Kapitel (Worin dem Leser die Hauptperson dieser Erzählung wirklich vorgestellt wird)

„Da wären wir nun unterwegs,“ sagte Marcel Lornans, „unterwegs nach...“

„Dem Unbekannten, ergänzte Jean Taconnat die Worte des Freundes, nach dem Unbekannten, das man durchstöbern muß, um etwas Neues zu finden, hat Beaudelair gesagt.


„Nach dem Unbekannten, Jean?... Hoffst Du dem bei einer einfachen Fahrt von Frankreich nach Afrika, auf einer Reise von Cette nach Oran zu begegnen?“

„Handelte es sich nur um eine Seefahrt von dreißig bis sechsunddreißig Stunden, Marcel, um eine einfache Reise, deren erstes und vielleicht einziges Ziel Oran wäre, dann möchte ich das nicht behaupten. Doch weiß man denn, wenn man abreist, wohin man kommt?...“

„Gewiß, Jean, mindestens wenn ein Dampfer Dich dahin befördert, wohin Du Dich begeben sollst, soweit nicht Unfälle auf dem Meere....“

„O, wer spricht denn davon, Marcel?“ unterbrach ihn Jean Taconnat wegwerfenden Tones. „Seeunfälle, ein Zusammenstoß, ein Schiffbruch, eine Kesselexplosion und so eine zwanzigjährige Robinsonade auf wüster Insel... ich danke bestens!.. Nein, das Unbekannte „was mir übrigens wenig Kopfschmerzen macht „das ist das X des Lebens, das Geheimniß unsrer Bestimmung, das die Menschen in alten Zeiten auf das Fell der Ziege des Amalthäos gravierten, das im großen Buche von Oben geschrieben steht, welches wir trotz der besten Brillen nicht lesen können; das ist die Urne, worin die Lose des Lebens liegen, die die Hand des Zufalls zieht....“

„Halt! Einen Damm vor diese Hochfluth von Metaphern, Jean,“ rief Marcel Lornans, „oder Du machst mich noch seekrank!“

„Es ist die geheimnißvolle Decoration, vor der der Vorhang allmählich in die Höhe geht....“

„Genug... genug!... Geh' nur nicht gleich von vornherein so ins Zeug!... Galoppiere nicht auf dem Steckenpferde der Chimären!... Reite nicht gleich mit verhängtem Zügel davon!“

„Ah... sieh einmal an!... Jetzt scheint's mir, verirrst Du Dich ins Reich der Metaphern!“

„Ja, Du hast recht, Jean! Nein, wir wollen nüchtern sprechen und die suchen ansehen, wie sie sind. Was wir vorhaben, liegt ja ziemlich klar vor Augen. Wir fahren, jeder mit tausend Francs in der Tasche, jetzt von Cette nach Oran, um dort bei den Siebenten Afrikanischen Jägern einzutreten. Das ist sehr klug und weise, sehr einfach, und von dem Unbekannten mit seinen phantastischen Perspectiven ist darin keine Spur.“

„Ja, wer weiß?“ antwortete Jean Taconnat, indem er mit dem Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft schrieb.

Dieses Zwiegespräch, das an gewissen unterscheidenden Zügen den Charakter der zwei jungen Leute erkennen läßt, wurde auf dem hintern Theile des Oberdecks geführt. Von der Bank an dem mit Netzwerk ausgefüllten Geländer wurde der Ausblick nach vorn nur durch die Commandobrücke unterbrochen. die zwischen Groß- und Fockmast des Dampfers emporragte. Etwa zwanzig Passagiere saßen auf den Seitenbänken oder auf Klappstühlen, die ein an spinnewebförmig verzweigtem Hißtau hängendes Zeltdach vor den Strahlen der Sonne schützte.

Zu diesen Passagieren gehörten auch Désirandelle und sein Sohn. Der erstere lief fieberhaft auf dem Deck hin und her und hielt die Arme einmal auf dem Rücken und dann wieder zum Himmel empor. Hierauf lehnte er sich über das Geländer und starrte in das Kielwasser des „Argeles“, als ob der zur Robbe verwandelte Herr Dardentor mitten in dem dahinwirbelnden Schaumstrome auftauchen sollte.

