Heirat beschlossen.
„Doch werden die Herren Lornans und Taconnat auch an der Fahrt theilnehmen?“ fragte die vorsichtige Frau Elissane.
„Nein, leider nicht! In einigen Tagen gedenken sie in Dienst zu treten, und das würde sie zu lange aufhalten.“
Frau Elissane schien befriedigt zu sein.
Nach der Zustimmung der Mutter galt es aber auch noch die des jungen Mädchens einzuholen.
Hier hatte Herr Dardentor schwerere Arbeit. Sie widersetzte sich dieser Reise sichtlich, während der sie in fortwährender Berührung mit der Familie Désirandelle bleiben mußte. In Oran war Agathokles wenigstens häufig außer dem Hause und wurde meist nur zur Essenszeit sichtbar „die einzige Zeit, wo er den Mund wirklich aufthat, doch auch da nicht zum Plaudern. Im Waggon, im Wagen, in der Karawane würde er immer in der Nähe sein. Diese Aussicht konnte Louise Elissane nicht reizen. Der junge Mann mißfiel ihr einmal, und es wäre vielleicht das klügste gewesen, ihrer Mutter rund heraus zu erklären, daß sie ihn nie heiraten würde. Sie kannte aber diese entschlossne, zähe Frau, die nicht geneigt war, auf ihre Projecte zu verzichten. Im Grunde schien es auch wirklich besser, daß die gute Dame selbst das Unpassende dieser geplanten Ehe einsah.
Herr Dardentor entwickelte eine unwiderstehliche Beredtsamkeit. Er war in dem gutem Glauben, daß diese Reise dem Erben der Désirandelle's Gelegenheit geben werde, sich vortheilhafter zu zeigen, und er hoffte, daß der Wunsch seiner alten Freunde doch schließlich in Erfüllung ginge. Es wäre ein großer Kummer für sie, wenn die Sache scheiterte. Obgleich das dem jungen Mädchen gewiß keine Schmerzen machte, erhielt er zuletzt doch die Zusage, daß sie sich mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigen werde.
„Sie werden mir's später danken,“ wiederholte er... „ja, Sie werden mir's schon noch danken!“
Patrice, der nun von dem Vorhaben unterrichtet wurde, verhehlte seinem Herrn gar nicht, daß diese Reise nicht seinen vollen Beifall habe. Er machte Einwendungen... da würden jedenfalls auch andre Touristen dabei sein... man wisse doch nicht wer... und... so mit andern zusammenzuleben... so ein Mischmasch...
Sein Herr erklärte ihm dagegen nur, er habe sich bereit zu halten, daß am Abend des 10. Mai, also binnen achtundvierzig Stunden, die Reisetaschen gepackt seien.
Als Herr Dardentor den beiden jungen Leuten den Entschluß der Familien Elissane und Désirandelle, sowie seinen eignen, mittheilte, beeilte er sich, ihnen sein Bedauern, sein lebhaftes, aufrichtiges Bedauern auszudrücken, daß sie ihn nicht begleiten könnten. Das wäre erst das volle Vergnügen gewesen, mit ihnen vereint zu „karawanen“ , so drückte er sich aus „und einige Wochen durch die Provinz Oran zu pilgern!“
Marcel Lornans und Jean Taconnat gaben ihr ebenso aufrichtiges wie nicht minder lebhaftes Bedauern kund. Nachdem sie jetzt aber schon zehn Tage lang in Oran weilten, konnten sie nicht länger zögern, ihre Stellung hier zu sichern.
Am nächsten Abend freilich, am Vorabend der geplanten Reise und nach Verabschiedung von Herrn Dardentor, wechselten die beiden Vettern folgende Fragen und Antworten:
„Sag' einmal, Jean...“
„Was willst Du, Marcel?“
„Sollte denn eine Verzögerung von zwei Wochen...“
„Länger als vierzehn Tage dauern?... Nein, Marcel, ich glaube das wenigstens nicht... auch nicht in Algerien!“
„Wenn wir nun mit Herrn Dardentor reisten...“
„Reisen, Marcel?... Den Vorschlag machst Du mir... Du, der mir nicht einmal für mein Rettungswerk vierzehn Tage bewilligen wollte?“
„Ja, Jean... weil hier... in Oran... die Stadt ist so friedlich... da könntest Du keinen Erfolg erzielen. Auf so einer Rundreise aber... wer weiß... da kann irgend etwas vorkommen...“
„He, Marcel, es wäre ja möglich. Feuer... Wasser... vorzüglich ein Kampf... Und auf diese Idee bist Du nur verfallen, um mir keine Gelegenheit entschlüpfen zu lassen?...“
„Einzig deshalb! versicherte Marcel Lornans.“
„Spaßvogel Du!“ antwortete Jean Taconnat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
009a Der frühere Industrielle zeigte dafür das größte Interesse.
009b Die Moschee des Pascha in Oran.
009c Die beiden jungen Leute konnten einige neuere Kompositionen vortragen.
009d Der Spaziergang wurde bis zum Negerdorf ausgedehnt.
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