Abschnitt 3

12 Rückreise.


Dieser traurige Anblick bot sich uns noch öfter auf der Reise dar. Wenn wir an ein Haus kamen, das ein Dach hatte, so fanden wir in ihm regelmäßig Leichen, mitunter auch Lebende, die dem Verscheiden unter den jammervollsten Zuständen nahe waren; in der Regel nicht Verwundete, sondern Nachzügler, die im größten Elende ohne Nahrung, erbärmlich gekleidet umherirrten und in das erste beste Haus hineinkrochen, um da in Ruhe zu sterben. Einige derselben erlagen sichtbar dem Hungertod. Sie hatten nur noch die bloße Haut über das Gerippe gezogen und schienen gar nicht in Verwesung überzugehen.


Das Dach jenes Hauses hatte einen ziemlich großen Vorsprung; unter diesen stellten wir unsere Pferde; mein alter Reisegenosse und der Kutscher machten sich dort ebenfalls Platz, so gut es ging, ich blieb im Wagen. Feuer machten wir auch heute nicht an, da unsere Lage noch immer die möglichste Vorsicht erheischte, hier um so größere, als wir uns an der großen Straße befanden. So endete der zweite Tag der Reise.

War es schon den Tag hindurch abscheulich gewesen, so wurde es in der Nacht gräßlich; es stürmte, regnete und schneite unaufhörlich, Menschen und Pferde befanden sich, meine Wenigkeit ausgenommen, in einem kläglichen Zustande, sie waren buchstäblich unter die Traufe gerathen. Die Pferde blieben die ganze Nacht sehr unruhig und das schönste wurde von den andern, die sich an der Wand möglichst zu schützen suchten, in das Wetter hinausgedrückt und hatte dessen wüthendsten Andrang auszuhalten. So sorglos als wir die verwichene Nacht trotz den uns drohenden Gefahren geschlafen hatten, so peinlich verfloß diese. Sie schien ewig zu dauern!

Es ist übrigens fast unbegreiflich, was der menschliche Körper auszuhalten vermag. Der alte sechzigjährige Thierarzt war bis auf die Haut naß, alles, Thier und Menschen, zitterte am Morgen vor Frost, und dennoch hatte es auf die Gesundheit der Menschen keinen weitern nachtheiligen Einfluß; dagegen kostete mich diese Nacht mein bestes Pferd. Dieses mußten wir nach einigen Stunden an der Straße liegen lassen; es bekam Kolik, stürzte zusammen und der Thierarzt benahm mir jede Hoffnung, es weiterzubringen. Es verursachte mir großes Leid, dieses Thier auf solche Weise zu verlieren. Es war der Schimmel, den ich bei Borodino am 6. September hinter mir stehen hatte, als ich das Schlachtfeld zeichnete und die Kugel mir an den Ohren vorbeisauste. Dieses Pferd zeichnete sich neben andern Vorzügen durch eine besonders schöne Mähne, die bis über die Schulter herabfiel und einen ebenso schönen reichbehaarten Schweif aus. Diese wollte ich abschneiden und mitnehmen, aber der Thierarzt, der sich nicht aufhalten mochte, verweigerte hartnäckig, mir ein Instrument für diesen Zweck zu geben. Mit wehmüthigem Blicke nahm ich Abschied von dem guten Thiere, das mir so viele Dienste geleistet, so viele Strapazen ausgehalten, und langsam zogen wir mit zwei Pferden weiter.