Agathokles beharrte bei der Bewahrung vollständigster Gleichgiltigkeit gegenüber der Fehlrechnung, die seinen Eltern so viele Unruhe und Aerger bereitete.

Von den übrigen Passagieren lustwandelten die einen, die gegen die, übrigens nur schwachen Bewegungen des Schiffes unempfindlicher waren, hin und her, plauderten, rauchten und ließen ein Fernrohr vom Dampfer von Hand zu Hand gehen, um die zurückweichende Küste zu betrachten, an der nach Westen hin schon einzelne stolze Berghäupter der Pyrenäen auftauchten; die andern, die von dem Schwanken des „Argeles“ mehr belästigt wurden, saßen still auf den Rohrlehnstühlen in der Ecke, der sie für die ganze Ueberfahrtszeit den Vorzug gaben. Einzelne in Decken eingehüllte Damen, die der unvermeidlichen Unbehaglichkeit der Fahrt ergeben, wenn auch mit dem Ausdruck völliger Niedergeschlagenheit entgegensahen, hatten sich unter dem Schutz der Deckbauten mehr nach der Mitte zu niedergelassen, wo man das Stampfen und Rollen des Schiffes am wenigsten spürt... Gruppen von Müttern mit ihren Kindern, die ein recht hübsches Bild abgaben, doch gewiß bedauerten, nicht schon um fünfzig Stunden älter zu sein. Zwischen den weiblichen Reisenden bewegten sich die Stewardesses des Dampfers hin und her; zwischen den Herren mehrere Schiffsjungen, jedes Winks gewärtig, um herbeizueilen und ihre unentbehrlichen und oft erwünschten Dienste anzubieten.

Der Schiffsarzt des „Argeles“ legte sich schon immer die gewohnte Frage vor, wie viele von den Passagieren wohl an der Tafel im Speisesalon Platz nehmen würden, wenn nach etwa zwei Stunden die Glocke zum Essen rief. Er täuschte sich auch nicht in der Annahme, daß wie gewöhnlich sechzig bis siebzig Procent davon bei der ersten Mahlzeit fehlen würden.

Es war das ein kugelrundes, lustiges, schwatzhaftes Männchen von unerschütterlicher guter Laune und trotz seiner fünfzig Jahre von überraschender Lebhaftigkeit. Er aß und trank tüchtig und besaß eine unglaubliche Sammlung von Recepten und Verordnungen gegen die Seekrankheit, an die er selbst nicht im geringsten glaubte. Er hatte aber so viele tröstende Worte zur Hand und redete seiner Passagier-Kundschaft so überzeugend zu, daß die unglücklichen Opfer Neptuns zwischen allem Jammer lächeln lernten.

„O, es wird nicht so schlimm werden,“ pflegte er zu sagen. „Achten Sie nur hübsch darauf, beim Aufsteigen des Schiffes aus- und beim Senken desselben einzuathmen. Sobald Sie den Fuß wieder auf festen Boden setzen, ist die Sache gänzlich vorbei, dann fühlen Sie sich erst recht gesund!... Das verhütet viele spätre Krankheiten!... Ich sage Ihnen, so eine Ueberfahrt ist mindestens so viel werth, wie ein Saisonaufenthalt in Vichy oder in Uriage!“

Die beiden jungen Leute hatten das lebhafte, muntre Männchen gleich anfangs gesehen, er nannte sich Doctor Bruno, und Marcel Lornans sagte zu Jean Taconnat:

„Das ist ja ein drolliger Doctor, der die Bezeichnung eines heimlichen Mörders nicht verdient...“

„Doch nur, weil er eine einzige Krankheit behandelt, an der man überhaupt nicht zugrundegeht!“

„Ja, wer weiß?“ antwortete Jean Tacounat.

Und Herr Eustache Oriental, der nicht auf dem Verdeck erschienen war, unterlag dessen Magen schon bedauerlichen Umwälzungen oder - um einen Ausdruck aus dem Seemannsjargon zu gebrauchen - zählte er seine Hemden?“ Man trifft Unglückliche, die solche dutzendweise haben - doch nicht in ihrer Reisetasche.

