II. Die soziale Reform in Deutschland. (Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung.)

Die soziale Reform auf dem Gebiet der Arbeiterfrage begann im Deutschen Reich mit Kaiser Wilhelm’s I. Allerhöchster Botschaft vom 17. November 1881. Es ward darin die Überzeugung niedergelegt, dass die hilfsbedürftigen Kreise der arbeitenden Bevölkerung in den unvermeidlichen Notlagen des modernen Erwerbslebens auf ein höheres Maß sozialer Fürsorge Anspruch hätten, und dass es Aufgabe eines auf wahrhaft christlicher Grundlage beruhenden Staatswesens sei, diesen Anforderungen durch genossenschaftliche Zusammenfassung der realen Volkskräfte gerecht zu werden. Eine durchgreifende Regelung der Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung wurde hiernach als die dringlichste Aufgabe sofort in Angriff genommen.

Die beabsichtigten Erfolge ließen sich nur auf dem Wege der staatlichen Zwangsversicherung erreichen. Hiernach ergab sich als natürlicher Träger des Versicherungs-Risikos die Berufs- oder Bezirks -Genossenschaft und damit als Grundpfeiler der gesammten Versicherung: Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung.


Der Versicherungszwang beschränkt sich im Allgemeinen auf die Lohnarbeiter und die unteren Betriebsbeamten (mit Jahresverdienst bis 2.000 Mark) ; jedoch ist die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf höhere Betriebsbeamte und kleinere Unternehmer oder deren Zulassung zur freiwilligen Versicherung nach Bedürfnis gestattet. Jeder Versicherte hat — im Gegensatz zur bloßen Armenpflege — einen kostenfrei verfolgbaren Rechtsanspruch auf gesetzlich bestimmte Unterstützungen.

Die Krankenversicherung ist reichsgesetzlich durch das Stammgesetz vom 15. Juni 1883 und ein Ergänzungsgesetz vom 10. April 1892 für Gewerbe und Handel geregelt, dagegen für die Land- und Forstwirtschaft bisher der statutarischen oder landesgesetzlichen Ordnung überlassen.

Die mindeste Krankenunterstützung gewährt: für 13 Wochen freie ärztliche Behandlung nebst Heilmitteln und bei Erwerbsunfähigkeit ein Krankengeld zur Hälfte des durchschnittlichen Tagelohnes oder an Stelle dieser Leistungen freie Anstaltspflege nebst dem halben Krankengelde für Angehörige ; ferner dieselbe Fürsorge für Wöchnerinnen auf die Dauer von 4 Wochen, und im Todesfall ein Sterbegeld zum 20fachen Betrage des Tagelohnes.

Die erforderlichen Mittel werden durch Wochenbeiträge (bis zu 3% des Durchschnittslohnes) aufgebracht, welche die Versicherten zu 2/3 und ihre Arbeitgeber zu 1/3 tragen.

Die Verwaltung erfolgt durch beruflich oder ortschaftlich organisierte Krankenkassen, deren Vorstände aus den Versicherten und Arbeitgebern dem Beitragsverhältnis entsprechend zusammengesetzt sind.

Die Kranken -Versicherung umfasst gegenwärtig rund 8.000.000 Personen in mehr als 20.000 Krankenkassen und erheischt eine Jahresausgabe von mehr als 100.000.000 Mark.

Die Unfallversicherung bezweckt die privatrechtliche Haftpflicht mit ihren für den Unternehmer und Arbeiter gleich schädlichen Mängeln durch eine öffentlichrechtliche Fürsorge zu ersetzen, welche den Verunglückten (oder seine Hinterbliebenen) auch in den zahlreichen durch Zufall, Schuld der Mitarbeiter oder eigene Fahrlässigkeit herbeigeführten Unfällen sichern und den leidigen Entschädigungsprozessen zwischen Arbeitern und Unternehmern ein Ende machen soll. Die persönliche Entschädigungsverpflichtung der Unternehmer verwandelt sich so in eine wirtschaftliche Belastung des ganzen Gewerbszweiges, an welcher der einzelne Betrieb nach dem Maße seines Risikos (Arbeitsverbrauch und Gefährlichkeit) beteiligt wird. In Ermangelung jeglicher Vorbilder konnte diese Regelung der Unfallversicherung nur schrittweise erfolgen.

