Kapitel (Worin der liebenswürdige Held der Geschichte anfängt, sich in den Vordergrund zu stellen)
Herr Dardentor – mit dem Vornamen Clovis – erblickte das Licht der Welt fünfundvierzig Jahre vor Anfang dieser Erzählung am Loge-Platz Nr. 4 im alten Ruscino, das früher die Hauptstadt von Roussillon war und heute der Hauptort der Ostpyrenäen ist, in dem berühmten und hochpatriotischen Perpignan.
Der Typus Clovis Dardentor's ist in dieser guten Provinzialstadt nicht grade selten. Stelle man sich in ihm einen Mann von Mittelgröße mit breiten Schultern vor, der einen so kräftigen Körperbau aufwies, daß das Muskelsystem das Nervensystem beherrschte. Letzteres befand sich übrigens im Zustande vollkommner Eusthenie – d. h. für Die, die ihr Griechisch vergessen haben, im vollständigen Gleichgewicht der Kräfte. Außerdem hatte er einen runden Kopf, kurzes graumeliertes Haar, braunen, fächerförmigen Bart, lebhaften Blick, einen großen Mund mit prächtigen Zähnen, sichern Tritt und geschickte Hand, war moralisch und physisch gut abgehärtet, ein guter Junge trotz etwas befehlerischen Wesens, von guter Laune, unversieglicher Redseligkeit, sehr entschlossen und schnell im Handeln, kurz, ein Südländer, soweit ein Individuum es sein kann, dessen Wiege nicht in der Provence selbst stand, in der Provinz, worin der ganze Süden Frankreichs sich concentriert und völlig aufgeht.
Dieser Dardentor war Junggeselle, und in der That hätte man sich einen Mann wie ihn auch gar nicht als vom Ehejoch gefesselt vorstellen können, ebenso wenig wie es jemand in den Sinn kam, daß ihm je ein Honigmond geschienen hätte. Nicht, daß er sich misogyn gezeigt hätte – er befand sich sogar sehr gern in Gesellschaft von Frauen – doch misogam war er im höchsten Grade. Dieser Ehefeind begriff nicht, daß ein an Leib und Seele gesunder und ernstlich beschäftigter Mann Zeit finden könne, an dergleichen zu denken. Die Ehe! Er wollte von einer solchen nichts wissen, ob sie nun aus Neigung, gesellschaftlichen oder pecuniären Rücksichten, aus Vernunft, ob sie mit oder ohne Gütergemeinschaft oder aus sonst welchen hienieden geltend gemachten Gründen geschlossen würde.
Deshalb, weil Einer Junggesell geblieben war, darf man nicht schließen, daß er in Müßiggang dahin gelebt hätte. Das wäre wenigstens Clovis Dardentor gegenüber ein Fehlschluß gewesen. Wenn er seine schönen zwei Millionen besaß, so verdankte er sie weder einer Mitgift, noch etwaigen Erbschaften. Nein, er hatte sie rein durch seine Arbeit erworben. Als Theilnehmer an verschiednen Handels- und Gewerbsgesellschaften, wie Gerbereien, Marmorschleifereien, Korkstöpselfabriken und an den Weinculturen von Rivesaltes, hatte er von jeher beträchtliche Einkünfte bezogen. Den größten Theil seiner Zeit und Intelligenz hatte er aber der in der Umgebung so mächtig entwickelten Küferei gewidmet.
Nach Anhäufung eines hübschen Vermögens und Sichrung einer guten Rente zog er sich zwar schon mit vierzig Jahren von den Geschäften zurück, verschmähte es nachher aber, nur der filzige Hüter todter Schätze zu sein. Ins Privatleben zurückgekehrt, lebte er seinem Vermögen entsprechend und machte gern Reisen, vorzüglich nach Paris, wo er sich oft aufhielt. Mit strotzender Gesundheit begnadigt, erfreute er sich eines Magens, um den ihn der Stelzvogel des südlichen Afrika, der wegen des seinen so berühmt ist, noch hätte beneiden können.
Die Familie unsers Perpignanesers beschränkte sich auf ihn allein. Die lange Reihe seiner Ahnen sollte mit ihm endigen. Er hatte keine Verwandten in aufsteigender oder in absteigender Linie, auch keinen Seitenverwandten – oder höchstens solche in sechsundzwanzigstem oder siebenundzwanzigstem Gliede, weil alle Franzosen, wie die Statistiker behaupten, in diesem Grade mit einander verwandt sind, wenn man dafür nur bis zur Zeit Franz I. zurückgreift. Um solche Seitenverwandte brauchte er sich natürlich nicht zu bekümmern. Uebrigens hat ja jeder Mensch, wenn man bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung zurückgeht, hundertneununddreißig Quadrillonen Ahnen... keinen mehr oder weniger.
Clovis Dardentor bildete sich darauf übrigens gar nichts ein. Wenn er sich auch so ohne Familie sah, wie nur sonst Einer dastehen kann, so sah er darin doch gar nichts Ungehöriges, da er nie daran gedacht hatte, sich eine solche auf irgend einem der aller Welt zugängigen Wege zu begründen. Kurz, er war jetzt nach Oran eingeschifft, und wir wollen ihm wünschen, daß er in dem Hauptorte der großen algerischen Provinz auch heil und gesund eintreffen möge.
Einen der Hauptgründe, daß dem „Argeles“ eine günstige Fahrt beschieden sein mußte, bildete der Umstand, daß der Perpignaneser an Bord desselben weilte. Bisher hatte er, wenn er nach Algerien ging – das Land gefiel ihm ausnehmend – stets den Weg über Marseille gewählt; heute war es das erste Mal, daß er der Linie von Cette aus den Vorzug gab. Da er nun einem dieser Dampfer die Ehre erwiesen hatte, ihm den Transport seiner werthen Person anzuvertrauen, war es geradezu nothwendig, daß diese Seefahrt seine Erwartungen befriedigte, mit andern Worten, ihn nach kurzer und glücklicher Reise heil und gesund im Bestimmungshafen absetzte.
Kaum mit einem Fuße auf dem Verdeck, drehte sich Clovis Dardentor nach seinem Diener um.
„Patrice, sieh zu, daß mir Cabine 13 gesichert bleibt!“
„Sie wissen ja, Herr Dardentor, daß diese telegraphisch bestellt war; darum brauchen Sie sich also keine Sorge zu machen.“
„Nun, so schaffe meine Reisetasche hinunter und belege mir auch einen möglichst guten Platz bei Tische... nicht zu weit vom Kapitän. Ich habe schon Hunger in den Klauen!“
Dieser Ausdruck erschien Patrice offenbar nicht wohlanständig genug und er hätte es vielleicht vorgezogen, von seinem Herrn dafür etwa „in den Fersen“ zu hören, denn er verzog recht mißbilligend die Lippen. Jedenfalls trottete er dem Befehle entsprechend davon.