Nein! Der Träger jenes poetischen Namens war nicht krank. Er war es auf See niemals gewesen und würde es nie werden. Wer sich über die Treppe vom Oberdeck nach dem Speisesalon begab, der hätte ihn da „am guten Ende“ der Tafel, an dem Platze sitzen sehen, den er erwählt hatte und vor dem Nachtische jedenfalls nicht verlassen wollte. Wer hätte ihm auch das Recht des ersten Tischgastes streitig machen können? Uebrigens hätte die Gegenwart des Doctor Bruno genügt, um für Lebhaftigkeit auf dem Oberdeck zu sorgen. Mit allen Passagieren Bekanntschaft zu machen, war ja sein Vergnügen und seine Pflicht. Begierig zu hören, woher sie kamen und wohin sie gingen, neugierig wie eine richtige Evatochter, geschwätzig wie ein Paar Elstern oder Amseln, ein wahres Frettchen in einem Fuchsbau, ging er vom Einen zum Andern, beglückwünschte Alle, den „Argeles“, den besten, am vortheilhaftesten eingerichteten und deshalb bequemsten Dampfer der algerischen Linien zur Reise gewählt zu haben, einen Dampfer, den der Kapitän Bugarach führte und der „er sprach das nicht aus, doch er ließ es durchschimmern „einen Arzt wie den Doctor Bruno besaß u. s. w. u. s. w. Der „Argeles“ werde schon mit jedem Sturme fertig, er durchpflüge das Mittelmeer, ohne sich nur die Nase seines Vorderstevens naß zu machen, u. s. w. u. s. w. Den Kindern bot der gute Doctor Zuckerplätzchen an... Die kleinen Engel könnten herzhaft zufallen... Da unten im Schiffsraume gäb' es davon noch Vorrath genug u. s. w. u. s. w.

Marcel Lornans und Jean Taconnat lächelten bei allen den Mätzchen des guten Mannes. Sie kannten schon diesen Schlag von Aerzten, der unter dem Personal der Ueberseedampfer nicht selten ist... die reine See- und Colonialzeitung!

„Ach, meine Herren,“ begann er, neben den beiden Freunden Platz nehmend, „der Schiffsarzt hat die Pflicht, sich mit allen Passagieren bekannt zu machen... Sie werden mir also gestatten...“

„Herzlich gern, Herr Doctor,“ versicherte Jean Taconnat. „Da wir in die Lage kommen könnten, in Ihre Hände zu fallen - natürlich um auch daraus wieder aufzuerstehen - ist es angebracht, daß wir sie Ihnen drücken...“

Ein warmer Händedruck wurde gegenseitig ausgetauscht.

„Wenn mein Spürsinn mich nicht täuscht,“ fuhr der Doctor Bruno fort, „hab' ich das Vergnügen, mit Parisern zu sprechen...“

„Ganz recht,“ erklärte Marcel Lornans, „mit Parisern, die auch aus Paris sind...“

„Aus Paris... herrlich...“ rief der Doctor... „aus Paris selbst... nicht aus der Bannmeile... vielleicht aus dem Centrum der Stadt?...“

„Aus dem Viertel der Bank,“ antwortete Jean Taconnat, „und wenn Ihnen daran liegt, daß ich das ganz genau angebe, aus der Montmartrestraße Nummer hundertdreiunddreißig, eine Treppe, Thüre links...“

„O, meine Herren,“ entschuldigte sich der Doctor Bruno, „meine Fragen mögen wohl indiscret erscheinen. Doch das beruht auf meiner Thätigkeit... ein Arzt muß alles wissen, selbst das, was ihn gar nichts angeht. Sie verzeihen also...“

„Bitte, bitte, das war schon vorher geschehen,“ erklärte Marcel Lornans.

