Arbeiterbewegung und Sozialreform in Deutschland.

Vortrag gehalten auf dem Internationalen Congress für Arbeiterfragen in Chicago 28. August bis 4. September 1893 von
Autor: Dr. Zacher, Erscheinungsjahr: 1905
Themenbereiche
I. Die Arbeiterbewegung in Deutschland.

Die Beteiligung der Arbeiterschaft an dem politischen Leben begann in Deutschland erst mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und des Koalitionsrechts bei Begründung des Deutschen Reichs. Da die Wiedergeburt Deutschlands dem wirtschaftlichen und politischen Leben einen erneuten Aufschwung gab, so war es ganz natürlich, dass die Arbeiterschaft von jenen Grundrechten den umfassendsten Gebrauch machte.

Man begründete Gewerkschaften, um bessere Arbeitsbedingungen zu erringen, und eine Arbeiter-Partei, um die Gesetzgebung in Anspruch zu nehmen, wo die Selbsthilfe versagte.

Handelte es sich bei dieser vornehmlich für die erwachsenen Arbeiter darum, durch Koalition sich angemessene Arbeitszeit und Arbeitslöhne zu sichern, so galt es andererseits, durch gesetzgeberische Eingriffe die Frauen- und Kinderarbeit, Leben und Gesundheit der Arbeiter zu schützen und die allgemeinen Berufsinteressen des Arbeiterstandes zu fördern.

Beide Schutzmittel: Selbst- und Staatshilfe waren mit Einführung der Gewerbefreiheit notwendig geworden, da der „freie Arbeitsvertrag“ sonst ausschliesslich zum Nachtheil des Arbeiters ausgeschlagen wäre.

Leider wurde diese aufstrebende Arbeiterbewegung durch die sozialdemokratische Agitation in falsche Bahnen gedrängt.

Die Sozialdemokratie war die natürliche Gegenwirkung des liberalen Manchestertums , weil dieses in dem Kampf der freien Konkurrenz dem wirtschaftlich Schwachen jeden Schutz versagte und die Auflösung der sozialen Gliederung in Besitzende und Besitzlose, in Kapitalisten und Proletarier lediglich begünstigte. So einseitig diese rein individualistische Auffassung der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war, ebenso einseitig ist das sozialistische Extrem; das eine führt zur Auflösung, das andere zur Zwangsordnung der Gesellschaft. Eine praktisch brauchbare Sozialreform kann sich nur in der Mitte zwischen den beiden Extremen bewegen. So ist die Sozialpolitik des deutschen Hohenzollernhauses stets davon ausgegangen, die Macht des von Gott verliehenen Königtums in den Dienst der sozialen Ausgleichung und Gerechtigkeit zu stellen; „Suum cuique“, — Jedem das Seine — lautet sein Wahlspruch.

Die Sozialdemokratie vermochte etwas Positives nicht zu bieten; sie suchte daher ihre Stärke ganz wie das Manchestertum in der Negation. Ihr ganzes Bestreben ging darauf aus, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung den breiten Massen fortgesetzt als unverbesserlich und deren Umsturz als den Anfang der wahren Reform darzustellen. Nicht Frieden, sondern Unfrieden, nicht Vertrauen, sondern Misstrauen, nicht Reform, sondern Revolution war ihr Feldgeschrei!

In konsequenter Befolgung dieses Parteiprinzips wurde das Koalitions- und Versammlungsrecht lediglich zu revolutionären Agitationszwecken ausgebeutet; die Arbeiter wurden zu zahllosen Streiks aufgehetzt, die Unternehmer als gemeinschädliche Ausbeuter, die Behörden als ihre Helfershelfer gebrandmarkt und die niedrigsten Leidenschaften aufgestachelt. Selbst die Rednertribüne des Parlaments wurde für diese Zwecke missbraucht und die parlamentarische Aufgabe der Partei nicht in der Unterstützung, sondern in der Bekämpfung arbeiterfreundlicher Gesetze gefunden. Statt des Brotes bot sie dem Arbeiter Steine und vertröstete ihn auf die nahe soziale Revolution und den sozialdemokratischen Zukunftsstaat.