Im nämlichen Augenblicke gewahrte Clovis Dardentor den Befehlshaber des „Argeles“, der eben die Commandobrücke verlassen hatte, und er trat ohne Umstände auf ihn zu.
„He, he, Kapitän,“ rief er ungeniert, „wie kam es, daß Sie nicht Geduld genug hatten, auf einen verspäteten Passagier zu warten? Ihrem Dampfer juckte es wohl in den Gliedern, sich mit seiner Schraube zu kratzen?“
Diese Metapher war nicht gerade seemännischer Art, Clovis Dardentor war aber auch kein Seemann, und in seiner bildlichen Ausdrucksweise sagte er seine Ansicht so, wie es ihm in den Mund kam, manchmal in abscheulich pomphafter und manchmal in bedauerlich vulgärer Redeweise.
„Mein Herr,“ erwiderte der Kapitän Bugarach, „wir fahren genau zur bestimmten Zeit ab und die Vorschriften der Gesellschaft gestatten uns nicht, zu warten...“
„O, ich bin Ihnen darum auch gar nicht böse!“ antwortete Clovis Dardentor, indem er dem Kapitän die Hand bot.
„Ich Ihnen auch nicht, obwohl Sie mich zwangen zu stoppen...“
„Nun gut, so stoppen wir hiermit!“ unterbrach ihn der Perpignaneser.
Dabei schüttelte er dem Kapitän die Hand so kräftig wie ein alter Faßbinder, der Reifenzieher und Schneideisen gehandhabt hat.
„Wissen Sie übrigens,“ setzte er hinzu, „wenn meine Schaluppe Ihr Schiff nicht hätte einholen können, wär' ich damit bis Algerien gefahren... na, und wenn ich diese Schaluppe nicht hätte austreiben können, wär' ich einfach ins Wasser gesprungen und Ihnen nachgeschwommen! Ja, das ist so einmal meine Art, bester Kapitän Bugarach!“
In der That, so war Clovis Dardentor, und die bei den jungen Leute, die diesem Original mit Vergnügen zuhörten, wurden jetzt von ihm mit einem Gruße beehrt, den sie lächelnd erwiderten.
„Ein nettes Kerlchen!“ murmelte Jean Taconnat.
In diesem Augenblicke drehte der „Argeles“ um ein Viertel und stellte sich in die Richtung nach dem Cap Agde ein.
„Ach, Kapitän Bugarach, eine Frage von höchster Bedeutung!“ nahm Clovis Dardentor noch einmal das Wort.
„Bitte, sprechen Sie.“
„Um wieviel Uhr wird hier gespeist?“
„Um fünf Uhr.“
„ Also in fünfundvierzig Minuten. Eher nicht... aber ja nicht später!“
Clovis Dardentor machte eine Pirouette nach einem Blicke auf seine kostbare Repetieruhr, die an schwerer Goldkette im Knopfloche seiner Weste aus gutem Diagonal mit großen Metallknöpfen befestigt war.
Entschieden hatte dieser Perpignaneser, um einen durch sein ganzes Auftreten gerechtfertigten Ausdruck anzuwenden, „viel Chic“, wie er so mit dem weichen Filzhute mehr nach dem rechten Ohre, mit seinem karrierten Mac-Farlane, dem Feldstecher am Riemen, mit der Reisedecke, die über die Schulter bis zur Taille hinunter hing, den Pluderkniehosen, den Gamaschen mit kupfernen Schnallen und mit den doppelsohligen Jagdstiefeletten dastand.
Und wiederum erschallte seine scharfe, durchdringende Stimme.
„Wenn ich die Abfahrt versäumt hatte, die Mittagstafel verfehle ich nicht, lieber Kapitän, und wenn Ihr Schiffskoch seine Sache gut gemacht hat, werden Sie mich nach Gebühr kauen sehen...“
Plötzlich wendete sich sein Redefluß, den bisherigen Curs aufgebend, einer andern Person zu.
Herr Désirandelle, der seine Gattin von dem endlichen Eintreffen des so unselig verspäteten Reisegefährten unterrichtet hatte, war eben wieder erschienen.
„Ach, liebster Freund, guten Tag!“ rief Clovis Dardentor. „Nun, und Frau Désirandelle?... Wo ist denn die vortreffliche Dame?... Und der schönste aller Agathoklesse?...“
„Keine Angst, Dardentor,“ antwortete Herr Désirandelle, „wir hatten uns nicht verspätet und der „Argeles“ brauchte nicht ohne uns abzufahren!“
„Was... Vorwürfe, mein Bester?...“
„Verdient hätten Sie sie gewiß!... Welche Unruhe haben Sie uns bereitet!... Wenn wir nun in Oran bei Frau Elissane ohne Sie eintrafen?...“
„O, ich hab' auch genug gewettert, Désirandelle... Da war nur der Kerl, der Pigorin, daran schuld!... Er hat mich mit seinen Proben von alten Rivesaltesweinen aufgehalten. Ich mußte kosten und immer wieder kosten... und als ich auf dem Kai des alten Bassins ankam, da kam der „Argeles“ gerade aus der Durchfahrt gedampft. Doch, hier bin ich ja, es ist also unnütz, über die Sache ein weiteres Wort zu verlieren oder die Augen zu rollen wie ein absterbender Lachs... Das könnte das Schiff nur in stärkeres Rollen bringen. – Nun aber, Ihre Frau?...“
„Liegt auf Ihrer Schlafstätte... ein wenig...“
„ Schon jetzt?...“
„Leider schon jetzt,“ seufzte Herr Désirandelle, dessen Lider zitterten, und auch ich selbst...
„Lieber, alter Freund, nehmen Sie einen Rath an,“ sagte Clovis Dardentor darauf. „Oeffnen Sie den Mund nicht wie jetzt... Halten Sie ihn möglichst geschlossen, sonst hieße das den Teufel herausfordern...“
„Du lieber Himmel,“ stammelte Herr Désirandelle, „Sie haben gut reden! Ach, diese Ueberfahrt nach Oran!... Weder Frau Désirandelle noch ich selbst hätte sie gewagt, wenn dabei nicht die Zukunft unsers Agathokles im Spiele war!“
Es handelte sich in der That um die Zukunft des einzigen Erben der Désirandelle's. Jeden Abend kam Clovis Dardentor, ein alter Freund der Familie, nach dem Hause in der Popinièrestraße, um da eine Partie Besique oder Piquet zu spielen. Er hatte dort jenes Kind fast geboren werden, hatte es wachsen sehen... wenigstens körperlich, denn die Intelligenz war bei ihm hinter dem Wachsthum weit zurückgeblieben. Agathokles besuchte später ein Lyceum ebenso erfolglos, wie die meisten trägen und geistig beschränkten Zöglinge. Von einer besondern Anlage für das oder jenes zeigte er keine Spur. Im Leben gar nichts zu thun, erschien ihm als das Ideal für den Menschen. Mit dem, was er später von seinen Eltern zu erwarten hatte, sah er sich einst im Genuß von zwölftausend Francs Rente. Das ist ja schon etwas; Herr und Frau Désirandelle hatten aber von einer weit rentenreicheren Zukunft ihres Sohnes geträumt. Sie kannten nämlich jene Familie Elissane, die vor ihrer Uebersiedlung nach Algerien in Perpignan gewohnt hatte. Frau Elissane, die Witwe eines frühern Kaufmanns und jetzt fünfzig Jahre alt, erfreute sich einer hübschen Wohlhabenheit, Dank dem von ihrem Gatten hinterlassenen Vermögen, der sich nach Zurückziehung von allen seinen Geschäften in Algerien niedergelassen hatte. Die Witwe besaß nur eine Tochter von zwanzig Jahren. Eine gute Partie, das Fräulein Elissane! sagte man bis zum Süden von Oran hier ebenso wie in den Ostpyrenäen oder wenigstens in einem gewissen Hause der Popinièrestraße. Was konnte da passender erscheinen, als eine Heirat zwischen Agathokles Désirandelle und Louise Elissane?
