Der Bayreuther Gedanke.

Nietzsche hat dieses Wort geprägt: „Um wenigstens sein größtes Werk vor diesen missverständlichen Erfolgen und Beschimpfungen zu retten und es in seinem eigensten Rhythmus zum Beispiel für alle Zeiten hinzustellen: erfand Wagner den Gedanken von Bayreuth. Im Gefolge jener Strömung der Gemüter (nach 1870) glaubte er auch auf der Seite derer, welchen er seinen kostbaren Besitz anvertrauen wollte, ein erhöhteres Gefühl von Pflicht erwachen zu sehen: aus dieser Doppelseitigkeit von Pflichten erwuchs das Ereignis, welches wie ein fremdartiger Sonnenglanz auf der letzten und nächsten Reihe von Jahren liegt: zum Heile einer fernen, einer nur möglichen, aber unbeweisbaren Zukunft ausgedacht, für die Gegenwart und die nur gegenwärtigen Menschen nicht viel mehr, als ein Rätsel oder ein Greuel, für die wenigen, die an ihm helfen durften, ein Vorgenuss, ein Vorausleben der höchsten Art, durch welches sie weit über ihre Spanne Zeit sich beseligt, beseligend und fruchtbar wissen, für Wagner selbst eine Verfinsterung von Mühsal, Sorge, Nachdenken, Gram, ein erneutes Wüten der feindseligen Elemente, aber alles überstrahlt von dem Sterne der selbstlosen Treue und, in diesem Lichte, zu einem unsäglichen Glücke umgewandelt.“ Chamberlain sagt zu diesen Worten: „Man sieht, wie im Verlaufe dieses einen Satzes der Begriff ,Gedanke von Bayreuth‘ sich erweitert: zuerst gilt er allein dem Vorsatz Wagners, sein größtes Werk, nämlich den Ring des Nibelungen, vor missverständlichen Erfolgen zu retten; dann aber — und ohne dass er mit peinlicher Ausführlichkeit weitere Kreise um diesen Ausgangspunkt zöge — lässt Nietzsche dieses Bayreuth immer heller vor unseren Augen erglänzen, wie Parsifal den Gral, bis zuletzt das künstlerische Vorhaben zwar immer noch als die vollendete Form, als die bezaubernde Gestalt erscheint, wir aber im Innern die noch tiefere Glut eines rein ethischen Beweggrundes erblicken: den Stern der selbstlosen Treue.“

Bayreuth ist nicht bloß das ersichtlich gewordene Sinnbild einer neuen Kunst, sondern auch einer neuen Kultur, die sich beide ineinander spiegeln sollten. Um den Bayreuther Gedanken zu erfassen, bedarf es hoher geistiger, künstlerisch einheitlicher Kultur. Um den Meister muss eine würdige Gemeinde sich scharen. „Damit ein Ereignis Größe habe, muss zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben . . . Uns Vertrauensvolleren muss es so erscheinen, dass Wagner ebenso an die Größe seiner Tat, als an den großen Sinn derer, welche sie erleben sollen, glaubt. Darauf sollen alle jene stolz sein, welchen dieser Glaube gilt.“ So schrieb Nietzsche 1876. Wagner musste gestehen: „Wie leicht selbst Taten wirkungslos bleiben, erfuhren wir an dem Schicksale der Bayreuther Bühnenfestspiele: ihren Erfolg kann ich bis jetzt lediglich darin suchen, dass mancher einzelne durch die empfangenen bedeutenden Eindrücke zu einem näheren Eingehen auf die Tendenzen jener Tat veranlasst wurde. Dass es mir gerade an dieser Aufmerksamkeit liegt, müssen unsere Freunde aus der Begründung dieser (Bayreuther) Blätter ersehen haben. Ich gestehe, dass ich jene andere, der unsrigen etwa entgegenkommende Tat nicht eher erwarten zu dürfen glaube, als bis die Gedanken, welche ich mit dem ,Kunstwerk der Zukunft‘ verbinde, ihrem ganzen Umfange nach beachtet, verstanden und gewürdigt worden sind.