Da diese Ausartung der Bewegung den sozialen Frieden ernstlich bedrohte und die Zustände mit dem wirtschaftlichen Rückgang zu Ende der siebziger Jahre sich wesentlich verschlimmerten, so wurden besondere Schutzmittel notwendig.

Zu diesem Zweck erging am 21. Oktober 1878 das sogenannte Sozialistengesetz. Dasselbe richtete sich ausschliesslich gegen die gemeingefährlichen, d. h. gegen die auf den Umsturz gerichteten Bestrebungen der Sozialdemokratie. Es gestattete den Verwaltungsbehörden das Verbot von Vereinen, Versammlungen, Druckschriften und Geldsammlungen, welche der Förderung solcher Bestrebungen dienten ; auch konnten geschäftsmäßige Agitatoren gewissen Aufenthaltsund Gewerbebeschränkungen unterworfen werden.

In der Begründung des Gesetzes hatte aber die Regierung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die sozialdemokratische Bewegung keineswegs als eine bloße „Magenfrage“, sondern als eine Kulturfrage ersten Ranges zu behandeln sei und Aufgaben stelle, an deren Lösung Staat, Kirche und Gesellschaft gemeinsam mitzuwirken hätten.

Das Sozialistengesetz war nur Mittel zum Zweck, um der sozialen Reform die Wege zu ebnen.

Mit dieser Reform wurde sofort begonnen. An die Stelle des kosmopolitischen Manchestertums trat eine zielbewusste nationale Schutzpolitik, und mit der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 begann das große Werk der Arbeiterversicherung; jene sollte den Arbeitern Verdienst, diese Schutz bei Krankheit, Unfall, Invalidität und Altersschwäche sichern.

Das Sozialistengesetz gab der Regierung nur vorübergehende Vollmachten und erlosch nach 12jähriger Dauer am 1. Oktober 1890.

Die Gegner des Gesetzes haben es vielfach als ein „Ausnahmegesetz“ angegriffen, weil es angeblich ganze Bevölkerungskreise bloß ihrer Gesinnung wegen außerhalb des gemeinsamen Rechts stellte. Ganz mit Unrecht! Das Gesetz bekämpfte nicht die sozialdemokratischen Ideen als solche, sondern nur ihre revolutionäre Betätigung, es verfolgte nicht die Gesinnungen, sondern die Handlungen, und war lediglich ein Akt der Notwehr.

Ebenso unrichtig ist die Behauptung, das Gesetz hätte seinen Zweck gar nicht erreicht, da die Sozialdemokratie trotz des Gesetzes ihre gewerkschaftliche Organisation verdoppelt und ihren politischen Anhang sogar verdreifacht hätte. Das Gesetz bezweckte keineswegs, die Arbeiterbewegung zu unterdrücken, es sollte sie lediglich in gesetzliche Bahnen zurückleiten, und dies ist allerdings erreicht worden. Ausschreitungen wie vor dem Gesetz kommen nicht mehr vor; der s. Z. künstlich genährte Glauben an die Heilkraft einer nahen Revolution ist geschwunden und die energische Fortführung der sozialen Reform im Sinne der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 schafft der praktischen Arbeiterpolitik gegenüber den sozialdemokratischen Zukunftsphantasien immer mehr Anhang.

Auch die sozialdemokratische Partei selbst hat sich diesen Wandlungen immer weniger zu entziehen vermocht.

Schon auf den Parteikongressen zu Kopenhagen und St. Gallen (1883 und 1887) machte sich eine Gegenströmung geltend, welche angesichts der Kaiserlichen Sozialreform den Parteistandpunkt der Negation als nicht mehr zeitgemäß verwarf und eine praktische Förderung der Arbeiterinteressen verlangte. Noch schärfer trat diese Opposition auf den beiden nächsten Parteitagen in Halle und Erfurt (1890 und 1891) hervor, als mit dem Erlöschen des Sozialistengesetzes das diktatorische Verhalten der Parteileitung einer desto freieren Kritik unterzogen wurde. Ja, einer der bedeutendsten Parteiführer erklärte ganz unumwunden, dass die Veränderung der Innern politischen Lage und die erhebliche Vergrößerung der Partei dieser auch andere Aufgaben als bisher stelle, dass sie im Interesse der eigenen Selbsterhaltung den dringlichen Anforderungen der Gegenwart sich nicht länger entziehen dürfe und in der positiven Mitarbeit an dem sozialen Reformwerk ihre nächste und vornehmste Aufgabe zu erfüllen habe! Natürlich erregte dies den höchsten Zorn der Parteifanatiker; indessen begnügte sich der Angegriffene mit dem Appell an den gesunden Menschenverstand, und zur Ehre der deutschen Arbeiter darf man annehmen, dass diese Politik des gesunden Menschenverstandes schließlich die Oberhand behält, d. h. die sozialdemokratische Partei wird entweder eine Reformpartei werden oder sie wird verschwinden.