Ehe man sich jedoch heiratet, muß man sich kennen, und wenn sich Agathokles und Louise auch als Kinder gesehen hatten, bewahrten sie von einander doch keine Erinnerung mehr. Da nun Oran nicht nach Perpignan kam, weil Frau Elissane nicht leicht von der Scholle wegzubringen war, so mußte Perpignan wohl oder übel nach Oran gehen.
Das war die Veranlassung zu dieser Reise, obwohl Frau Désirandelle alle Zeichen der Seekrankheit schon verspürte, wenn sie nur Wellen auf einen Strand laufen sah, und auch Herr Désirandelle, trotz seiner Versicherungen, etwas furchtsamer Natur war. Da dachten die Leutchen an Clovis Dardentor. Dieser Perpignaneser war ein reiseerfahrener Mann, der es nicht abschlagen würde, seine Freunde zu begleiten. Vielleicht schätzte er den Werth des zu verheiratenden jungen Mannes recht niedrig; seiner Ansicht nach waren aber alle, die sich zu Ehemännern verwandeln wollten, einer so viel werth wie der andre. Gefiel der Agathokles der jungen Erbin, so machte sich die Sache ganz allein. Freilich, Louise Elissane war ein reizendes Mädchen... kurz, wenn die Désirandelle's erst in Oran angelangt waren, wird es Zeit sein, sie dem geneigten Leser vor- und ihm freizustellen, Agathokles auszustechen.
Wir wissen also nun, zu welchem Zwecke sich die kleine perpignanesische Gesellschaft auf dem „Argeles“ eingeschifft hatte und weshalb sie selbst eine Fahrt über das Mittelmeer wagte. In Erwartung der Stunde zum Essen begab sich Clovis Dardentor nach dem Oberdeck, wo sich diejenigen Passagiere der erster Cajüte befanden, die das Schwanken des Schiffs noch nicht in ihre Cabinen verscheucht hatte. Herr Désirandelle, dessen Blässe fortwährend zunahm, folgte ihm und machte sich's auf einer Bank bequem.
Agathokles kam auch heran.
„He, mein Junge, Du bist besser construiert, als Dein Vater!“ begann Dardentor. „Bei dem knarrt es schon an allen Ecken...“
Agathokles begnügte sich zu antworten, daß „es bei ihm nicht knarrte“.
„Desto besser für Dich, und suche nur bis zum Ende auszuhalten. Geh' nicht da hinunter, um eine Physiognomie aus Papiermaché oder eine Miene wie ein Kürbis in Marmelade aufzustecken!“
Nein, das war nicht zu fürchten. Das Meer that dem jungen Manne nichts an.
Clovis Dardentor hatte es nicht für angezeigt gehalten, nach der Cabine der Frau Désirandelle hinunter zu gehen. Die gute Dame wußte ja, daß er an Bord war, und das genügte. Trostworte von ihm hätten auf sie auch keinen heilsamen Einfluß ausgeübt. Und dazu gehörte Herr Dardentor zu der Kategorie von abscheulichen Menschen, die immer bereit sind, über die Opfer der Seekrankheit zu spotten. Unter dem Vorwande, daß sie nicht davon leiden, wollen sie nicht zugestehen, daß man sie überhaupt bekommen könnte. Man sollte sie einfach an der Raa des Großsegels aufhängen!
Der „Argeles“ befand sich auf der Höhe des Cap Agde, als auf dem Vordertheile ein Glockenschlag erklang. Es war fünf Uhr... die Stunde zum Essen.
Bisher hatte sich das Stampfen und Schlingern des Dampfers noch nicht besonders bemerkbar gemacht. Der, wenn auch etwas kurze, Wellenschlag erschien der größten Zahl der Passagiere recht erträglich. Der „Argeles“ erhielt die Wellen von rückwärts und lief mit ihnen. Es war also zu hoffen, daß es dem Mittags essen nicht an Theilnehmern fehlen werde. Die männlichen und sogar fünf bis sechs weibliche Passagiere stiegen die Doppeltreppe vom Oberdeck hinab und nahmen ihre an der Tafel für sie belegten Plätze ein.
Herr Eustache Oriental saß auf dem seinigen, sichtlich schon mit großer Ungeduld. Seit zwei Stunden war er hier schon angenagelt. Alles ließ jedoch hoffen, daß dieser Jäger auf gute Plätze nach dem Essen nach dem Deck hinauf gehen und nicht bis zum Eintreffen im Hafen an denselben Stuhl gefesselt bleiben werde.
Der Kapitän Bugarach und Doctor Bruno hielten sich hinten im Salon auf. Sie überhoben sich nie der Verpflichtung, die Honneurs an der Tafel zu machen. Clovis Dardentor und die Herren Désirandelle, Vater und Sohn, begaben sich nach dem obern Ende der Tafel. In dem Verlangen, diese verschiednen Typen von Perpignanefern zu studieren, nahmen Marcel Lornans und Jean Taconnat neben Herrn Dardentor Platz. Die Uebrigen – zusammen etwa zwanzig – setzten sich beliebig nieder, die einen in die Nachbarschaft Oriental's ganz in der Nähe der Offiz, von der aus die Schüsseln unter Leitung des Restaurateurs ausgegeben wurden.
Herr Clovis Dardentor machte sofort Bekanntschaft mit dem Doctor, und bei zwei so redelustigen Leuten konnte die Unterhaltung in der Umgebung des Kapitän Bugarach nicht wohl ins Stocken kommen.