Gerade mir ist es aufgegangen, dass, wie ich für die richtige Darstellung meiner künstlerischen Arbeiten erst mit den beabsichtigten Bühnenfestspielen in dem hierfür besonders] erfundenen und ausgeführten Bühnenfestspielhause in Bayreuth einen Boden zu gewinnen hatte, auch für die Kunst überhaupt, für ihre richtige Stellung in der Welt, erst ein neuer Boden gewonnen werden muss, welcher für das erste nicht der Kunst selbst, sondern eben der Welt, der sie zu innigem Verständnisse geboten werden soll, zu entnehmen sein kann. Hierfür hatten wir unsere Kulturzustände, unsere Zivilisation in Beurteilung zu ziehen, wobei wir diesen immer das uns vorschwebende Ideal einer edlen Kunst gleichsam als Spiegel vorhielten, um sie in ihm reflektiert zu gewahren.“ Unsere Erziehung- und Bildung, unser ganzes öffentliches Leben bietet nur gelehrtes Stückwerk, nirgends wirkliche geistige Kultur. Darum wird auch eine Erscheinung wie Richard Wagner so wenig verstanden. Seine künstlerische Tat ist der Zeit weit vorausgeeilt. Nun gilt es, Halt zu machen und in die Welt zu blicken, wie sie sich dazu verhält. „Stellen wir uns immer auf die Bergesspitze, um klare Übersicht und tiefe Einsicht zu gewinnen I“ Wagner begründete eine Zeitschrift, die Bayreuther Blätter, wo die Möglichkeit einer deutschen Kultur im Sinne der Bayreuther Kunst erwogen werden sollte. Hierfür verfasste er, von Anfang 1878 bis Ende 1881, jene tiefsinnigen, gedankenreichen Schriften, die mit der Frage „Was ist deutsch“ anheben, um darauf die letzte, allumfassende Antwort zu finden: „Heldentum und Christentum“. Da schrieb der Meister das herrliche Wort: „Deutsch ist, die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte.“ Und aus der Parsifalstimmung heraus erörterte er das Verhältnis zwischen Religion und Kunst, überall tiefste Fragen aufgreifend, mit dem Blicke des Sehers. Wagner erkannte „den Grund des Verfalles der historischen Menschheit, sowie die Notwendigkeit einer Regeneration“. Er glaubte auch an die Möglichkeit solcher Erneuerung und Wiedergeburt und zwar durch das deutsche Volk und die christliche Religion. Es wird immer nur eine kleine Gemeinde bleiben, die den Hochflug dieser letzten Gedanken des Meisters mitzumachen imstande ist. Vom Bayreuther Hügel aus stellt sich Welt und Leben in ganz neuem Lichte dar und gar vieles scheinbar Wichtige und Wertvolle wird wesenlos. An der Weltanschauung eines wahrhaft Grossen innerlichen und wahren Anteil zu nehmen, ist köstlichster Gewinn. Vielen ist es vergönnt, wenn auch nicht im begrifflichen Denken, so doch im Gefühl und Empfinden, am Bayreuther Werk sich zu beteiligen und mitzuschaffen. Wer als Künstler oder Laie den Gral erschaut und ihm dient, der gehört schon zu jener Gemeinde. „Der einzelne soll zu etwas Überpersönlichem geweiht werden,“ sagt Nietzsche von der Kunst. Alles Hohe und Ideale in unserem Leben erwächst aus dem Überpersönlichen, in dem alles Kleinliche und Gemeine vergeht. Wo aber wäre ein reicheres Feld für echten Gralsdienst, als auf dem Gebiete der Kunst und Kultur? Hier sind alle, die den Ruf vernehmen, zur Mitarbeit berufen.




Der Bayreuther Gedanke schließt das Vermächtnis des Meisters in seinem ganzen Umfang in sich. Die Erhaltung der Festspiele, bis 1882 den Patronen und dem Patronatverein ausschliesslich zur Aufgabe gesetzt, ist inzwischen ganz der Öffentlichkeit, d. h. den Besuchern dieser Spiele anheimgegeben. Der Verwaltungsrat besorgt in selbstloser Hingabe die nötigen Geschäfte. Die künstlerische Aufgabe liegt in allertreuster Hut. Über alledem waltet „der Stern selbstloser Treue“, Wunder wirkend, Leben schaffend. Die Aufgabe der Monumentalisierung des Bayreuther Hauses ist schon von verschiedenen Seiten her ins Auge gefasst, aber vorläufig, da der „Notbau“ noch viele Jahre aushalten kann, über dringenderen Fragen zurückgesetzt worden. In einem Brief an Friedrich Schön in Worms wünschte Wagner, dass die bisherigen Patrone des Kunstwerkes nun Patrone des Publikums würden, das am Kunstwerk sich erfreuen und bilden soll. Wagner griff zum ersten und reinsten Gedanken der Festspiele mit freiem Eintritt zurück. „Als die erste und allerwichtigste Aufgabe für ein neuzubildendes Patronat stellt sich mir dar, die Mittel zu beschaffen, um g?nzlich freien Zutritt, ja nötigenfalles die Kosten der Reise und des fremden Aufenthaltes, solchen zu gewähren, denen mit der Dürftigkeit das Los der meisten und oft tüchtigsten unter Germaniens Söhnen zugefallen ist. Eine solche Organisation müsste ganz selbständig, als ein moralischer Akt des Publikums für das Publikum, somit ohne alle eigentliche Berührung mit der Tätigkeit des Verwaltungsrates der Bühnenfestspiele in das Leben treten, wenngleich dieser jederzeit bemüht sein würde, das Patronat nach Kräften und Bedürfnis durch Freiplätze zu unterstützen . . . Hier ist die für unsern Zweck best erdenkliche Schule; und haben wir hierbei noch zu lehren, d. h. — zu erklären, und den weiten Zusammenhang zu verdeutlichen, in welchen wir uns durch unser Kunstwerk mit fernest hinreichenden Kulturgedanken versetzt glauben, so soll eine reichlichst gepflegte Zeitschrift, als erweiterte Fortsetzung unserer bisherigen Bayreuth er Blätter, in freiester Weise uns hierfür die Wege offen erhalten. Niemanden soll aber Mittellosigkeit von der Möglichkeit der wirkungsvollsten Teilnahme an unseren Bestrebungen und Leistungen ausschließen: was jetzt lächerlich unbehilfliche Reisestipendien für gekrönte Preiskompositionen u. dgl. gegen die Verpflichtung, in Rom oder Paris höhere Studien zu vollenden, gedankenlos bewirken wollen, werden wir verständiger und sinnvoller zu verrichten wissen, wenn wir eine innige Teilnahme an der Bildung unserer eigenen Kunst jedem hierzu Befähigten offen stellen.“