Nun ließ aber der Doctor Bruno die Flügel seiner Wörtermühle laufen. Seine Zunge arbeitete wie eine Klapper. Und mit welchen Ausrufen und Gesten begleitete er die Wiedergabe dessen, was er schon von dem und jenem in Erfahrung gebracht hatte; wie lachte er über die Familie Désirandelle, über den Herrn Dardentor, der ihr nicht Wort gehalten hatte, wie rühmte er im voraus das Diner, das vorzüglich sein werde, versicherte, daß der „Argeles“ morgen früh in Sicht der Balearen schwimmen werde, wo er dann einen mehrstündigen, für alle Touristen höchst reizvollen Aufenthalt nehme... kurz, er ließ seiner Schwatzhaftigkeit, oder um ein Wort zu gebrauchen, das seinen Redeschwall noch besser kennzeichnet, seiner chronischen Logorrhoe völlig die Zügel schießen.

„Und bevor Sie sich einschifften, meine Herren,“ fragte er aufstehend, „haben Sie wohl Zeit gefunden, Cette in Augenschein zu nehmen?“

„Nein, Herr Doctor, zu unserm Bedauern nicht,“ antwortete Marcel Lornans.

„O, das ist schade!.. Die Stadt lohnt sich der Mühe!... Und haben Sie Oran schon einmal besucht?“

„Noch nicht einmal im Traume!“ erwiderte Jean Taconnat.

Jetzt kam ein Schiffsjunge, der den Doctor Bruno zum Kapitän Bugarach bestellte. Der Schiffsarzt verließ die beiden Freunde, doch nicht ohne sie noch mit neuen Höflichkeiten zu überschütten und mit der Absicht, ein Gespräch wieder anzuknüpfen, aus dem er noch so vieles erfahren konnte.

Es erscheint hier am Platze, das, was er über die Vergangenheit und die Gegenwart der beiden jungen Leute nicht gehört hatte, kurz zusammen zu fassen.

Marcel Lornans und Jean Taconnat waren Geschwisterkinder durch ihre Mütter, zwei Schwestern und geborne Pariserinnen. Beide verloren ihren Vater sehr frühzeitig und wuchsen unter mäßigen Vermögensverhältnissen auf. Erst Zöglinge derselben Schule, wandte sich Jean Taconnat nach Absolvierung derselben der höhern Handelswissenschaft zu, während Marcel Lornans sich dem Studium der Rechte widmete. Sie gehörten von zu Hause den kleinbürgerlichen Handelskreisen von Paris an und hatten keinen hohen Ehrgeiz. Eng verbunden, gleich zwei Brüdern im nämlichen Hause, empfanden sie für einander die wärmste Zuneigung, eine Freundschaft, deren Band nichts würde zerreißen können, obwohl ihre Charaktere starke Unterschiede zeigten.

Der nachdenkende, aufmerksame und ordnungsliebende Marcel Lornans hatte das Leben frühzeitig von seiner ernsten Seite aufgefaßt.

Jean Taconnat dagegen war der richtige Gassenbube, ein entsprungenes Fohlen von permanentem Uebermuth. Er liebte das Vergnügen vielleicht etwas mehr als die Arbeit und war der, der das Haus immer in Bewegung und in lustiger Stimmung erhielt. Zog er sich durch seine ungestüme Lebhaftigkeit auch zuweilen Vorwürfe zu, so verstand er es doch aus dem Grunde, sich dafür Verzeihung zu erwirken. Im übrigen aber besaß er, ganz wie sein Vetter, Eigenschaften, die seine Fehler reichlich aufwogen.

Beide besaßen ein gutes, ehrliches und edles Herz. Einer wie der Andre verehrte seine Mutter aufrichtig, und man wird es Frau Lornans und Frau Taconnat verzeihen dürfen, ihre Kinder bis zur Schwäche geliebt zu haben, da diese das wenigstens nicht mißbraucht hatten.

