Ausnehmen von Raubvogelnestern durch Eiersammler in Norddeutschland

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 22. 1898
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Norddeutschland, Mecklenburg, Oldenburg, Schleswig, Rostocker Heide, Ribnitz, Pommern, Ostpreußen, Usedom, RügenRaubvögel, Nester, Horste, Wanderfalke, Störche, Kraniche, Kormorane, Reiher, Eiersammler
In den Küstengegenden Norddeutschlands, zumal in den an der Ostsee gelegenen, finden sich in den ältesten und abgelegensten Forstbeständen, bei denen man hier und da wohl von einem Urwald sprechen kann, viele Niststätten und Brutplätze der großen Raubvögel, die bei uns heimisch sind.
Je einsamer und entlegener von den Dörfern und Höfen der Wald ist, je älter und höher seine Riesen sind, desto zahlreicher nisten auf ihnen die verschiedenen Adlerarten und neben ihnen die schwarzen Störche, Kraniche, Kormorane und Reiher. Die letztgenannten verursachen dem Fischereibetrieb namhaften Schaden und sind darum zum Teil auf die Liste der Vögel gesetzt worden, zu deren Abschuss staatlicherseits mit Prämien angelockt wird, und deren Nester von den Forstbeamten unnachsichtlich zerstört werden, sofern man sie entdecken kann. Unter den Raubvögeln aber ist der bei weitem schädlichste und gemeingefährlichste Räuber der Wanderfalke.

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Er nimmt alles mit, kein Tier niederer Gattung ist vor ihm sicher, Tauben und Hühner, Singvögel aller Art, selbst Hasen ergreift er im schnellen Stoße. Seine Nester baut er nur in den Kronen starker Bäume, und es bedarf einer besonderen Gattung von Steigeisen, mit denen die Eiersammler alle ausgerüstet sind, um seinem Horste beizukommen. Diese eigenartigen Steigeisen bestehen in Schienen, die senkrecht an der Innenseite des Unterschenkels durch starke Lederriemen befestigt werden; am unteren Ende der Schiene in der Hackenhöhe des Stiefels gehen mäßig lange, aber scharfe Eisenspitzen nach unten und innen. Mit letzteren hauen sich die Kletterer fest in den Stamm ein und erklimmen dann langsam, aber sicher auch den dicksten Baum, selbst wenn sie denselben nicht zu umspannen vermögen; sie müssen nur darauf achten, dass sie den Oberkörper fest mit den Armen an den Stamm drücken, damit sie sich nicht nach rückwärts überschlagen. Unsere Abbildung S. 556 zeigt einen solchen Sammler, wie er eben emporgestiegen ist und das Nest erreicht hat, während der junge Förster mit der Büchse im Anschlag steht, und der alte Forstheger auf ein zweites Nest aufmerksam macht, das sich auf einem nahen Baume befindet. Der Schutz durch Feuerwaffen ist notwendig, denn nicht selten ereignet es sich, dass die Eltern zum Schutz ihrer Brut herbeieilen und mit rasender Wut den Menschen anfallen. So wurde vor wenigen Jahren auf der Insel Rügen ein vierzehnjähriger Knabe, der ein Adlernest ausnehmen wollte, jählings von der Adlermutter angegriffen, und konnte sich nur dadurch retten, dass er sich von dem zum Glück nicht allzu hohen Baum auf die weiche Walderde hinabfallen ließ; das Laubdach war so dicht, dass der Vogel ihm nicht folgen konnte. Die Eiersammler verkaufen ihre Beute zu einem großen Teil an Naturaliensammlungen, die großen Bedarf hierfür haben, um ältere, unbrauchbar gewordene Stücke zu ersetzen, oder an Schulen, in denen die Kinder darin unterrichtet werden, die Eier der schädlichen Raubvögel, so besonders des genannten Wanderfalken, von den Eiern der unschädlichen, wie zum Beispiel der leider fast schon ausgerotteten schwarzen Störche, unterscheiden zu lernen. In den Waldungen des südlichen Oldenburg, in Schleswig, in der großen Heide zwischen Rostock und Ribnitz in Mecklenburg, in dem Kronforst zu Abtshagen in Pommern, auf den Inseln Usedom und Rügen, sowie in mehreren Wäldern West- und Ostpreußens finden sich ganze Kolonien von Raubvogelnestern, die größtenteils den Eiersammlern bekannt sind, welche auch genau wissen, wann die rechte Zeit zur Jagd ist. Wochenlang wohnen die Eierjäger bei dem Förster im Walde, um die Reviere kennen zu lernen, und sobald die Sonne gesunken ist, beginnt das schwierige Werk; denn nur zu dieser Stunde ist mit Sicherheit anzunehmen, dass der Raubvogel sein Nest verlässt, um Beute zu suchen.

Ausnehmen von Raubvogelnestern in Norddeutschland

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