„Herr Doctor,“ begann Dardentor, „ich fühle mich glücklich... sehr glücklich, Ihnen die Hand drücken zu können, und wäre sie mit Mikroben gespickt, wie die aller Ihrer Collegen...“
„Keine Furcht, Herr Dardentor,“ antwortete der Doctor Bruno in demselben launigen Tone, „ich habe mich eben mit Borwasser gewaschen.“
„Pah, was scheeren mich die Mikroben und die Mikrobentödter!“ rief Herr Dardentor. „Ich bin niemals krank gewesen, keinen Tag, keine Stunde, mein lieber Aesculap!... Keine fünf Minuten lang hab' ich je auch nur einen Schnupfen gehabt... niemals eine Pille oder eine Tisane eingenommen!... Sie werden mir gestatten zu glauben, daß ich selbst auf Ihre Verordnung hin mich jedes Medicinierens enthalte. O, ich gehe sehr gerne mit Aerzten um!... Das sind ganz brave Herren, die nur den einen Fehler haben, den Leuten schon die Gesundheit zu verderben, wenn sie ihnen nur nach dem Puls fühlen oder ihre Zunge ansehen!... Im übrigen aber bin ich entzückt, mich an Ihre Seite setzen zu können, und wenn das Essen gut ist, werd' ich ihm alle Ehre anthun!“
Der Doctor Bruno hielt sich noch nicht für geschlagen, obgleich er erkannt hatte, daß sein Nachbar ihn in der Geschwätzigkeit übertraf. Er gab seine Antworten, ohne die Aerzte gegen einen so wohl ausgerüsteten Gegner besonders in Schutz zu nehmen. Da überdies die Suppe aufgetragen war, dachte jeder nur noch daran, seinen durch die Seeluft erhöhten Appetit zu befriedigen.
Anfangs blieben die Schwankungen des Dampfers so schwach, daß sie die Tischgäste nicht belästigten, mit Ausnahme des Herrn Désirandelle, der wie eine Serviette weiß geworden war. Man fühlte nichts von dem Schaukeln, das die Horizontale compromittiert, noch von dem Heben und Senken, das die Verticalität stört. Aenderte sich dieser Sachverhalt während der Mahlzeit nicht, so konnten die verschiednen Gerichte ohne Schaden bis zum Dessert einander ablösen.
Plötzlich begann jedoch das Tafelgeschirr zu klappern. Die Hängelampen des Speisesalons wiegten sich über den Köpfen der Tischgäste hin und her. Ein Rollen und Stampfen verband sich, um eine allgemeine Verwirrung unter den Passagieren hervorzurufen, deren Sitze sich zuweilen beunruhigend neigten. Arme und Hände verloren die Sicherheit ihrer Bewegung. Gläser waren nur schwierig an den Mund zu setzen und die Gabeln stachen den Leuten meist in die Wangen oder ins Kinn.
Die meisten Tischgäste konnten das nicht ertragen. Herr Désirandelle war einer der ersten, der die Tafel mit verrätherischer Eile verließ. So und so viele andre folgten ihm, um draußen frische Luft zu schöpfen, trotz dem Zureden des Kapitän Bugarach, der wiederholt erklärte:
„Das hat nichts zu bedeuten, meine Herrn... dieser Seitensprung des „Argeles“ wird nicht lange anhalten!“
Und Clovis Dardentor rief dazwischen:
„Da wackeln sie nun im reinen Gänsemarsch hinaus!
„Ja, so ist es immer!“ erwiderte der Kapitän, mit den Augen zwinkernd.
„Nein! versetzte unser Perpignaneser, ich begreife nicht, daß Einer das Herz nicht im Leibe behält!“
Angenommen, daß dieser Ausdruck den Gesetzen des menschlichen Organismus nicht widerspricht, und wenn das Herz wirklich seine Ortslage verändern kann, wie es jene volksthümliche Redeweise andeutet, so strebte das Herz jener guten Leute doch keineswegs danach, hinab-, sondern vielmehr zu ihren Lippen emporzusteigen. Kurz, als der Restaurateur die Zwischengerichte herumreichen ließ, zählte man an der Tafel nicht mehr als etwa zehn unerschrockne Gäste. Zu ihnen gehörten außer den an solche rutschende Teller und Schüsseln der Dining-rooms gewöhnten Kapitän Bugarach und Doctor Bruno zunächst Clovis Dardentor, der treu auf Posten blieb, Agathokles, den die Flucht seines Vaters sehr gleichgiltig ließ, die beiden Vettern Marcel Lornans und Jean Taconnat, deren Verdauung in keiner Weise gestört war, und der unermüdliche Eustache Oriental, der auf die weiteren Gänge spannte, die bedienenden Burschen ausfragte und gar nicht daran dachte, sich über die unzeitgemäßen Stöße des „Argeles“ zu beklagen, da er ja die Auswahl unter den dargebotenen Gerichten hatte.
Nach dem Auszuge der schon zu Anfang der Tafel außer Rand und Band gerathnen Tischgäste aber warf der Kapitän Bugarach dem Doctor Bruno einen eigenthümlichen Blick zu, und dieser antwortete darauf mit ebenso seltsamem Lächeln. Dieses Lächeln und jener Blick schienen verständlich genug gewesen zu sein, denn wie auf einem Spiegel glänzten sie von dem sonst unbeweglichen Gesicht des Restaurateurs wieder zurück.
Da stieß Jean Taconnat seinen Vetter mit dem Ellbogen und sagte leise:
„Das war der gewöhnliche „Kniff“!“
„Der mir sehr gleichgiltig ist, Jean!“
„Und mir erst recht!“ versicherte Jean Taconnat, der auf seinen Teller eine saftige Schnitte von zart rosafarbnem Lachs gleiten ließ, welche Herr Oriental wohl übersehen hatte.
Der angedeutete „Kniff“ aber besteht einfach in Folgendem:
Es giebt Kapitäne – bei Leibe nicht alle, doch es scheint welche zu geben – die zu sehr durchsichtigem Zwecke die Richtung ihres Schiffes grade beim Beginn der Tafel etwas ändern lassen... oh, nur durch ein leichtes Umlegen des Steuers, etwas andern bedarf es nicht. Kann man ihnen deshalb wirklich einen Vorwurf machen? Ist es denn verboten, ein Fahrzeug grade gegen den Seegang einzustellen und obendrein nur für eine Viertelstunde? Ist es ein Verbrechen, mit dem Rollen und Stampfen unter einer Decke zu spielen, um eine Ersparniß an den Kosten der Tafel zu erreichen?
Uebrigens dauerte die Unruhe der Teller und Schüsseln nicht über Gebühr lange an. Die Hinausgemaßregelten fühlten sich aber nicht versucht, ihre Plätze am gemeinsamen Tische wieder einzunehmen, obgleich der Dampfer wieder einen ruhigeren und, sagen wir, ehrbareren Gang angenommen hatte.
Das bis auf einige ausgewählte Tischgäste reducierte Diner konnte also unter den günstigsten Verhältnissen fortgesetzt werden, ohne daß sich jemand um die Unglücklichen bekümmerte, die aus dem Speisesalon vertrieben waren und jetzt auf dem Verdeck ebenso verschiedne, wie beklagenswerthe Stellungen und Lagen einnahmen.