Das Stammgesetz vom 6. Juli 1884: beschränkt sich vorzugsweise auf die Industrie (fabrikmäßige Betriebe). Die Versicherung erfolgt unter Garantie des Reichs auf Gegenseitigkeit der Unternehmer durch Berufsgenossenschaften, welche nach Industriezweigen gebildet werden und die genossenschaftliche Selbstverwaltung durch Einrichtung von „Sectionen“ und Bestellung von „Vertrauensmännern“ dezentralisieren können.

Die Unfallentschädigung umfasst: 1. bei Verletzungen (vom Beginn der 14. Woche nach Eintritt des Unfalls d. h. im Anschluss an die Krankenversicherung) die Kosten des Heilverfahrens und eine Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit bis zu 66 2/8 % des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes oder an Stelle dieser Leistungen freie Anstalts-Pflege bis zum beendigten Heilverfahren und eine Rente für die Angehörigen des Verletzten wie im Todesfall; 2. bei Tötungen die Beerdigungskosten bis zum 20fachen Betrage des Tagelohnes und eine Rente für die Hinterbliebenen vom Todestage ab (für die Wittwe und Kinder bis zu 60%, für bedürftige Eltern 20% des Jahresarbeitsverdienstes). Die Feststellung des Schadensersatzes erfolgt durch die Organe der Berufsgenossenschaft, gegen deren „Bescheid“ dem Versicherten binnen 4 Wochen die Berufung an das Schiedsgericht beziehungsweise noch der Rekurs an das Reichsversicherungsamt zusteht, in welchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen vertreten sind. Die Entschädigungen werden auf Anweisung des Genossenschaftsvorstandes vorschussweise von der Post ausgezahlt und nach Schluss jedes Rechnungsjahres auf die Genossenschaftsmitglieder nach Maßgabe der Lohnsumme und Gefährlichkeit ihrer Betriebe umgelegt.

Zur Verminderung der Unfall-Gefahren und -Lasten können die Berufsgenossenschaften unter Zuziehung der „Arbeitervertreter“ besondere Unfallverhütungs-Vorschriften erlassen.

Unter Anlehnung an dieses Stammgesetz erfolgte die Ausdehnung der Unfallversicherung auf die Verkehrsund Transport-Betriebe, die Land- und Forstwirtschaft, die Baubetriebe und die Seeschifffahrt durch die Reichsgesetze vom 28. Mai 1885, 5. Mai 1886, 11. und 13. Juli 1887, während die Einbeziehung des Handels, Handwerks und Kleingewerbes noch aussteht. Im Ganzen sind bisher rund 18.000.000 Personen gegen Betriebsunfälle versichert und über 100.000.000 Mark an Entschädigungen verausgabt worden.

Die Invaliditäts- und Altersversicherung, seit 1. Januar 1891 durch Reichsgesetz vom 22. Juni 1889 eingeführt, bildet den gegenwärtigen Abschluss der Arbeiterversicherung. Träger der alle Berufszweige umfassenden Versicherung sind unter staatlicher Garantie territoriale Versicherungs-Anstalten, an deren Selbstverwaltung die Versicherten und Arbeitgeber gleichmäßig beteiligt sind. Die Versicherung gewährt Invaliden-Renten an Erwerbsunfähige, ohne Rücksicht auf das Lebensalter, und Alters-Renten an Siebzigjährige, ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit. Die erforderlichen Mittel werden, neben einem jährlichen Reichszuschuss von 50 Mk. für jede Rente, von den Versicherten und deren Arbeitgebern zu gleichen Teilen durch laufende Wochen-Beiträge aufgebracht. Die Höhe derselben ist für die einzelnen Versicherungsanstalten und Beitragsperioden (von zunächst 10, später je 5 Jahren) so zu bemessen, dass der Kapitalwert der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an den in dem betreffenden Zeitraum voraussichtlich zu bewilligenden Renten nebst den Verwaltungskosten, Rücklagen und sonstigen Aufwendungen gedeckt wird. Zum Zweck der Bemessung der Beiträge und Renten sind vier Lohnklassen (mit Jahresverdienst bis 350 M., 550 M., 850 M. und über 850 M.) gebildet und die Wochen -Beiträge darin für die erste Beitragsperiode auf 14 Pf., 20 Pf., 24 Pf. und 30 Pf. festgesetzt.

