Promenade - Lieschen - London-Tavern bei Heitmann - Geschichte des armen Lieschen und Hippias - Raisonnements

Auf der Straße blieben wir einige Augenblicke stehen.

„Wohin, jetzt?“ fragte ich.


„Wohin Sie wollen,“ entgegnete der Baron.

„Mir gleich!“ sprach Herrmann Bleicamb.

„Führe uns,“ sagte Hippias. „Vergiss aber nicht, dass ich den Clemens Gerke sehen will.“

„Es ist nicht mehr ganz früh,“ sprach ich, die Uhr betrachtend. „Wir könnten freilich einige Häuser von hier bei Kittel einkehren. Wir würden dort eine sehr schöne Frau, ein gutes Glas Wein und Englische Zeitungen finden. Wir haben aber schon genug getrunken! Darum vorbei! — Einige hundert Schritte weiter, und wir würden die Wahl zwischen Carl und dem Trichter haben. Es ist freilich Alles recht gut in diesen Häusern, wir haben aber schon Alles genossen, was wir da finden können. Der Trichter ist freilich eins der berühmtesten und besuchtesten Kaffee-Häuser, weil er in der Mitte zwischen Altona und Hamburg liegt. Ich wenigstens kann nichts Anderes finden, wodurch er sich vor den übrigen Kaffee-Häusern auszeichnete. Ich liebe nicht diese Menschenmassen; am wenigsten hier. Man glaubt in einer solchen Masse sich zu verlieren, unbemerkt zu sein; spricht frei und offen, und man wird bemerkt, jedes Wort gehört und weiter getragen. Wir könnten jetzt noch zu Risch in die Elbhalle gehen, wo wir eine vortreffliche Musik, einen aufmerksamen Wirt, gute Kellner finden würden. Schon aus dem Grunde, weil der Wirt ein braver Schweizer ist, müssten wir hingehen. Wir würden dort aber zu lange bleiben, weil es dort zu angenehm ist. Ich schlage daher vor, weil Hippias darauf besteht, den berühmten Dichter zu sehen, sogleich nach den Vier Löwen zu gehen.“

Der Vorschlag wurde gebilligt. Unser Droschkenkutscher, der sich kluger Weise in unserer Nähe gehalten hatte, rasselte auf einen Wink von mir herbei. — Bald saßen wir im Wagen und nach einigen Minuten hielten wir vor den Vier Löwen, stiegen aus und traten in den hellerleuchteten Tanzsaal dieses Lokales.

Ich muss es der Einbildungskraft meiner Leser und Leserinnen überlassen, sich den Tumult, das Leben und Treiben in einem öffentlichen Hause zu denken. Wir blieben so kurz, als möglich dort, sahen Herrn Clemens Gerke, und schlugen unseren Pfad nach der Allee ein, welche zum Trichter führt. Wir wandelten sie mehre Male auf und nieder. Ein sehr elegant gekleidetes Frauenzimmer schien unsere Schritte zu verfolgen und wusste es so einzurichten, dass sie endlich Hippias mit dem Arme berührte. Er bat um Entschuldigung. Das junge Mädchen blieb stehen und redete ihn folgendermaßen an:

„Sie sind wohl ein Fremder, mein Herr?“

„Ja wohl. Und woher sind Sie?“

„Ich bin allerwärts und nirgends zu Hause, und jetzt in den Vier Löwen. Waren Sie nie in Hamburg?“

„Ja wohl, mein Kind.“

„Hatten Sie nicht Verwandte in Ütersen?“

„Auch das. Doch warum?“

„Hatten Sie auch eine Tante, die dort wohnte?“

„Die hatte ich und habe sie noch.“

Das Mädchen schwieg einen Augenblick. Sie ließ die Arme an ihre Seiten niedersinken. Sie zitterte am ganzen Körper. Dann sprach sie mit bebender Stimme: „Erinnern Sie Sich der Wiese, welche hinter dem Hause Ihrer Tante lag?“

„Sehr gut.“

„Es waren dort zwei Hügel, auf welchen drei Eichen standen. Erinnern Sie Sich das?“

„Auch dessen erinnere ich mich.“

„Kommen Sie, Herr Hippias,“ sprach das Mädchen. „Kommen Sie. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.“

Sie ergriff Hippias am Arm und schlug einen Seitengang ein. Wir blieben verwundert stehen.

„Ich bin neugierig, wie das enden wird,“ sagte ich zu Bleicamb.