Mit zwanzig Jahren traten sie als „Dispensierte“ (etwa „Freiwillige“) ins Heer ein, wo sie nur ein Jahr unter der Fahne zu verbringen hatten. Ihre Zeit dienten sie in einem Jägerregiment ab, das nicht weit von Paris in Garnison lag. Auch hier wollte es das Glück, daß sie dieselbe Compagnie wie dasselbe Zimmer theilten. Das Leben im Quartier war ihnen keineswegs unangenehm. Sie verrichteten ihren Dienst mit Eifer und gutem Humor, waren vortreffliche Soldaten, die von ihren Vorgesetzten belobt, von ihren Kameraden geliebt wurden, und wären sie von Kindheit auf mehr darauf hingewiesen worden, hätten sie sich wohl nicht ungern dem Kriegshandwerk gänzlich gewidmet. Während ihres Urlaubs hatten sie zwar noch einige Stubenarreste abzumachen - und wer sich solche nicht zuzieht, scheint bei den Soldaten nicht gut angeschrieben zu stehen - dennoch verließen sie schließlich das Regiment mit dem Zeugniß „Gut“ in der Tasche.

Ins mütterliche Haus zurückgekehrt, sahen Marcel Lornans und Jean Taconnat, die jetzt einundzwanzig Jahre zählten, wohl ein, daß die Stunde gekommen sei, an ernsthafte Arbeit zu gehen. In Uebereinstimmung mit ihren Müttern entschieden sich beide für den Eintritt in ein hochgeachtetes Handelshaus.

Hier sollten sie sich zuerst über den ganzen Geschäftsgang unterrichten und sich dann selbst mit einem kleinen Capitale betheiligen.

Frau Lornans und Frau Taconnat redeten ihren Kindern zu, dem Glück auf diesem Wege die Hand zu bieten. Ihnen schien damit die Zukunft der geliebten Söhne gesichert. Sie schwelgten schon in dem Gedanken, daß jene in einigen Jahren etabliert sein, eine passende Ehe eingehen würden, daß sie aus einfachen Angestellten Associés, später, wenn auch noch jung an Jahren, Alleineigenthümer wären, daß ihre Geschäfte blühten, der hochachtbare Name der Großväter in den Enkeln fortleben werde u. s. w. u. s. w. „kurz, sie hegten allerlei Träume, wie alle Mütter, denen solche ja tief aus dem Herzen kommen.

Diese schönen Träume sollten leider nicht in Erfüllung gehen. Einige Monate nach ihrer Heimkehr vom Regiment und noch vor dem Eintritt in das Handelshaus, in dem sie sich die ersten Sporen verdienen sollten, traf die beiden Vettern ein doppelter, sie schmerzlichst verwundender Schicksalsschlag.

Eine epidemische Krankheit, die die mittleren Viertel von Paris schwer heimsuchte, raffte Frau Lornans und Frau Taconnat binnen wenigen Wochen hinweg.

Welcher Schmerz für die jungen Leute, die nun, von demselben Blitzstrahl getroffen, ihre Familie auf ihre Personen zusammengeschmolzen sahen. Sie waren wirklich wie vom Donner gerührt und konnten an ein solches Unglück gar nicht glauben lernen.

Jetzt mußten sie indeß nothwendig an die Zukunft denken. Sie erbten jeder etwa hunderttausend Francs, d. h. bei dem jetzt so sehr zurückgegangnen Zinsfuß eine Rente von drei- bis dreiundeinhalbtausend Francs. Bei so beschränktem Einkommen darf einer freilich kein Taugenichts oder Müßiggänger bleiben. Das wollten sie übrigens auch gar nicht. Doch war es rathsam, ihr kleines Vermögen in die zur Zeit recht schwierigen Geschäfte zu stecken, es den Wechselfällen der Industrie oder des Handels auszusetzen? Kurz, sollten sie den von ihren Müttern entworfnen Zukunftsplänen Folge geben?... Frau Lornans und Frau Taconnat waren ja nicht mehr da, sie dazu anzufeuern.