Der Typus Clovis Dardentor's ist in dieser guten Provinzialstadt nicht grade selten. Stelle man sich in ihm einen Mann von Mittelgröße mit breiten Schultern vor, der einen so kräftigen Körperbau aufwies, daß das Muskelsystem das Nervensystem beherrschte. Letzteres befand sich übrigens im Zustande vollkommner Eusthenie – d. h. für Die, die ihr Griechisch vergessen haben, im vollständigen Gleichgewicht der Kräfte. Außerdem hatte er einen runden Kopf, kurzes graumeliertes Haar, braunen, fächerförmigen Bart, lebhaften Blick, einen großen Mund mit prächtigen Zähnen, sichern Tritt und geschickte Hand, war moralisch und physisch gut abgehärtet, ein guter Junge trotz etwas befehlerischen Wesens, von guter Laune, unversieglicher Redseligkeit, sehr entschlossen und schnell im Handeln, kurz, ein Südländer, soweit ein Individuum es sein kann, dessen Wiege nicht in der Provence selbst stand, in der Provinz, worin der ganze Süden Frankreichs sich concentriert und völlig aufgeht.
Dieser Dardentor war Junggeselle, und in der That hätte man sich einen Mann wie ihn auch gar nicht als vom Ehejoch gefesselt vorstellen können, ebenso wenig wie es jemand in den Sinn kam, daß ihm je ein Honigmond geschienen hätte. Nicht, daß er sich misogyn gezeigt hätte – er befand sich sogar sehr gern in Gesellschaft von Frauen – doch misogam war er im höchsten Grade. Dieser Ehefeind begriff nicht, daß ein an Leib und Seele gesunder und ernstlich beschäftigter Mann Zeit finden könne, an dergleichen zu denken. Die Ehe! Er wollte von einer solchen nichts wissen, ob sie nun aus Neigung, gesellschaftlichen oder pecuniären Rücksichten, aus Vernunft, ob sie mit oder ohne Gütergemeinschaft oder aus sonst welchen hienieden geltend gemachten Gründen geschlossen würde.
Deshalb, weil Einer Junggesell geblieben war, darf man nicht schließen, daß er in Müßiggang dahin gelebt hätte. Das wäre wenigstens Clovis Dardentor gegenüber ein Fehlschluß gewesen. Wenn er seine schönen zwei Millionen besaß, so verdankte er sie weder einer Mitgift, noch etwaigen Erbschaften. Nein, er hatte sie rein durch seine Arbeit erworben. Als Theilnehmer an verschiednen Handels- und Gewerbsgesellschaften, wie Gerbereien, Marmorschleifereien, Korkstöpselfabriken und an den Weinculturen von Rivesaltes, hatte er von jeher beträchtliche Einkünfte bezogen. Den größten Theil seiner Zeit und Intelligenz hatte er aber der in der Umgebung so mächtig entwickelten Küferei gewidmet.
Nach Anhäufung eines hübschen Vermögens und Sichrung einer guten Rente zog er sich zwar schon mit vierzig Jahren von den Geschäften zurück, verschmähte es nachher aber, nur der filzige Hüter todter Schätze zu sein. Ins Privatleben zurückgekehrt, lebte er seinem Vermögen entsprechend und machte gern Reisen, vorzüglich nach Paris, wo er sich oft aufhielt. Mit strotzender Gesundheit begnadigt, erfreute er sich eines Magens, um den ihn der Stelzvogel des südlichen Afrika, der wegen des seinen so berühmt ist, noch hätte beneiden können.
Die Familie unsers Perpignanesers beschränkte sich auf ihn allein. Die lange Reihe seiner Ahnen sollte mit ihm endigen. Er hatte keine Verwandten in aufsteigender oder in absteigender Linie, auch keinen Seitenverwandten – oder höchstens solche in sechsundzwanzigstem oder siebenundzwanzigstem Gliede, weil alle Franzosen, wie die Statistiker behaupten, in diesem Grade mit einander verwandt sind, wenn man dafür nur bis zur Zeit Franz I. zurückgreift. Um solche Seitenverwandte brauchte er sich natürlich nicht zu bekümmern. Uebrigens hat ja jeder Mensch, wenn man bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung zurückgeht, hundertneununddreißig Quadrillonen Ahnen... keinen mehr oder weniger.
Clovis Dardentor bildete sich darauf übrigens gar nichts ein. Wenn er sich auch so ohne Familie sah, wie nur sonst Einer dastehen kann, so sah er darin doch gar nichts Ungehöriges, da er nie daran gedacht hatte, sich eine solche auf irgend einem der aller Welt zugängigen Wege zu begründen. Kurz, er war jetzt nach Oran eingeschifft, und wir wollen ihm wünschen, daß er in dem Hauptorte der großen algerischen Provinz auch heil und gesund eintreffen möge.
Einen der Hauptgründe, daß dem „Argeles“ eine günstige Fahrt beschieden sein mußte, bildete der Umstand, daß der Perpignaneser an Bord desselben weilte. Bisher hatte er, wenn er nach Algerien ging – das Land gefiel ihm ausnehmend – stets den Weg über Marseille gewählt; heute war es das erste Mal, daß er der Linie von Cette aus den Vorzug gab. Da er nun einem dieser Dampfer die Ehre erwiesen hatte, ihm den Transport seiner werthen Person anzuvertrauen, war es geradezu nothwendig, daß diese Seefahrt seine Erwartungen befriedigte, mit andern Worten, ihn nach kurzer und glücklicher Reise heil und gesund im Bestimmungshafen absetzte.
Kaum mit einem Fuße auf dem Verdeck, drehte sich Clovis Dardentor nach seinem Diener um.
„Patrice, sieh zu, daß mir Cabine 13 gesichert bleibt!“
„Sie wissen ja, Herr Dardentor, daß diese telegraphisch bestellt war; darum brauchen Sie sich also keine Sorge zu machen.“
„Nun, so schaffe meine Reisetasche hinunter und belege mir auch einen möglichst guten Platz bei Tische... nicht zu weit vom Kapitän. Ich habe schon Hunger in den Klauen!“
Dieser Ausdruck erschien Patrice offenbar nicht wohlanständig genug und er hätte es vielleicht vorgezogen, von seinem Herrn dafür etwa „in den Fersen“ zu hören, denn er verzog recht mißbilligend die Lippen. Jedenfalls trottete er dem Befehle entsprechend davon.
Im nämlichen Augenblicke gewahrte Clovis Dardentor den Befehlshaber des „Argeles“, der eben die Commandobrücke verlassen hatte, und er trat ohne Umstände auf ihn zu.