„Nichts! eine gewöhnliche List, Fremde an sich zu locken.“

„Wir werden das Ende dieser Aventüre schon erfahren!“ rief der Baron. „Während dieser sentimentalen Promenade des Herrn Hippias, können wir hier auf und abpatrouillieren, und uns vom schönen Wetter unterhalten.“

Wir gingen darauf wohl eine halbe Stunde auf und nieder. Endlich erschienen Hippias und das junge Frauenzimmer wieder.

„Ich überliefere Ihnen hier ihren Freund wieder,“ sprach sie, indem sie eine leichte Verbeugung machte. Dann ergriff sie Hippias Hand und sprach mit einem namenlosen Ausdrucke:

„Gehst Du auch Morgen hier vorüber? Gewiss? nicht wahr? Das schlägst Du mir nicht ab? Ich stürbe, wenn Du es nicht tätest!“ —

„Sei überzeugt davon.“

Das Mädchen entfernte sich.

„Du bist lange ausgeblieben,“ sprach ich.

„Gute Geschäfte gemacht?“ Fragte Herrmann Bleicamb.

„Fragt mich hier nicht,“ antwortete Hippias ernst.

„Lasst uns weiter gehen. Ich bin ermattet und angegriffen,“ sprach er weiter.

„So lasst uns zu der Heitmann gehen und dort Austern essen und Porter trinken. Auch können wir dort Mondenschein vom Balkon schlürfen,“ schlug der Baron vor.

„Ich bin dabei! Wir wollen jetzt sentimental werden!“ rief Herrmann Bleicamb.

Wir richteten unsere Schritte nach der London-Tavern. Der Mond leuchtete unsern Schritten. Wir waren bald dort; schritten durch die Billardstube, dem großen Saale, dem Balkon zu. Dort angelangt, setzten wir uns nieder, und bestellten Austern und Porter. Das Geforderte erhielten wir schnell.

Der sanfte Mondenschein, die dicht vor uns fließende sanft bewegte Elbe, die vor uns liegenden Inseln derselben, die in Nebel gehüllten Gestade des Hannoverschen, das Vorbeigleiten einer verspäteten Barke, das dumpfe Lauten auf den vor Anker liegenden Schiffen, der melancholische Ton des einförmigen Liedes eines wachthabenden Seemannes — Alles dieses machte einen feierlichen Eindruck auf uns. Stiller und ernster, als wir Alle, war aber Hippias.

„Es muss Dir etwas Außerordentliches mit dem Mädchen begegnet sein, Hippias, dürfen wir es wissen?“ fragte ich.

„Warum nicht. Wenn gleich es nichts Außerordentliches, und gewiss schon einem Jeden von uns arriviert ist, so kann ich nicht leugnen, dass dieser Vorfall einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat, und ich würde nicht wert sein, ein Mensch zu sein, wenn dieses nicht der Fall wäre.“

„Du machst mich begierig.“

„Erzählen Sie,“ sagte der Baron. „Wenn es etwas Interessantes ist, etwas Rührendes, so konnten wir keinen schönern Platz, um es zu vernehmen, wählen. Die Nacht, welche Alles in unsicheren Konturen zeigt, regt ohnehin das Gemüt, die Phantasie auf, streift das Grelle, ich möchte sagen, das Rohe des Tageslichtes ab, und lässt uns selbst das Gewöhnliche ungewöhnlich, geheimnisvoll erscheinen. Wenn nun auch das, was Sie uns mitteilen wollen, bei Lichte besehen, etwas Alltägliches ist, so befinden wir uns jetzt und hier gerade in einer Stimmung, um demselben die schöne Seite abzugewinnen. Mag man mich für einen Nachtschwärmer halten; ich halte es mit der Nacht, und gewiss verdanken wir nur ihr die schönsten Gebilde, welche menschliche Phantasie schuf, welche ein menschliches Herz durch die Hand und die Feder auf das Papier hauchte.“

„Und nun wieder vorby!“ rief Herrmann Bleicamb, eine fette Auster verschlingend. „Wenn Du mit deinen schönen Redensarten fortfährst, so bekommen wir nichts von der Geschichte zu hören. Nun, Herr Hippias, wie war denn das so eigentlich?“

Sie wünschen die Geschichte zu hören, meine Herren, es sei! Ich werde mich kurz fassen:

„Es sind jetzt ungefähr fünfzehn Jahre her, dass ich beschloß die Welt zu sehen, auf Reisen zu gehen. Ich hatte vor meiner Abreise noch einige Familien-Verhältnisse zu ordnen und begab mich daher zu einer alten Tante, die auf einem Gute unweit Hamburg wohnte. Die Zeit meines dortigen Aufenthaltes verlängerte sich durch einige Hindernisse, die erst beseitigt werden mussten. Die Einförmigkeit des Landlebens fing an mich zu ennuieren. Meine Tante war alt, ihre Zofen waren alt und hässlich, aber die Bauermädchen waren hübsch, jung, kernig und frisch. Einem Bauermädchen hatte ich noch nie die Cour gemacht. Das musste ein kapitales Mittel gegen die Langeweile sein! Die Sache war aber nicht so leicht getan, als gedacht. Auf dem Lande herrscht mehr Religion, mehr Sittlichkeit, als in der Residenz. Der Einfluss des braven Geistlichen war zu groß, und überdies hatte jedes Bauermädchen seinen Schatz. Der Teufel aber, der einem Jeden so gerne die Hand bietet, wenn er eine Seele für sich gewinnen kann, half auch hier. Bei dem Verwalter meiner Tante, mit dem ich zuweilen eine Pfeife rauchte, diente ein junges Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren. Sie war rein, unschuldig, wie ein Engel. Erlassen Sie es mir, meine Herren, Ihnen eine Schilderung jener niederträchtigen Verführungskünste, die ich anwandte, zu beschreiben. Das arme Lieschen, so hieß das Mädchen, erlag meinen Bemühungen. Die drei Eichen, die beiden Hügel auf der Wiese, welche hinter dem Garten meiner Tante lagen, waren die stummen Zeugen eines falschen Eides, einer verlorenen Unschuld. Sie blieben mehre Wochen die verschwiegenen Zeugen einer verbrecherischen Glückseligkeit. Dann fuhr ich mit Extrapost nach Paris. Lieschen mit Schande bedeckt, ein Kind unter dem Herzen, lief hinter dem Wagen her und langte fast ohne Besinnung in Hamburg an. Hier fand sie gütig-teuflische Hilfe. Das Mädchen, welches mich anredete, war eine öffentliche Person aus den Vier Löwen — es war Lieschen!“

„Ich habe Ihnen, meine Herren, die Geschichte des armen Lieschen ganz ohne alle Ausschmückung erzählt. Ich weiß, dass ihr Los das Los von Tausenden ist. Ich kann es aber nicht leugnen, dass dieses Ereignis mich tief ergriffen hat. Nehmen Sie einmal an, was habe ich mir nicht vorzuwerfen? Wenn wir die Sache ernst betrachten, so stehe ich da: als ein systematischer Verführer, als ein Meineidiger, als ein Mann, dessen Schuld es ist, dass ein Geschöpf, dem ich das Leben gab, nie das Licht der Welt erblickte, also, als der Mörder meines eigenen Kindes; als ein Mann, dessen Schuld es ist, dass das tugendhafteste, unschuldigste Mädchen zur verworfensten Kreatur wurde, dass er eine Seele dem Himmel stahl und sie der Hölle überlieferte! Und ein solcher Mann darf es wagen sein Haupt zu diesem gestirnten Himmel zu erheben? Frei und stolz und geehrt unter seinen Mitmenschen umherzugehen, während die Welt mit Fingern auf das unglückliche Geschöpf weist, vor ihr ausspeit, das er allein in dies Elend gebracht hat! Wahrlich! wenn es Strafen in dieser Welt gibt, so sollte die schwerste den Mann treffen, der der absichtliche Verführer weiblicher Unschuld und Tugend ist, denn die Folgen einer solchen Verführung sind nicht zu berechnen, weder für diese, noch für jene Welt!“ — — — — —

„Ich weiß, dass die meisten unserer Weltmenschen mich auslachen werden, wenn ich einer so ganz gewöhnlichen Geschichte eine so tiefe Bedeutung gebe. Für mich aber hat sie sie, und mein einziger Trost besteht darin, dass ich mein Vergehen noch so tief empfinden kann, und es so viel, als mir möglich, wieder gut zu machen suchen werde.“