Nun gab es einen alten Freund der Familie, einen pensionierten Officier und früheren Rittmeister der Afrikanischen Jäger, der sich jetzt einmischte und dessen Einfluß sie unterlagen. Der Rittmeister Beauregard sagte ihnen grade heraus seine Meinung, die dahinging, daß sie ihr Erbtheil nicht aufs Spiel setzen. sondern es in guten französischen Eisenbahn-Obligationen anlegen sollten, sie selbst aber möchten, da sie sich ihrer Dienstzeit ja mit Vergnügen erinnerten, wieder ins Heer eintreten... da würden sie bald zu Unterofficieren avancieren... nach abgelegtem Examen in die Kriegsschule von Saumur eintreten... darauf Unterlieutenants werden... damit würde sich ihnen eine schöne, interessante und hochgeachtete Carrière eröffnen... ein Officier mit dreitausend Francs Rente, ohne seinen Sold zu rechnen, befand sich, wenn man dem Rittmeister Beauregard glauben durfte, in der beneidenswerthesten Lage von der Welt.... Dann das weitere Avancement... später das Kreuz der Ehrenlegion... endlich der Ruhm... kurz, alles, was ein alter Kriegsmann von den Truppen in Afrika nur sagen konnte....

Es mag dahingestellt bleiben, ob Marcel Lornans und Jean Taconnat die Ueberzeugung theilten, daß der Soldatenberuf vor allem geeignet sei, Kopf und Herz jede Befriedigung zu gewähren, und auch, ob sie sich ebenso „gradeheraus“ auf das Antwort gaben, was der Rittmeister Beauregard ihnen vorgeschlagen hatte. Sprachen sie unter vier Augen darüber, so erörterten sie wenigstens mehr als einmal die Frage, ob das für sie der einzige empfehlenswerthe Weg sei und ob sie, dem Pfade der Kriegerehre folgend, auch ihrem Glück entgegengehen würden..

„Was wagen wir bei einem Versuche?“ sagte Jean Taconnat. „Vielleicht hat unser graubärtiger Eisenfresser doch recht. Er bietet uns Empfehlungen an den Oberst der Siebenten Jäger in Oran an.... Fahren wir also nach Oran... unterwegs können wir uns die Sache ja noch überlegen. Sind wir dann auf algerischem Boden, so unterzeichnen wir den Dienstcontract oder lassen es bleiben.“

„Dann hat es uns aber die Ueberfahrt dahin gekostet.. bedenk es wohl, eine ganz nutzlose Ausgabe,“ wendete der weise Marcel Lornans ein.

„Sapperment, Du bist doch die Vernunft selbst!“ antwortete Jean Taconnat. „Mit dem Aufwande von ein paar hundert Francs haben wir dann aber den Boden des zweiten Frankreich betreten! Sieh, diese schöne Phrase allein ist schon das Geld werth, Marcel.... Und dann... wer weiß?...“

„Was willst Du damit sagen, Jean?“

„Was man gewöhnlich damit sagt, nichts weiter...“

Nun, Marcel Lornans ergab sich ohne langes Zureden. Es wurde beschlossen, daß die beiden Vettern mit dem Empfehlungsschreiben des alten Schwadronsführers an seinen Freund den Oberst der 7. Jäger in der Tasche, nach Oran reisen wollten. Dort angelangt, wollten sie sich die Sache aus der Nähe ansehen, und der Rittmeister Beauregard zweifelte gar nicht, daß ihre Entscheidung sich mit seinen Rathschlägen decken würde. Aenderten sie, wenn die Stunde zur Unterzeichnung des Dienstvertrages herangekommen war, ihre Entschließung, so stand es ihnen ja frei, nach Paris zurückzukehren und sich einer andern Laufbahn zuzuwenden. Aber selbst in dem Falle, daß ihre Reise nutzlos wäre, meinte Jean Taconnat doch, daß sie eine „circuläre“ werden müsse. Was er unter diesem Worte verstand, war Marcel Lornans freilich nicht sofort klar.

