Freitag, den 5. November.

Freitag, den 5. November

Mittwoch abend war ich bei Gérard, dem berühmten Maler, dessen Salon schon seit dreißig Jahren besteht und wo sich die ausgezeichnetsten Personen versammeln. Es ist eine eigentliche Nachtgesellschaft; denn sie fängt erst um zehn Uhr an, und man darf noch nach Mitternacht dahin kommen. Gérard ist ein sehr artiger und feiner Mann; aber er hat viel Aristokratisches. (Ich mußte darüber lachen, daß ich unwillkürlich aber schrieb.) Er sieht mir nicht aus, als hätte er je das mindeste von unserm deutschen Kunst-Katzenjammer gefühlt. Ich möchte ihm einmal die Phantasien eines kunstliebenden Klosterbruders oder so ein anderes schluchzendes Buch zum Lesen geben – was er wohl dazu sagte! Ich fand dort die Dichterin Delphine Gay; den dramatischen Dichter Ancelot; Humboldt; Meyerbeer; den Bildhauer David, der im vorigen Sommer in Weimar war, um Goethes Büste aufzunehmen; unsern Landsmann, den jungen Hiller, der hier als Komponist und Klavierspieler in großer Achtung steht; Vitet; den Schriftsteller, der unter dem Namen Stendhal schreibt, und noch viele andere Gelehrte und Künstler. Ein armer deutscher Gelehrter wird gelb vor Ärger und Neid, wenn er sieht, wie es den französischen Schriftstellern so gut geht. Außer dem vielen Gelde, das sie durch ihre Werke verdienen, werden sie noch obendrein von der Regierung angestellt. Stendhal ist eben im Begriff, nach Triest abzureisen, wo er eine Stelle als Konsul erhalten. Vitet schreibt sogenannte historische Romane, die sehr schön sind: Henri III, Les barricades, Les états de Blois. Der hat jetzt eine Anstellung bekommen, um die ich ihn beneide. Er ist Conservateur des Monuments d'antiquité de la France. Diese Stelle bestand früher gar nicht, und der Minister Guizot, der Vitet protegierte, hat sie erst für ihn geschaffen. Sein Geschäft besteht darin, daß er jährlich ein paarmal durch Frankreich reist und die alten Bauwerke aus der römischen Zeit und aus dem Mittelalter, Tempel, Wasserleitungen, Amphitheater, Kirchen besichtigt und darauf sieht, daß sie nicht verfallen. Dafür hat er einen jährlichen Gehalt von funfzehntausend Franken, und die Reisekosten werden besonders bezahlt. Gäbe es eine angenehmere Stelle als diese für einen Menschen wie ich bin, der faul ist und gern reist? Möchte man sich nicht den Kopf an die Wand stoßen, daß man ein Deutscher ist, der aus seiner Armut und Niedrigkeit gar nicht herauskommen kann? In Deutschland geschieht wohl manches für Kunst und Wissenschaft, aber für Künstler und Schriftsteller gar nichts. Hier verteilt die Regierung jährliche Preise für die besten Werke der Malerei, der Bildhauerkunst, Lithographie, Musik und so für alle. Der erste Preis besteht darin, daß der Gewinnende auf fünf Jahre lang jährlich 8000 Franken erhält, und dafür muß er diese Zeit in Rom zu seiner Ausbildung zubringen. Einem Deutschen würde dieses Müssen in Rom leben komisch klingen; denn er ist lieber in Rom als in Berlin, Karlsruhe. Aber Franzosen erscheint dieses oft als Zwang; denn sie verlassen Paris nicht gern. So hat die vorige Woche ein junger Mensch namens Berlioz den ersten Preis der musikalischen Komposition erhalten. Ich kenne ihn, er gefällt mir, er sieht aus wie ein Genie. Geschieht je so etwas bei uns? Denken Sie an Beethoven. O! ich habe eine Wut! Schicken Sie mir doch einmal eine Schachtel voll deutscher Erde, daß ich sie hinunterschlucke.


Das ist ohnedies gut gegen Magensäure, und so kann ich das verfluchte Land doch wenigstens symbolisch vernichten und verschlingen. Neukomm, ein deutscher Komponist (ich glaube, er macht Kirchenmusik), lebt in Talleyrands Hause; aber nicht als Musiker, sondern als Attaché! Er begleitet Talleyrand überallhin und ist ihm auch jetzt nach England gefolgt. Es mag recht angenehm sein, in Talleyrands Nähe zu wohnen. Bei uns gelangt man gar nicht zu so etwas. Gérard sagte mir, daß er die Deutschen sehr liebe, und hielt ihnen eine große Lobrede. Es war Mitternacht, als man erst den Tee auftrug. Welche Lebensart! Ich muß Ihnen doch die statistische Merkwürdigkeit mitteilen, daß man hier zum Tee keine Serviette auflegt, sondern die Tassen, und was dazu gehört, auf den nackten Tisch stellt. Gefällt Ihnen das? Aber dem Liberalismus ist nichts heilig.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Paris.