Die Invalidenrente beginnt nach Ablauf der gesetzlichen Wartezeit von 5 Beitragsjahren (235 Beitragswochen) mit dem Mindestbetrage von jährlich 115,20 M., 124,20 M., 131,40 M., 141 M. und steigt in 50 Jahren auf 162 M., 266,40 M., 344,40 M., 448,20 M.; die Altersrente beträgt nach Ablauf der 30 Wartejahre (1410 Beitragswochen) 106,80 M., 135 M., 163,20 M., 191,40 M.

Für beide Renten ist aber die Wartezeit im Interesse der Versicherten durch besondere Übergangsbestimmungen zunächst so herabgesetzt, dass gegen Beibringung bloßer Arbeitsbescheinigungen für 3 beziehungsweise 4 rückliegende’ Beitragsjahre Siebzigjährige schon am 1. Januar 1891 (beim Inkrafttreten des Gesetzes), also ohne jede Gegenleistung, und Erwerbsunfähige schon am 16. November 1891, d. h. nach nur einjähriger Beisteuer (für 47 Beitragswochen), Renten erlangen konnten.

Über den Anspruch auf Bewilligung einer Rente hat der Vorstand der Versicherungsanstalt durch Erteilung eines „Bescheides“ zu befinden, gegen welchen dem Versicherten binnen 4 Wochen die Berufung an das (wie bei der Unfallversicherung zusammengesetzte) Schiedsgericht beziehungsweise noch die Revision beim Reichsversicherungsamt offen steht. Einen Anspruch auf Rückerstattung der (für mindestens 5 Beitragsjahre) selbstgeleisteten Beiträge haben weibliche Versicherte, welche vor Erlangung einer Rente heiraten, und die Witwen oder Waisen solcher Versicherten, die vor Erlangung einer Rente sterben.

Die geschäftliche Aufsicht ist wie bei der Unfallversicherung dem Reichs-Versicherungsrat übertragen.

Die Invaliditäts- und Altersversicherung umfasst gegenwärtig über 11.000.000 Personen und hat bisher an Renten fast 40.000.000 M. zur Auszahlung gebracht.

Im Ganzen ist für die Zwecke der Arbeiterversicherung in Deutschland bisher nahezu eine Milliarde Mark aufgewendet, welche ausschliesslich der arbeitenden Bevölkerung zu Gute gekommen ist. (Vergl. dazu den vom Reichs-Versicherungsamt für die Weltausstellung in Chicago hergestellten „Leitfaden zur Arbeiter -Versicherung des Deutschen Reichs“ — Verlag von A. Asher & Co. in Berlin, Einzelpreis 20 Pf., Massenpreis 10 Pf. — und die daraus — S. 27 ff. — wiedergegebenen statistischen Tafeln A, B, C, D.)

Der zweite Abschnitt der sozialen Reform wurde mit dem Allerhöchsten Erlass Kaiser Wilhelms 11. vom 4. Februar 1890 eingeleitet. Danach wurde zur weiteren Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter eine Revision der Fabrikgesetzgebung als notwendig bezeichnet. Zielpunkt derselben sollte sein: die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, dass die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben, insbesondere sollten zur Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und Behörden befähigt werden.

Zugleich wurde auf die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Reform hingewiesen und zur Abschwächung derselben eine internationale Konferenz nach Berlin einberufen. Dieselbe tagte vom 15. bis 29. März 1890 und führte zu einer Verständigung über gewisse Untergrenzen eines den heutigen Anforderungen entsprechenden Arbeiterschutzes. Die Beschlüsse betrafen die Regelung der Sonntagsarbeit und der Fabrikbeziehungsweise Bergwerksarbeit der sogenannten ,,geschützten Personen“ (Kinder bis zu 14 Jahren, junge Leute bis zu 16 Jahren, weibliche Personen über 16 Jahre).