Auf dem dritten Tagmarsche kamen uns keine beunruhigenden Gerüchte zu Ohren, und es schien, daß wir die erste Gefahr, in russische Gefangenschaft zu gerathen, hinter uns hatten. Alles, was ich durch die verschiedenen Nachrichten und eigene Beobachtung mir zusammenstellte, brachte mich zu der Ansicht, daß es nicht in dem Plane der Russen liege, die Hauptstraße besetzt zu halten, wohl aber schienen sie ein aufmerksames Auge darauf zu richten, der Armee jede Gelegenheit abzuschneiden, sich Lebensmittel zu verschaffen. Auf der Hauptstraße aber und in deren nächster Nähe war nicht so viel zu finden, um einen Hund ordentlich zu ernähren: Alles verwüstet, verbrannt, zerstört und der Weg mit Leichen und mit Cadavern von Hausthieren, Hunden und Katzen und mit allem bedeckt, das an Vernichtung, an Hunger und Elend erinnert. Nicht so war es in der Umgebung, dort gab es noch vieles zu finden. Die große Menge der Nachzügler, welche sich im Lande herumtrieben, zwang der Hunger, sich von der Straße zu entfernen, sobald sie aber das thaten, fielen die Unglücklichen in die Hände der Kosaken. Indeß gelang es ausnahmsweise doch einigen dieser umherschweifenden Haufen, Orte zu erreichen, wo noch etwas zu holen war. Heute kam mir das zu gute. Wir begegneten einigen Soldaten, welche etwa acht bis zehn Schafe vor sich hertrieben und einige Hühner am Tornister ange schnallt trugen. Ich wollte ihnen ein Schaf abkaufen, aber mit Geld war nichts zu machen; jedoch als ich ihnen Brod und Salz anbot, gingen sie bereitwillig auf einen Tausch ein, und ich erhielt für einen einzigen Laib Brod und einige Hände voll Salz einen ganz schönen Hammel. Das Geld hatte ja in solcher Lage keinen Werth; man tauschte und kümmerte sich wenig darum, ob das, was man bot, auch den Werth von dem hatte, was man dafür erhielt. Das augenblickliche Bedürfniß allein bestimmte den Preis, und so erhielten oft die unbedeutendsten Dinge einen enormen Werth. Unbeirrt zogen wir weiter und kamen Abends an ein kleines Gehölze, wo wir von der Hauptstraße ablenkten und bivouakirten, da Wasser in der Nähe war. Wir zündeten Feuer an und schlachteten unsern Hammel. Ganz kunstgerecht wurde er hergerichtet und eine hübsche Keule gebraten. Auch Suppe konnten wir heute genießen. Diese warme Küche und das Feuer that uns ungemein wohl, da wir drei Tage diese Vorzüge schmerzlich entbehrt hatten. In meinem Tagebuch heißt es: „Dritter Tag. Die größte Gefahr vorüber, glückliche Handelschaft, gutes Bivouak, vortreffliches Nachtessen, schönes, aber stürmisches Wetter!“ – Solche Tage nannte man damals glücklich! Wer noch nie in solcher Lage sich befunden, dem muß es sonderbar vorkommen, daß man einen solchen Zustand einen glücklichen nennen kann. Und doch war es so. Traulich saßen wir um das Feuer, das munter brannte und betrachteten mit lüsternen Blicken die Hammelskeule, wie sie sich nach und nach immer schöner bräunte; wir trockneten indessen am Feuer unsere Kleider und Stiefel, die eigentlich seit Moskau nicht mehr trocken geworden waren. Vorrichtungen zur Tafel nahmen nicht viele Zeit in Anspruch; Tischtuch, Teller und Gläser gab es nicht, unser ganzes Küchengeschirr bestand in einer kupfernen Casserole, aus dieser wurde gemeinsam die Suppe mit hölzernen Löffeln gegessen. Mein Tischzeug und was ich an Silber bei mir führte, war mir schon längst gestohlen worden. Auf einem Brettchen wurde das Fleisch transchirt und gegessen; so tafelte man jeden Tag und war vergnügt, wenn man nur etwas zu verzehren hatte. Wir fühlten uns so behaglich, daß wir erst spät an das Schlafen dachten, wickelten uns in unsere Mäntel, legten uns auf die liebe Mutter Erde und schliefen, bis der Morgen graute.

Schon am vierten Tage unserer Reise begann die Noth mit dem Futter für die Pferde. Der wenige Haber, den wir in Moskau mit Mühe uns verschafft hatten, war aufgezehrt, ebenso das Heu. Unsere armen Pferde mußten sich mit dem schlechten Gras, das sie mit den Füßen aus dem Boden scharrten, und der Rinde der jungen Bäume begnügen. Sie fraßen auch das alte Stroh von den Dächern, das wir aber nur sel ten antrafen. Daß bei solchem Futter ihre Kräfte immer mehr abnahmen und wir nur langsam vorwärts kamen, ist leicht denkbar. Zum Glücke begegneten uns Soldaten, die ein Pferd an der Hand führten: ein russisches Thier von starken Knochen und gutem Körperbau. Da das Thier ohne Sattel und Zaum bloß an einem Strick um den Hals geführt wurde, fragte ich, was sie denn mit dem Pferd machten und wo sie es her hätten. Sie antworteten, dasselbe an der Straße gefunden zu haben. Ich fragte weiter, womit sie es zu ernähren gedächten. Da glotzte einer den andern an und sie meinten, das wüßten sie eigentlich selbst nicht. „Gebt es mir,“ sagte ich, „euch kann es doch nichts nützen und Fourage findet ihr nirgends.“ Wir wurden handelseinig, und ich erstand es für zwei Louisd’or. So kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe und gab mir einigen Ersatz für mein verlorenes Pferd. Das Thier wurde augenblicklich eingespannt und ließ sich recht gut an.

Bei anhaltend schlechter Witterung, Regen, Wind und grundlosen Straßen kamen wir des Abends ohne weitere Hindernisse nach Moshaisk. Dieser arme Ort, den wohl früher niemand besonders beachtete, hatte durch diesen Krieg eine historische Bedeutung bekommen. Er war in ein großes Lazareth verwandelt und bot ein Bild des Jammers und Elendes. Ueberall sah man kranke, elende, verstümmelte Menschen, die sich geisterhaft herumschleppten. Wie mag es erst im Innern der armseligen Holzhütten ausgesehen haben! In dem Winkel eines halbzerstörten Hauses fanden wir ein erbärmliches Quartier. Hier erfuhr ich, daß Major von Zweibrücken noch lebe, aber ohne alle Hoffnung, wieder zu genesen, ich wollte ihn besuchen, konnte aber seine Wohnung nicht erfragen. Am folgenden Morgen den 28. konnten wir Moshaisk verlassen. Es wurden Versuche gemacht, so manches zu besorgen, was wir bedurften, unsere Bemühungen hatten aber geringen Erfolg. Etwas ganz weniges an Lebensmitteln und auf ein paar Tage Fourage für meine Pferde war alles, was wir durch besondere Begünstigung erreichen konnten, obwohl mich die Marschroute berechtigte, Verpflegung und Futter für vier Pferde zu beanspruchen. Ich athmete leichter, als ich diese Stätte des Jammers hinter mir hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Leben eines Schlachtenmalers