Welches sind nun die nächsten Zielpunkte einer praktischen Arbeiterpolitik?

Die Arbeiterversicherung (gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und Altersschwäche) ist nahezu abgeschlossen. Es fehlt noch die Witwen- und Waisen -Versicherung; die selbe würde die gegenwärtige Gesamtausgabe für die Versicherungszwecke nahezu verdoppeln. Bevor aber Deutschland eine so erhebliche Mehrbelastung auf sich nimmt, würde im Interesse der nationalen Konkurrenzfähigkeit zunächst abzuwarten sein, inwieweit die fremden Konkurrenzstaaten sich ähnliche Lasten zu Gunsten der Arbeiterschaft auferlegen. Immerhin wird sich die Zwischenzeit für die Vorarbeiten zur Witwen- und Waisenversicherung und den weiteren Ausbau der bestehenden Versicherungsgesetze ausnutzen lassen.

Auch der Arbeiterschutz ist seit den Reformerlassen Kaiser Wilhelms n. vom 4. Februar 1890 und der Internationalen Konferenz zu Berlin vom März 1890 durch die neuere Gewerbegesetzgebung im Allgemeinen so weit gefördert worden, als es die Rücksichten auf die internationale Konkurrenz zulassen. Die neuen Gesetzte müssen ihre praktische Probe noch bestehen und könnten erst dann erweitert werden, wenn auch die anderen Staaten, wie dies zum Teil bereits geschehen, im Sinne der Berliner Konferenz mit schärferen Arbeiterschutzbestimmungen vorgehen.

Der für die Arbeiter vielleicht wichtigste, aber auch der umstrittenste Gegenstand betrifft die Arbeiter-Organisation.

Bekanntlich haben die modernen Industriestaaten mit Einführung der Gewerbefreiheit sich durchweg zum Grundsatz des „freien Arbeitsvertrags“ bekannt und durch Aufhebung der Koalitionsverbote den Arbeiter bei Abschließung der Arbeitsbedingungen mit dem Unternehmer gleichstellen wollen. Damit waren aber die Berufsvereine der Arbeiter nur geduldet, nicht gesetzlich anerkannt; den Schutz und die Vorrechte der juristischen Personen (Corporationen) genossen sie nicht. Diese Rechte haben die Arbeiter bisher nur in England und Frankreich erlangt, durch das Trade Unions-Gesetz von 1871 und das Syndicats-Gesetz von 1884.

Die Ansichten, ob diese Vereine dem sozialen Frieden, dem wirtschaftlichen Fortschritt und den eigenen Interessen der Arbeiter mehr genützt oder geschadet haben, sind aber, besonders nach den letztjährigen Erfahrungen in England und Frankreich, sehr geteilt. Man hat deshalb in Deutschland bisher Bedenken getragen, diesen Schritt zu thun, zumal die sozialdemokratische Agitation eine ersprießliche Tätigkeit solcher Vereine kaum erwarten ließ.

Gleichwohl hat man dem Organisationsbedürfnis der Arbeiter in der neueren Gesetzgebung bereits Rechnung zu tragen gesucht. Sowohl bei der Arbeiterversicherung wie bei der Arbeiterschutz-Gesetzgebung sind die Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich als gleichberechtigte Parteien behandelt und überall da, wo Interessen der Arbeiter in Frage kommen, besondere Vertreter derselben zugelassen worden, von dem Arbeiterausschuss in der einzelnen Fabrik hinauf bis zur Mitgliedschaft in der höchsten Spruchbehörde, dem Reichsversicherungsamt.