„He, he, Kapitän,“ rief er ungeniert, „wie kam es, daß Sie nicht Geduld genug hatten, auf einen verspäteten Passagier zu warten? Ihrem Dampfer juckte es wohl in den Gliedern, sich mit seiner Schraube zu kratzen?“
Diese Metapher war nicht gerade seemännischer Art, Clovis Dardentor war aber auch kein Seemann, und in seiner bildlichen Ausdrucksweise sagte er seine Ansicht so, wie es ihm in den Mund kam, manchmal in abscheulich pomphafter und manchmal in bedauerlich vulgärer Redeweise.
„Mein Herr,“ erwiderte der Kapitän Bugarach, „wir fahren genau zur bestimmten Zeit ab und die Vorschriften der Gesellschaft gestatten uns nicht, zu warten...“
„O, ich bin Ihnen darum auch gar nicht böse!“ antwortete Clovis Dardentor, indem er dem Kapitän die Hand bot.
„Ich Ihnen auch nicht, obwohl Sie mich zwangen zu stoppen...“
„Nun gut, so stoppen wir hiermit!“ unterbrach ihn der Perpignaneser.
Dabei schüttelte er dem Kapitän die Hand so kräftig wie ein alter Faßbinder, der Reifenzieher und Schneideisen gehandhabt hat.
„Wissen Sie übrigens,“ setzte er hinzu, „wenn meine Schaluppe Ihr Schiff nicht hätte einholen können, wär' ich damit bis Algerien gefahren... na, und wenn ich diese Schaluppe nicht hätte austreiben können, wär' ich einfach ins Wasser gesprungen und Ihnen nachgeschwommen! Ja, das ist so einmal meine Art, bester Kapitän Bugarach!“
In der That, so war Clovis Dardentor, und die bei den jungen Leute, die diesem Original mit Vergnügen zuhörten, wurden jetzt von ihm mit einem Gruße beehrt, den sie lächelnd erwiderten.
„Ein nettes Kerlchen!“ murmelte Jean Taconnat.
In diesem Augenblicke drehte der „Argeles“ um ein Viertel und stellte sich in die Richtung nach dem Cap Agde ein.
„Ach, Kapitän Bugarach, eine Frage von höchster Bedeutung!“ nahm Clovis Dardentor noch einmal das Wort.
„Bitte, sprechen Sie.“
„Um wieviel Uhr wird hier gespeist?“
„Um fünf Uhr.“
„ Also in fünfundvierzig Minuten. Eher nicht... aber ja nicht später!“
Clovis Dardentor machte eine Pirouette nach einem Blicke auf seine kostbare Repetieruhr, die an schwerer Goldkette im Knopfloche seiner Weste aus gutem Diagonal mit großen Metallknöpfen befestigt war.
Entschieden hatte dieser Perpignaneser, um einen durch sein ganzes Auftreten gerechtfertigten Ausdruck anzuwenden, „viel Chic“, wie er so mit dem weichen Filzhute mehr nach dem rechten Ohre, mit seinem karrierten Mac-Farlane, dem Feldstecher am Riemen, mit der Reisedecke, die über die Schulter bis zur Taille hinunter hing, den Pluderkniehosen, den Gamaschen mit kupfernen Schnallen und mit den doppelsohligen Jagdstiefeletten dastand.
Und wiederum erschallte seine scharfe, durchdringende Stimme.
„Wenn ich die Abfahrt versäumt hatte, die Mittagstafel verfehle ich nicht, lieber Kapitän, und wenn Ihr Schiffskoch seine Sache gut gemacht hat, werden Sie mich nach Gebühr kauen sehen...“
Plötzlich wendete sich sein Redefluß, den bisherigen Curs aufgebend, einer andern Person zu.
Herr Désirandelle, der seine Gattin von dem endlichen Eintreffen des so unselig verspäteten Reisegefährten unterrichtet hatte, war eben wieder erschienen.
„Ach, liebster Freund, guten Tag!“ rief Clovis Dardentor. „Nun, und Frau Désirandelle?... Wo ist denn die vortreffliche Dame?... Und der schönste aller Agathoklesse?...“
„Keine Angst, Dardentor,“ antwortete Herr Désirandelle, „wir hatten uns nicht verspätet und der „Argeles“ brauchte nicht ohne uns abzufahren!“
„Was... Vorwürfe, mein Bester?...“
„Verdient hätten Sie sie gewiß!... Welche Unruhe haben Sie uns bereitet!... Wenn wir nun in Oran bei Frau Elissane ohne Sie eintrafen?...“
„O, ich hab' auch genug gewettert, Désirandelle... Da war nur der Kerl, der Pigorin, daran schuld!... Er hat mich mit seinen Proben von alten Rivesaltesweinen aufgehalten. Ich mußte kosten und immer wieder kosten... und als ich auf dem Kai des alten Bassins ankam, da kam der „Argeles“ gerade aus der Durchfahrt gedampft. Doch, hier bin ich ja, es ist also unnütz, über die Sache ein weiteres Wort zu verlieren oder die Augen zu rollen wie ein absterbender Lachs... Das könnte das Schiff nur in stärkeres Rollen bringen. – Nun aber, Ihre Frau?...“
„Liegt auf Ihrer Schlafstätte... ein wenig...“
„ Schon jetzt?...“
„Leider schon jetzt,“ seufzte Herr Désirandelle, dessen Lider zitterten, und auch ich selbst...
„Lieber, alter Freund, nehmen Sie einen Rath an,“ sagte Clovis Dardentor darauf. „Oeffnen Sie den Mund nicht wie jetzt... Halten Sie ihn möglichst geschlossen, sonst hieße das den Teufel herausfordern...“
„Du lieber Himmel,“ stammelte Herr Désirandelle, „Sie haben gut reden! Ach, diese Ueberfahrt nach Oran!... Weder Frau Désirandelle noch ich selbst hätte sie gewagt, wenn dabei nicht die Zukunft unsers Agathokles im Spiele war!“
Es handelte sich in der That um die Zukunft des einzigen Erben der Désirandelle's. Jeden Abend kam Clovis Dardentor, ein alter Freund der Familie, nach dem Hause in der Popinièrestraße, um da eine Partie Besique oder Piquet zu spielen. Er hatte dort jenes Kind fast geboren werden, hatte es wachsen sehen... wenigstens körperlich, denn die Intelligenz war bei ihm hinter dem Wachsthum weit zurückgeblieben. Agathokles besuchte später ein Lyceum ebenso erfolglos, wie die meisten trägen und geistig beschränkten Zöglinge. Von einer besondern Anlage für das oder jenes zeigte er keine Spur. Im Leben gar nichts zu thun, erschien ihm als das Ideal für den Menschen. Mit dem, was er später von seinen Eltern zu erwarten hatte, sah er sich einst im Genuß von zwölftausend Francs Rente. Das ist ja schon etwas; Herr und Frau Désirandelle hatten aber von einer weit rentenreicheren Zukunft ihres Sohnes geträumt. Sie kannten nämlich jene Familie Elissane, die vor ihrer Uebersiedlung nach Algerien in Perpignan gewohnt hatte. Frau Elissane, die Witwe eines frühern Kaufmanns und jetzt fünfzig Jahre alt, erfreute sich einer hübschen Wohlhabenheit, Dank dem von ihrem Gatten hinterlassenen Vermögen, der sich nach Zurückziehung von allen seinen Geschäften in Algerien niedergelassen hatte. Die Witwe besaß nur eine Tochter von zwanzig Jahren. Eine gute Partie, das Fräulein Elissane! sagte man bis zum Süden von Oran hier ebenso wie in den Ostpyrenäen oder wenigstens in einem gewissen Hause der Popinièrestraße. Was konnte da passender erscheinen, als eine Heirat zwischen Agathokles Désirandelle und Louise Elissane?