„Ich verstehe darunter,“ fuhr jener deshalb fort, „daß wir gut daran thun würden, uns bei dieser Gelegenheit das Land anzusehen.“

„Und wie?“

„Indem wir für Hin- und Rückreise verschiedne Wege wählen, das wird nicht viel mehr kosten, aber sehr viel angenehmer sein. Wenn wir uns zum Beispiel von Cette nach Oran einschifften und von da nach Algier gingen, um dann einen Dampfer nach Marseille zu benützen....“

„Das wäre ein Gedanke!“

„Ein vortrefflicher, sag ich Dir, Marcel! Ja, es sind die sieben Weisen Griechenlands, die durch meinen Mund sprechen!“

Marcel Lornans konnte einem Entschlusse, der so unzweideutig durch die größten Geister des Alterthums gutgeheißen war, nicht entgegentreten, und so kam es denn, daß sich die beiden Vettern heute, am 27. April, am Bord des „Argeles“ befanden.

Marcel Lornans zählte jetzt zweiundzwanzig Jahre, Jean Taconnat nur einige Monate weniger. Der erstere, von übermittlerm Wuchs, war größer als der zweite „der Unterschied betrug jedoch nur zwei bis drei Centimeter „doch von eleganter Haltung und recht angenehmen Gesichtszügen. Dazu hatte er etwas verschleierte, ungemein sanft blickende Augen und blonden Bart, den er aber ohne Widerspruch den dienstlichen Vorschriften zu opfern bereit war.

Wenn Jean Taconnat die äußern Eigenschaften seines Vetters nicht besaß und nicht als das erschien, was man im Mittelstande einen „schönen Cavalier“ zu nennen liebt, so darf man nicht glauben, daß er einen unangenehmen Eindruck gemacht hätte. Er war ziemlich stark gebräunt, hatte einen tüchtigen Schnurrbart, sprechenden Ausdruck, Augen von großer Lebhaftigkeit, graziöse Haltung und im Ganzen das Aussehen eines guten Jungen.

Der Leser kennt nun die beiden jungen Leute körperlich und geistig. Jetzt haben sie sich auf eine Reise begeben, die an sich nicht außergewöhnlich ist. Sie sind einfach Passagiere der ersten Cajüte auf einem nach Oran bestimmten Dampfboote. Sollten sie sich nach der Ankunft in Cavaliere zweiter Classe bei den 7. Afrikanischen Jägern verwandeln?

„Wer weiß?“ hatte Jean Taconnat als weltkluger Mann gesagt, der da weiß, daß der Zufall im menschlichen Schicksal eine hervorragende Rolle spielt.

Der seit fünfundzwanzig Minuten in Fahrt befindliche „Argeles“ hatte seine volle Geschwindigkeit noch nicht entwickelt. Der Wellenbrecher lag bereits eine Seemeile hinter ihm und er war schon im Begriff, nach Südwesten hin zu wenden.

Der Doctor Bruno befand sich eben wieder auf dem Deck, hatte das Fernrohr in der Hand und richtete es nach dem Hafen zu auf einen sich bewegenden Gegenstand, der schwarze Rauch- und weiße Dampfwolken ausstieß.

Diesen Gegenstand einige Secunden zu beobachten, einen Schrei der Ueberraschung auszustoßen, die Leiter nach der Commandobrücke, wo sich der Kapitän Bugarach befand, hinauszukriechen, diesen mit halb erstickter, aber drängender Stimme anzurufen und ihm das Fernrohr in die Hand zu drücken, das war für den Doctor Bruno das Werk einer Minute.

„Kapitän, sehen Sie dort!“ rief er und zeigte nach dem Gegenstand, der näher herankommend immer größer wurde.

Der Führer des Dampfers blickte hinaus.

„Nun ja, das ist eine Dampfbarcasse,“ antwortete er.

„Mir scheint es aber, als ob diese Schaluppe uns einzuholen suchte,“ setzte der Doctor Bruno hinzu.

„Ja freilich, Doctor, denn von ihrem Vordertheile aus giebt man Signale...“

„Werden Sie stoppen lassen?...“

„Ich weiß nicht, ob ich das thun soll. Was könnte die Schaluppe auch von uns wollen?“

„Das würden wir ja erfahren, wenn sie herangekommen ist.“

„Pah!“ stieß der Kapitän Bugarach hervor, der nicht gewillt schien, seine Schraube noch einmal still stehen zu lassen.

Der Doctor Bruno gab seine Sache aber nicht sofort auf.