Dieses Zusammenarbeiten beider Teile an gemeinsamen Aufgaben hat sich bisher durchaus bewährt und zur Milderung der sozialen Gegensätze nicht unwesentlich beigetragen. Es fragt sich daher, ob die weitere Gesetzgebung nicht besser daran thun wird, in dieser Richtung im Sinne der Kaiserlichen Sozialpolitik fortzuschreiten, als beiden Teilen (Unternehmern und Arbeitern) gesonderte Organisationen zu geben, die nach den bisherigen Erfahrungen nicht miteinander, sondern gegeneinander marschieren würden.

Der Zielpunkt einer solchen Gesetzgebung wäre m. E. die gewerbliche Selbstverwaltung auf berufsgenossenschaftlicher Grundlage, d. h. jedes Gewerbe würde eine Unternehmer und Arbeiter gleich berücksichtigende korporative Verfassung erhalten, um seine Angelegenheiten im Wege der Autonomie selbst zu regeln, sodass der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung nur die Festlegung allgemeiner Grundsätze und die im Gesamtinteresse gebotene Oberaufsicht verbliebe.

Man würde damit nur das befördern, was die berufsgenossenschaftliche Selbsthülfe schon heute anstrebt, aber ohne gesetzgeberische Unterstützung nicht erreichen kann.

Das Problem lautet: Regelung der Produktion, oder: Vermeidung der Absatz- und Arbeitsstockungen. Die Unternehmer suchen durch ihre Kartelle den Warenmarkt, die Arbeiter durch ihre Fachvereine den Arbeitsmarkt zu regulieren; beide aber nicht mit-, sondern gegeneinander. Und doch steht beides in Wechselwirkung! Haben die Unternehmer dauernden Absatz, so haben die Arbeiter lohnenden Verdienst, und sind die Massen kaufkräftig, so erweitert dies wieder den Absatz. Nur vereinte Anstrengungen können das Ziel erreichen !

Für die Arbeiter würde es sich dabei vornehmlich darum handeln, die Arbeitsbedingungen, also Arbeitszeit und Arbeitslohn, Arbeitsnachweis und Arbeitsordnung, die Arbeitsstatistik, das Lehrlings- und Schiedsgerichtswesen innerhalb der einzelnen Branchen zu regeln. Es bedürfte nur einer zweckentsprechenden Eingliederung der Arbeiter in die durch die neuere Reichsgesetzgebung geschaffenen Gewerbe -Korporationen, um die dazu nothwendige Organisation zu erhalten. Natürlich hätten Gesetz und Statut den Wirkungskreis der Korporationen und die Kompetenzen beider Teile innerhalb der korporativen Verfassung klar abzugrenzen.

Eine derartige gewerbliche Selbstverwaltung würde m. E. den Interessen beider Teile dienen, eine höhere soziale Ordnung anbahnen und die staatliche Gesetzgebung und Verwaltung von Aufgaben entlasten, welche diese bei der Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit der modernen Gewerbetechnik kaum mehr zu lösen vermag. Ich möchte in dieser Beziehung nur darauf hinweisen, wie wenig befriedigend die staatliche Regelung der Arbeitszeit in den einzelnen Branchen ausgefallen ist, und wie glatt sich dagegen die berufsgenossenschaftliche Regelung der Unfallverhütung vollzogen hat, über welche die Ausstellung des Reichsversicherungsamts näheren Aufschluss gibt.