Für Deutschland galt es nun, die bestehenden Schutzvorschriften diesen Grundsätzen gemäss zu erweitern.

Die deutsche Gewerbeordnung geht von dem Grundsatz der Gewerbefreiheit aus und bestimmt demgemäß: „Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitern ist Gegenstand freier Übereinkunft, vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen.“ Diese Beschränkungen bilden in ihrer Gesamtheit das, was man neuerdings im Gegensatz zur „Arbeiterversicherung“ schlechtweg mit „Arbeiterschutz“ bezeichnet. Solche Schutzbestimmungen sind staatliche Eingriffe in den freien Arbeitsvertrag zu Gunsten des schwächeren Teils; sie werden um so weiter gehen, je mehr die Überzeugung vordringt, dass der moderne Staat als Träger der Kultur auch die sozialen Gegensätze zu einem gerechten Ausgleich zu bringen hat. Heute kommt nur noch das Maß des Schutzes, nicht mehr dieser selbst in Frage.

Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891 hat diese Schutzgrenzen zu Gunsten der deutschen Arbeiter wesentlich erweitert.

Was zunächst die Sonntagsarbeit betrifft, so hatte sich die bloße Bestimmung, dass „die Gewerbetreibenden die Arbeiter zum Arbeiten an Sonn- und Festtagen nicht verpflichten können“, wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit der meisten Arbeiter als völlig unwirksam erwiesen. Das neue Gesetz verbietet daher die Beschäftigung von Arbeiten an Sonn- und Festtagen in Bergwerken, Fabriken, Werkstätten und Bauhöfen, schreibt eine Mindestruhe von 24 Stunden vor und lässt diese Ruhe in der Regel um 12 Uhr Nachts beginnen; auch kann das Verbot der Sonntagsarbeit auf andere Gewerbe ausgedehnt werden. Andererseits hat das Gesetz die notwendigen Ausnahmen, aber auch für diese Fälle überall ein Mindestmaß an Sonntagsruhe vorgesehen.

Die Vorschriften zum Schutz der körperlichen und sittlichen Wohlfahrt der gewerblichen Arbeiter sind ebenfalls erweitert worden. Das frühere Gesetz verpflichtete zwar die Unternehmer, „alle diejenigen Einrichtungen herzustellen, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind“, aber es fehlten bestimmte Anhaltspunkte für Art und Maß des zu gewährenden Schutzes. Diesem Mangel hat das neue Gesetz durch nähere Ausführungsvorschriften abgeholfen.

Es verlangt insbesondere die Fürsorge für genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechsel, die Beseitigung von Staub, Dünsten, Gasen, und die Umkleidung gefährlicher Maschinenteile , ferner den Erlass der nöthigen Sicherheits- und Ordnungsvorschriften, namentlich tunlichste Trennung der Geschlechter während der Arbeit, getrennte Ankleide- und Waschräume und ausreichende Bedürfnisanstalten.

Auch können für bestimmte Arten von Anlagen nähere Ausführungsvorschriften über das Maß der zu stellenden Anforderungen erlassen und für solche Gewerbe, in denen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen vorgeschrieben werden.

Bezüglich der Fabrik- und Bergwerksarbeit galt es vornehmlich, der mit der zunehmenden Maschinentechnik verstärkten Tendenz, die männliche Arbeitskraft durch die billigere Frauen- und Kinderarbeit zu ersetzen, schärfer entgegen zu wirken. Das neue Gesetz geht dabei von dem Grundsatz aus, dass die Kinder in die Schule, die Frauen in das Haus gehören, dass den jugendlichen Arbeitern (unter 18 Jahren) die zur Fortbildung nötigen Freistunden und überall die durch Alter und Geschlecht gebotenen Rücksichtnahmen zu sichern sind. Hiernach bestimmt das neue Gesetz Folgendes :

Kinder unter 13 (früher 12) Jahren dürfen in Fabriken und Bergwerken überhaupt nicht und Kinder über 13 Jahren nur dann beschäftigt werden, wenn sie nicht zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die tägliche Arbeitszeit bleibt dagegen wie bisher für Kinder auf höchstens 6 Stunden mit einer mindestens halbstündigen Pause, für junge Leute (von 14 — 16 Jahren) auf 10 Stunden mit einer mindestens einstündigen Mittags- und einer je halbstündigen Vor- und Nachmittagspause begrenzt, jedoch an Sonn- und Festtagen und zur Nachtzeit (8 1/2 Uhr bis 5 1/2 Uhr Morgens) ausgeschlossen.