„Da fällt mir ein, fuhr er fort,... wenn das nun der verspätete Passagier wäre, der den „Argeles“ noch zu erreichen suchte..

Dardentor schwang sich über die Schanzkleidung.

„Jener Herr Dardentor... der die Abfahrt versäumt hatte?“

„Und der sich in eine Schaluppe geworfen haben wird, um uns noch einzuholen!“

Das konnte ja recht wohl zutreffen, denn offenbar fuhr die Schaluppe mit größtmöglicher Geschwindigkeit und versuchte an den Dampfer heranzukommen, als dieser aufs offne Meer abschwenkte.

Und ebenso lag die Annahme nahe, daß es sich dabei um den Nachzügler handelte, dessen Nichterscheinen die Familie Désirandelle so bitter beklagte.

Der Kapitän Bugarach war nun doch nicht der Mann, den Fahrpreis für einen Platz der ersten Cajüte der kleinen Beschwerde eines Aufenthalts von wenigen Minuten zum Opfer zu bringen. Er fluchte zwar ein paar Mal recht lästerlich, ertheilte nach dem Maschinenraume aber doch den Befehl zum Stoppen.

Der Dampfer glitt noch eine Kabellänge weiter, lief dann langsamer und stand endlich still. Da ihn der Seegang aber von seitwärts her traf, begann er, zum großen Leidwesen der männlichen und weiblichen Passagiere, die schon die Vorboten der Seekrankheit spürten, etwas stärker zu rollen.

Die Schaluppe schoß inzwischen mit solcher Schnelligkeit heran, daß ihr Vordersteven oft ganz über das schäumende Wasser aufragte. Schon konnte man einen auf ihrem Vordertheile stehenden Mann er kennen, der seinen Hut schwenkte.

In diesem Augenblicke wagte sich Herr Désirandelle noch einmal auf die Eisenleiter der Commandobrücke und fragte den Doctor Bruno, der noch beim Kapitän stand:

„Worauf warten Sie denn?“

„Dort auf jene Schaluppe,“ erklärte ihm der Doctor.

„Und was will sie wohl von uns?“

„Sie wird uns jedenfalls noch einen Passagier bescheeren, wahrscheinlich den, der sich verspätet hatte.“

„Herrn Dardentor?...“

„Ja, Herrn Dardentor, wenn er so heißt.“

Herr Désirandelle ergriff das Fernrohr, das ihm der Doctor reichte, und nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, die Schaluppe in das gar zu schwankende Gesichtsfeld des Instruments zu bringen.

„Ja... wahrhaftig... er ist es!“ rief er erfreut.

Dann beeilte er sich, der Mutter des Agathokles die frohe Botschaft zu überbringen.

Die Schaluppe war nur noch wenige Kabellängen vom „Argeles“ entfernt, der von dem Uebelkeit erregenden Seegange geschaukelt wurde, während der überschüssige Dampf mit ohrzerreißendem Prasseln aus den Sicherheitsventilen abblies.

Die Schaluppe legte eben an der Schiffswand an, als Herr Désirandelle. der nach dem Besuche bei seiner Gattin noch etwas bleicher aussah, auf dem Verdeck erschien.

Sofort wurde eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen über die Reling des Dampfers hinabgelassen und legte sich an dessen Seite an.

Der Passagier entlohnte noch den Schaluppenführer und mußte dies wahrscheinlich in königlicher Weise gethan haben, denn er wurde mit einem „Schönen Dank, Euer Gnaden!“ belohnt, von dem die Lazzaroni allein das Geheimniß zu besitzen scheinen.

Einige Secunden darauf schwang sich der Nachkömmling, dem sein Diener mit einer großen Reisetasche folgte, über die Schanzkleidung, sprang auf das Verdeck und grüßte lächelnd und sich gewandt verbeugend nach allen Seiten.

Dann trat er auf Herrn Désirandelle zu, der schon im Begriff war, ihm Vorwürfe zu machen.

„Na... da wären wir ja, dickes Papachen!“ rief er und klatschte dem Männchen freundschaftlich auf den wohlgenährten Leib.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Clovis Dardentor