Als den Schlussstein und den für die Arbeiter wichtigsten Punkt dieser Gewerbeautonomie möchte ich die Versicherung gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit betrachten. Das Bedürfnis dafür ist durch die zahlreichen, aber meist vergeblichen Anstrengungen der Arbeiter, sich gegen diese Folgen der modernen Produktionsweise durch Unterstützungskassen zu schützen, bereits ausreichend dargetan. Auch Fürst Bismarck hat dies anerkannt; am 9. Mai 1884 erklärte er im Reichstag: „Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist; sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist; sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist.“ In der Tat, nicht minder wichtig wie die Kranken-, Unfall- und Invaliditäts-Versicherung ist es für den Arbeiter, dass er, solange er gesund ist, auch Arbeit findet und nicht erst durch die Entbehrungen verdienstloser Zeiten vorzeitig krank und invalide gemacht wird! Es hieße geradezu, das heutige System bankerott erklären, wollte man hier jede Abhilfe versagen. Giebt es etwas sozial und wirtschaftlich Schädlicheres, als arbeitsfähige Leute mit den Ihrigen dem ganzen Jammer der Erwerbslosigkeit zu überantworten oder sie auf Kosten der Steuerzahler müßig gehen zu lassen? Darf man dem werbenden Kapital das Recht zugestehen, Hunderte und Tausende von Arbeitern auf einen Platz zusammenzuballen, um sie, „wenn’s Geschäft nicht mehr lohnt“, einfach auf die Strasse zu setzen? Ich meine, nein! Der moderne Grossbetrieb mit seinen Arbeitermassen ist dem Boden des Privatrechts längst entwachsen; er hat eminent soziale Aufgaben zu erfüllen. Die Einrichtung, Fortführung und Auflösung eines solchen Unternehmens darf nicht mehr ein bloßes Rechenexempel des eigenen Profits sein — es ist dabei auch mit fremdem Menschenglück zu rechnen, mit dem Wohl und Wehe derer, deren Arbeitskraft dem ganzen Unternehmen erst das Dasein gibt. Gerade von der Betätigung oder Nichtbetätigung dieses sozialen Pflichtgefühls seitens der besitzenden Klassen wird es abhängen, welchem Ausgang die gährende Bewegung unserer Zeit entgegengeht.

M. E. lässt die unverschuldete Arbeitslosigkeit eine Reform sehr wohl zu; nicht von heute auf morgen, wohl aber im Wege einer zielbewussten Gewerbepolitik. Wird die gewerbliche Reorganisation in der angedeuteten Weise durchgeführt, so wäre damit das Übel in der Hauptsache bereits beseitigt. Für eine Arbeitslosenversicherung würden nur noch diejenigen übrig bleiben, die auf dem Arbeitsmarkt auch vermöge des geregelten Arbeitsnachweises nicht untergebracht werden könnten. Nur diesen wäre das Recht auf eine Unterstützung einzuräumen, welche die wirtschaftliche Existenz sicherstellt.

Die erforderlichen Mittel hätten Unternehmer und Arbeiter zu gleichen Teilen aufzubringen, entsprechend ihrem beiderseitigen Interesse. Die Lasten der Unterstützung würden sich durch zweckentsprechende Begrenzung der Unterstützung und durch periodische Regulierung der Unterstützungsbestimmungen für jedes Gewerbe in angemessenen Grenzen halten lassen. Auch würden dieselben ähnlich wie bei den übrigen Arbeiterversicherungen als ein Theil der Produktionskosten in der Regel auf die Konsumenten abgewälzt werden, also bei allgemeiner Durchführung das einzelne Gewerbe kaum belasten.

Allerdings wird hier der einzelne Staat, je mehr seine Industrie auf den internationalen Markt angewiesen ist, um so weniger einseitig vorgehen können. Aber wenn wir schon heute internationale Handelsverträge und Fachkonferenzen aller Art haben, warum sollen derartige internationale Vereinbarungen in Zukunft nicht auch den Interessen der Arbeiter mehr Rechnung tragen?

Gerade die Frage der Arbeitslosenversicherung tritt immer mehr in den Vordergrund der praktischen Sozialpolitik. In Deutschland, in der Schweiz, in Österreich sind bereits mehrfache Versuche mit der genossenschaftlichen oder gesetzlichen Regelung der Sache angebahnt worden, und alle diese Versuche bewegen sich in der vorerwähnten Richtung.

Für Deutschland würde es sich dabei m. E. lediglich darum handeln, die soziale Reform im Sinne der Kaiserlichen Kundgebungen von 1881 und 1890 (s. u.) zeitgemäß fortzuführen. Wenn aber im Übrigen die Ansichten über die Mittel und Wege zum Ziel heute noch wenig geklärt sind, so scheint mir gerade dieser Congress der passendste Ort, im Interesse des sozialen Fortschritts eine solche Klärung anzubahnen.

Ich kann daher dem Comité des Kongresses nur meinen Dank dafür aussprechen, mir hierzu die Gelegenheit geboten zu haben.