Den jugendlichen Arbeitern (unter 18 Jahren) ist der regelmäßige Besuch der Fortbildungsschulen, den Mädchen auch der Besuch von Haushaltungsschulen und der durch das Alter bedingte Schutz der Gesundheit und Sittlichkeit gesichert.

Arbeiterinnen (über 16 Jahre) dürfen höchstens 11 Stunden täglich mit einer mindestens einstündigen Mittagspause, zur Nachtzeit und unter Tage überhaupt nicht und am Vorabend von Sonn- und Festtagen nicht nach 5 1/2 Uhr Nachmittags beschäftigt werden; auch sollen diejenigen, die ein Hauswesen zu besorgen haben, auf ihren Antrag eine halbe Stunde vor der Mittagspause entlassen und Wöchnerinnen während 4 (statt bisher 3 Wochen) nach der Niederkunft überhaupt nicht, während der folgenden 2 Wochen nur mit ärztlicher Genehmigung beschäftigt werden.

Von diesen grundsätzlichen Bestimmungen sind unter gewissen Voraussetzungen teils erweiternde, teils einschränkende Ausnahmen zugelassen; insbesondere kann die Verwendung der geschützten Personen für Fabrikationszweige, welche mit besonderen Gefahren für Gesundheit oder Sittlichkeit verbunden sind, gänzlich untersagt oder von besonderen Bedingungen abhängig gemacht werden.

Die Aufsicht über die Ausführung aller dieser Schutzbestimmungen steht wie bisher besonderen Beamten — Gewerberäten oder Fabrikinspektoren — zu, doch ist ihr Wirkungskreis erheblich erweitert worden. Insbesondere haben ihnen die Arbeitgeber über die Verhältnisse ihrer Arbeiter fortan die behördlich verlangten statistischen Mitteilungen zu machen, was für die Entwickelung der deutschen Arbeitsstatistik von besonderer Bedeutung ist.

Besonders wichtig sind die Bestimmungen über die Beteiligung der Arbeiter bei der Feststellung und Durchführung des Arbeitsvertrags. Danach ist für jede Fabrik mit wenigstens 20 Arbeitern unter Mitwirkung der großjährigen Arbeiter oder eines gewählten Arbeiter-Ausschusses eine Arbeitsordnung zu erlassen, welche genaue Bestimmung über die Arbeitszeit, Lohnzahlung, Kündigung und Strafen enthalten muss. Es wird damit auch den einzelnen Arbeitern eine gewisse Einwirkung auf die Ausgestaltung des Arbeitsvertrages gesichert und der Fortbildung des individuellen Arbeitsvertrags zur kollektiven Arbeitssatzung bereits vorgearbeitet.

Für den Fall des Kontraktbruches gestattet das Gesetz dem Geschädigten — Arbeitgeber oder Arbeitnehmer — statt des Schadensersatzes eine fixierte Entschädigung zu fordern dieselbe darf den Betrag eines Wochenlohns nicht übersteigen.

Im Übrigen ist die Entscheidung der gewerblichen Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern (durch Gesetz vom 29. Juli 1890) einem schnellen und billigen Verfahren vor besonderen Gewerbegerichten überwiesen worden. Solche Gerichte sind nach Anhörung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer von den Gemeinden zu errichten.

Jedes Gewerbegericht besteht aus einem Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern. Der erstere darf weder Arbeitgeber noch Arbeiter sein und wird vom Gemeindevorstand gewählt; die Beisitzer werden je zur Hälfte von den Arbeitgebern und Arbeitern in geheimer Wahl gewählt.