Ehe man sich jedoch heiratet, muß man sich kennen, und wenn sich Agathokles und Louise auch als Kinder gesehen hatten, bewahrten sie von einander doch keine Erinnerung mehr. Da nun Oran nicht nach Perpignan kam, weil Frau Elissane nicht leicht von der Scholle wegzubringen war, so mußte Perpignan wohl oder übel nach Oran gehen.
Das war die Veranlassung zu dieser Reise, obwohl Frau Désirandelle alle Zeichen der Seekrankheit schon verspürte, wenn sie nur Wellen auf einen Strand laufen sah, und auch Herr Désirandelle, trotz seiner Versicherungen, etwas furchtsamer Natur war. Da dachten die Leutchen an Clovis Dardentor. Dieser Perpignaneser war ein reiseerfahrener Mann, der es nicht abschlagen würde, seine Freunde zu begleiten. Vielleicht schätzte er den Werth des zu verheiratenden jungen Mannes recht niedrig; seiner Ansicht nach waren aber alle, die sich zu Ehemännern verwandeln wollten, einer so viel werth wie der andre. Gefiel der Agathokles der jungen Erbin, so machte sich die Sache ganz allein. Freilich, Louise Elissane war ein reizendes Mädchen... kurz, wenn die Désirandelle's erst in Oran angelangt waren, wird es Zeit sein, sie dem geneigten Leser vor- und ihm freizustellen, Agathokles auszustechen.
Wir wissen also nun, zu welchem Zwecke sich die kleine perpignanesische Gesellschaft auf dem „Argeles“ eingeschifft hatte und weshalb sie selbst eine Fahrt über das Mittelmeer wagte. In Erwartung der Stunde zum Essen begab sich Clovis Dardentor nach dem Oberdeck, wo sich diejenigen Passagiere der erster Cajüte befanden, die das Schwanken des Schiffs noch nicht in ihre Cabinen verscheucht hatte. Herr Désirandelle, dessen Blässe fortwährend zunahm, folgte ihm und machte sich's auf einer Bank bequem.
Agathokles kam auch heran.
„He, mein Junge, Du bist besser construiert, als Dein Vater!“ begann Dardentor. „Bei dem knarrt es schon an allen Ecken...“
Agathokles begnügte sich zu antworten, daß „es bei ihm nicht knarrte“.
„Desto besser für Dich, und suche nur bis zum Ende auszuhalten. Geh' nicht da hinunter, um eine Physiognomie aus Papiermaché oder eine Miene wie ein Kürbis in Marmelade aufzustecken!“
Nein, das war nicht zu fürchten. Das Meer that dem jungen Manne nichts an.
Clovis Dardentor hatte es nicht für angezeigt gehalten, nach der Cabine der Frau Désirandelle hinunter zu gehen. Die gute Dame wußte ja, daß er an Bord war, und das genügte. Trostworte von ihm hätten auf sie auch keinen heilsamen Einfluß ausgeübt. Und dazu gehörte Herr Dardentor zu der Kategorie von abscheulichen Menschen, die immer bereit sind, über die Opfer der Seekrankheit zu spotten. Unter dem Vorwande, daß sie nicht davon leiden, wollen sie nicht zugestehen, daß man sie überhaupt bekommen könnte. Man sollte sie einfach an der Raa des Großsegels aufhängen!
Der „Argeles“ befand sich auf der Höhe des Cap Agde, als auf dem Vordertheile ein Glockenschlag erklang. Es war fünf Uhr... die Stunde zum Essen.
Bisher hatte sich das Stampfen und Schlingern des Dampfers noch nicht besonders bemerkbar gemacht. Der, wenn auch etwas kurze, Wellenschlag erschien der größten Zahl der Passagiere recht erträglich. Der „Argeles“ erhielt die Wellen von rückwärts und lief mit ihnen. Es war also zu hoffen, daß es dem Mittags essen nicht an Theilnehmern fehlen werde. Die männlichen und sogar fünf bis sechs weibliche Passagiere stiegen die Doppeltreppe vom Oberdeck hinab und nahmen ihre an der Tafel für sie belegten Plätze ein.
Herr Eustache Oriental saß auf dem seinigen, sichtlich schon mit großer Ungeduld. Seit zwei Stunden war er hier schon angenagelt. Alles ließ jedoch hoffen, daß dieser Jäger auf gute Plätze nach dem Essen nach dem Deck hinauf gehen und nicht bis zum Eintreffen im Hafen an denselben Stuhl gefesselt bleiben werde.
Der Kapitän Bugarach und Doctor Bruno hielten sich hinten im Salon auf. Sie überhoben sich nie der Verpflichtung, die Honneurs an der Tafel zu machen. Clovis Dardentor und die Herren Désirandelle, Vater und Sohn, begaben sich nach dem obern Ende der Tafel. In dem Verlangen, diese verschiednen Typen von Perpignanefern zu studieren, nahmen Marcel Lornans und Jean Taconnat neben Herrn Dardentor Platz. Die Uebrigen – zusammen etwa zwanzig – setzten sich beliebig nieder, die einen in die Nachbarschaft Oriental's ganz in der Nähe der Offiz, von der aus die Schüsseln unter Leitung des Restaurateurs ausgegeben wurden.
Herr Clovis Dardentor machte sofort Bekanntschaft mit dem Doctor, und bei zwei so redelustigen Leuten konnte die Unterhaltung in der Umgebung des Kapitän Bugarach nicht wohl ins Stocken kommen.