„Ich billige ganz Ihre Gefühle,“ sprach der Baron, „denn ich empfinde sie mit Ihnen. Ich würde Sie für keinen Mann von Ehre halten, wenn dieser sonderbare Vorfall Sie nicht tief ergriffen hätte. Das Augenscheinliche in dieser Sache musste Sie frappieren. Gewiss sind wir Alle, die wir hier sitzen, nicht minder schuldig, als Sie, aber die Folgen unserer Vergehen stellten sich nicht auf eine so unerwartete Weise unsern Blicken dar, als Ihnen. Vielleicht bin ich ein weit größerer Verbrecher, als Sie, denn ich griff frevelnd ein in das Heiligtum der Ehe und machte auf diese Weise zwei Menschen unglücklich. Weil mein Opfer aber zu der höheren Gesellschaft gehörte, so wurde es vermieden, der Welt durch einen Eklat einen Anstoß zu geben. Man trennte sich auf eine anständige Weise; man hatte genug zu leben, in ein Bad zu gehen, sich zu pflegen, wiederherzustellen, den Schein zu retten, und war daher nicht gezwungen, die Lebensweise zu ergreifen, die Ihr armes Lieschen zu ergreifen gezwungen war.

„Wenn wir nun aber eine wirklich ernste Betrachtung über diesen heutigen Vorfall anstellen wollen, so können wir uns freuen, dass er uns Gelegenheit zu Reflexionen gibt, in uns zu gehen, den Vorsatz zu fassen, uns zu bessern, und, dass es in unseren Zeiten, Gottlob! so weit gekommen ist, dass man die Solidität eines Mannes jeder anderen glänzenden Eigenschaft vorzieht. Mit Freuden habe ich diese Bemerkung gemacht, obgleich ich nicht meinen Vorteil dabei finde; aber gewiss ist es: in unseren jetzigen Zeiten wird nur der Mann geachtet, dessen öffentliches und Privat-Leben frei von Makel ist, und dessen Grundsätze auf der strengsten Sittlichkeit basiert sind.“

„Du sprichst vortrefflich,“ unterbrach ich den Baron, „nur Schade, dass das, was Du von unseren Zeiten sagst, nicht ist, sondern nur so scheint. Gerade diese Leute, die jetzt den Ton angeben, und die ich die anerkannten Soliditäten nenne, sind gerade die größten Heuchler und Sünder. Ihre Solidität besteht nur darin: sich den Schein einer Tugend zu geben, die sie nicht haben.“

„Tut nichts! Schon dadurch ist viel gewonnen. Der, welcher jahrelang dem Scheine sich unterwirft, gewöhnt sich nach und nach daran, die Lebensweise wirklich anzunehmen, welche er zuerst nur des Scheines willen adoptierte. Es ist dann freilich nur Gewohnheits-Sache bei ihm geworden und er kann sich es nicht als Verdienst anrechnen; aber er gibt dem großen Haufen ein gutes Beispiel und wirkt dadurch zum allgemeinen Besten. Lass es nur eine zehn Jahre hindurch allgemeine Mode sein, tugendhaft zu scheinen und wir werden in den nächsten zehn Jahren tugendhaft sein. Ebenso wie die jungen Männer jetziger Zeit den Studien obliegen müssen, um ein gutes Examen zu machen, und nur dadurch ein Amt zu erhalten im Stande sind; ebenso werden sie es auch vermeiden, öffentliche Ärgernisse zu geben, wenn sie wissen, dass ihnen durch sie die Häuser des dun tun verschlossen werden, und ihnen die Aussicht auf Beförderung genommen wird.“

„Ich höre Dir mit Vergnügen zu,“ sprach Bleicamb. „Du hast eine große Ähnlichkeit mit einem Wegweiser.“

„Wie das?“

„Nun, Ihr zeigt Beide den rechten Weg und geht ihn nicht.“

„Das ist noch der beste Witz, den Du heute Abend gemacht hast. Er kam wohl aus Deinem Magen? Denn dem Anscheine der Austerschalen nach, die auf Deinem Teller liegen, muss er voller sein, als Dein Kopf.“

„Auch gut! Und nun wieder vorby!“

„Es wird aber wohl jetzt Zeit sein uns zur Ruhe zu begeben,“ sprach ich. „Wenn Du nichts dagegen hast, Baron, so finde Dich morgenfrüh um elf Uhr im Trichter ein. Wir wollen uns dort weiter expectoriren, und dann mit Hippias nach Hamburg gehen. Wollten Sie auch von der Partie sein, Herr Bleicamb, so würde es mir und meinem Freunde sehr angenehm sein.“
Mein Vorschlag wurde angenommen. Wir begaben uns nach Hause.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aristipp in Hamburg und Altona