Seit 1882 trat die Stipendienstiftung für die Bayreuther Festspiele in Wirkung, zuerst unter Friedrich Schön in Worms, dann unter Max Gross in Laineck bei Bayreuth, wohin die Gesuche um Gewährung eines Stipendiums zu richten sind. Die Geldmittel dieser Stiftung bestehen aus freiwilligen Beiträgen von Freunden der Sache und aus satzungsmäßigen Zuschüssen, die der Allgemeine Richard Wagner Verein leistet. Die Gelder werden verzinslich angelegt und dienen zum Ankauf von Karten und auch zur Zahlung von Reisekosten. Trotz seinen verhältnismäßig bescheidenen Mitteln hat der Stipendienfonds schon sehr segensreich gewirkt und vielen den Besuch der Festspiele erleichtert, ja überhaupt ermöglicht. Eben jetzt ist wieder eine Bewegung im Gang, um den Stipendienfonds zu kräftigen. Möchte doch dieser Gedanke recht weite Verbreitung unter den Festspielbesuchern finden! Alle Freunde der Bayreuther Sache sollten sich, sei es auch nur mit kleinen Spenden, an der Verwirklichung dieses hochherzigen Gedankens beteiligen, um das Andenken Richard Wagners so recht in seinem Sinne zu ehren, sich und anderen zu Nutz und Frommen.

Das Haus Wahnfried, der Verwaltungsrat und die Künstler erhalten die Spiele; uns aber, und zunächst den Deutschen, steht es zu, mitschöpferisch dem Bayreuther Gedanken nahezutreten, die im Festspiel gewonnenen Eindrücke zu vertiefen und zu betätigen, recht ernstlich dem Studium der Schriften Richard Wagners und der Blätter obzuliegen, um unsre künstlerischen Erlebnisse zu einer klaren und festen Weltanschauung zu erheben, endlich am Stipendienfonds nach Kräften mitzuhelfen, um auch andern die Pilgerfahrt zum Grale zu ermöglichen. Durch Übernahme dieser leichten und sehr einfachen Pflichten werden wir die „mitschöpferischen Freunde“, die der Meister sich wünschte. Und daraus folgt schließlich ganz von selber alles Weitere, das Wissen und Wirken des Bayreuther Gedankens.

Zum Schlüsse mögen die herrlichen Worte Nietzsches stehen:

„Für uns bedeutet Bayreuth die Morgenweihe am Tage des Kampfes. Man könnte uns nicht mehr Unrecht tun, als wenn man annähme, es sei uns um die Kunst allein zu tun: als ob sie wie ein Heil- und Betäubungsmittel zu gelten hätte, mit dem man alle übrigen elenden Zustände von sich abtun könnte. Wir sehen im Bude jenes tragischen Kunstwerkes von Bayreuth gerade den Kampf der einzelnen mit allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche Notwendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen, Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge. Die einzelnen können gar nicht schöner leben, als wenn sie sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum Tode reif machen und opfern. Der Blick, mit welchem uns das geheimnisvolle Auge der Tragödie anschaut, ist kein erschlaffender und gliederbindender Zauber, — obschon sie Ruhe verlangt, solange sie uns ansieht. Denn die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepansen vorher und inmitten desselben, für jene Minuten, da man zurückblickend und vorahnend das Symbolische versteht, da mit dem Gefühl einer leisen Müdigkeit ein erquickender Traum uns naht. Der Tag und der Kampf bricht gleich an, die heiligen Schatten verschweben, und die Kunst ist wieder ferne von uns; aber ihre Tröstung liegt über dem Menschen von der Frühstunde her.“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bayreuth