„Herr Doctor,“ begann Dardentor, „ich fühle mich glücklich... sehr glücklich, Ihnen die Hand drücken zu können, und wäre sie mit Mikroben gespickt, wie die aller Ihrer Collegen...“
„Keine Furcht, Herr Dardentor,“ antwortete der Doctor Bruno in demselben launigen Tone, „ich habe mich eben mit Borwasser gewaschen.“
„Pah, was scheeren mich die Mikroben und die Mikrobentödter!“ rief Herr Dardentor. „Ich bin niemals krank gewesen, keinen Tag, keine Stunde, mein lieber Aesculap!... Keine fünf Minuten lang hab' ich je auch nur einen Schnupfen gehabt... niemals eine Pille oder eine Tisane eingenommen!... Sie werden mir gestatten zu glauben, daß ich selbst auf Ihre Verordnung hin mich jedes Medicinierens enthalte. O, ich gehe sehr gerne mit Aerzten um!... Das sind ganz brave Herren, die nur den einen Fehler haben, den Leuten schon die Gesundheit zu verderben, wenn sie ihnen nur nach dem Puls fühlen oder ihre Zunge ansehen!... Im übrigen aber bin ich entzückt, mich an Ihre Seite setzen zu können, und wenn das Essen gut ist, werd' ich ihm alle Ehre anthun!“
Der Doctor Bruno hielt sich noch nicht für geschlagen, obgleich er erkannt hatte, daß sein Nachbar ihn in der Geschwätzigkeit übertraf. Er gab seine Antworten, ohne die Aerzte gegen einen so wohl ausgerüsteten Gegner besonders in Schutz zu nehmen. Da überdies die Suppe aufgetragen war, dachte jeder nur noch daran, seinen durch die Seeluft erhöhten Appetit zu befriedigen.
Anfangs blieben die Schwankungen des Dampfers so schwach, daß sie die Tischgäste nicht belästigten, mit Ausnahme des Herrn Désirandelle, der wie eine Serviette weiß geworden war. Man fühlte nichts von dem Schaukeln, das die Horizontale compromittiert, noch von dem Heben und Senken, das die Verticalität stört. Aenderte sich dieser Sachverhalt während der Mahlzeit nicht, so konnten die verschiednen Gerichte ohne Schaden bis zum Dessert einander ablösen.
Plötzlich begann jedoch das Tafelgeschirr zu klappern. Die Hängelampen des Speisesalons wiegten sich über den Köpfen der Tischgäste hin und her. Ein Rollen und Stampfen verband sich, um eine allgemeine Verwirrung unter den Passagieren hervorzurufen, deren Sitze sich zuweilen beunruhigend neigten. Arme und Hände verloren die Sicherheit ihrer Bewegung. Gläser waren nur schwierig an den Mund zu setzen und die Gabeln stachen den Leuten meist in die Wangen oder ins Kinn.
Die meisten Tischgäste konnten das nicht ertragen. Herr Désirandelle war einer der ersten, der die Tafel mit verrätherischer Eile verließ. So und so viele andre folgten ihm, um draußen frische Luft zu schöpfen, trotz dem Zureden des Kapitän Bugarach, der wiederholt erklärte:
„Das hat nichts zu bedeuten, meine Herrn... dieser Seitensprung des „Argeles“ wird nicht lange anhalten!“
Und Clovis Dardentor rief dazwischen:
„Da wackeln sie nun im reinen Gänsemarsch hinaus!
„Ja, so ist es immer!“ erwiderte der Kapitän, mit den Augen zwinkernd.
„Nein! versetzte unser Perpignaneser, ich begreife nicht, daß Einer das Herz nicht im Leibe behält!“
Angenommen, daß dieser Ausdruck den Gesetzen des menschlichen Organismus nicht widerspricht, und wenn das Herz wirklich seine Ortslage verändern kann, wie es jene volksthümliche Redeweise andeutet, so strebte das Herz jener guten Leute doch keineswegs danach, hinab-, sondern vielmehr zu ihren Lippen emporzusteigen. Kurz, als der Restaurateur die Zwischengerichte herumreichen ließ, zählte man an der Tafel nicht mehr als etwa zehn unerschrockne Gäste. Zu ihnen gehörten außer den an solche rutschende Teller und Schüsseln der Dining-rooms gewöhnten Kapitän Bugarach und Doctor Bruno zunächst Clovis Dardentor, der treu auf Posten blieb, Agathokles, den die Flucht seines Vaters sehr gleichgiltig ließ, die beiden Vettern Marcel Lornans und Jean Taconnat, deren Verdauung in keiner Weise gestört war, und der unermüdliche Eustache Oriental, der auf die weiteren Gänge spannte, die bedienenden Burschen ausfragte und gar nicht daran dachte, sich über die unzeitgemäßen Stöße des „Argeles“ zu beklagen, da er ja die Auswahl unter den dargebotenen Gerichten hatte.
Nach dem Auszuge der schon zu Anfang der Tafel außer Rand und Band gerathnen Tischgäste aber warf der Kapitän Bugarach dem Doctor Bruno einen eigenthümlichen Blick zu, und dieser antwortete darauf mit ebenso seltsamem Lächeln. Dieses Lächeln und jener Blick schienen verständlich genug gewesen zu sein, denn wie auf einem Spiegel glänzten sie von dem sonst unbeweglichen Gesicht des Restaurateurs wieder zurück.
Da stieß Jean Taconnat seinen Vetter mit dem Ellbogen und sagte leise:
„Das war der gewöhnliche „Kniff“!“
„Der mir sehr gleichgiltig ist, Jean!“
„Und mir erst recht!“ versicherte Jean Taconnat, der auf seinen Teller eine saftige Schnitte von zart rosafarbnem Lachs gleiten ließ, welche Herr Oriental wohl übersehen hatte.
Der angedeutete „Kniff“ aber besteht einfach in Folgendem:
Es giebt Kapitäne – bei Leibe nicht alle, doch es scheint welche zu geben – die zu sehr durchsichtigem Zwecke die Richtung ihres Schiffes grade beim Beginn der Tafel etwas ändern lassen... oh, nur durch ein leichtes Umlegen des Steuers, etwas andern bedarf es nicht. Kann man ihnen deshalb wirklich einen Vorwurf machen? Ist es denn verboten, ein Fahrzeug grade gegen den Seegang einzustellen und obendrein nur für eine Viertelstunde? Ist es ein Verbrechen, mit dem Rollen und Stampfen unter einer Decke zu spielen, um eine Ersparniß an den Kosten der Tafel zu erreichen?
Uebrigens dauerte die Unruhe der Teller und Schüsseln nicht über Gebühr lange an. Die Hinausgemaßregelten fühlten sich aber nicht versucht, ihre Plätze am gemeinsamen Tische wieder einzunehmen, obgleich der Dampfer wieder einen ruhigeren und, sagen wir, ehrbareren Gang angenommen hatte.
Das bis auf einige ausgewählte Tischgäste reducierte Diner konnte also unter den günstigsten Verhältnissen fortgesetzt werden, ohne daß sich jemand um die Unglücklichen bekümmerte, die aus dem Speisesalon vertrieben waren und jetzt auf dem Verdeck ebenso verschiedne, wie beklagenswerthe Stellungen und Lagen einnahmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor
Der "Argeles" dampfte mitten in die Durchfahrt ein.
„Ja, wer weiß?“ antwortete Jean Tacounat.
Dardentor schwang sich über die Schanzkleidung.
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