Als Einigungsamt kann das Gewerbegericht angerufen werden, wenn Streitigkeiten über zukünftige Arbeitsbedingungen — über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Arbeitsverhältnisse — entstehen. Das Einigungsamt entscheidet also nicht individuelle Rechtsstreitigkeiten, seine Aufgabe ist vielmehr die Verhütung und Beilegung von Streiks und Aussperrungen.

Es tritt nur auf Antrag beider Teile zusammen und kann sich durch Zuziehung von Vertrauensmännern der Arbeitgeber und Arbeiter in gleicher Zahl ergänzen. Das Streitverhältnis ist in gemeinsamer Verhandlung mit den Vertretern beider Teile klarzustellen und demnächst ein Einigungsversuch vorzunehmen.

Das Ergebnis der Verhandlungen, mag eine Vereinbarung oder ein Schiedsspruch oder keins von beiden zu Stande kommen, ist jedes Mal aktenmäßig festzustellen und zu veröffentlichen.

Schließlich ist das Gewerbegericht verpflichtet, auf behördliches Ansuchen Gutachten über gewerbliche Fragen abzugeben, und berechtigt, seinerseits bezügliche Anträge einzubringen. —

Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung ergänzen einander und dienen dem nämlichen Zweck: dem Arbeiter das wertvollste Gut, was er besitzt — seine Arbeitskraft — tunlichst lange zu erhalten und ihm bei Verlust derselben eine auskömmliche Existenz zu sichern. Es ist damit die Grundlage für ein modernes Arbeiterrecht geschaffen, welches noch weiterer Ausbildung harrt. Insbesondere gilt es, die Frage der Witwen- und Waisen- und der Arbeitslosen-Versicherung zu lösen, andererseits durch eine zeitgemäße Reorganisation des Gewerbewesens auch den Arbeitern einen größeren Anteil an den Fortschritten der modernen Technik und Kultur zu sichern. Bei der internationalen Verzweigung der modernen Wirtschaftsweise wird aber der einzelne Staat allein kaum vorgehen können. Möge daher auch auf diesem Gebiet der friedliche Wetteifer der Nationen bald dahin führen, dass alle, die von ihrer Hände Arbeit leben, gegen unverschuldete Not tunlichst gesichert und der Segnungen unserer Kultur immer mehr teilhaftig werden. Es würde dies eine der bedeutendsten Errungenschaften unseres Jahrhunderts sein und uns der christlichen Verbrüderung der Menschheit ein gutes Stück näher bringen!

Tafel A. Die Arbeiter -Versicherung des Deutschen Reichs.

Gesammt-Bevölkerung 50.000.000. Lohn-Arbeiter 12.500.000.

Gesamtübersicht. 1) 1892

Die Reichsgesetzliche Versicherung

— auf Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung beruhend —

umfasst ohne Unterschied der Nationalität Personen, welche in Deutschland ihre Arbeitskraft gegen Lohn verwerten, und gewährt bei Krankheit, Unfall, Invalidität oder Alter — im Gegensatz zur bloßen Armenpflege — jedem Versicherten einen Rechtsanspruch auf gesetzlich bestimmte Unterstützungen bei kostenfreiem Verfahren.

Erläuterungen.

Die abgerundeten Zahlen beruhen auf Schätzung, soweit die Abrechnung für das Jahr 1892 bei Aufstellung der Übersicht — Mitte Januar 1893 — noch nicht abgeschlossen war. 2) In Gewerbe und Handel gegen Lohn oder Gehalt (bis 2000 Mark Jährlich) beschäftigte Personen, Land-(Forst-)wirtschaft und Hausdienste nur teilweise eingeschlossen; vergl. Tafel B. 3) in Industrie und Land-(Forst-)wirtschaft — nicht Handel, Handwerk und Kleingewerbe — beschäftigte Arbeiter, Betriebsbeamte mit Jahresverdienst bis 2000 Mark und Kleinunternehmer mit ähnlichem Arbeitseinkommen; darunter etwa 4.000.000 Landbesitzer (unter 10 Hektar Bodenfläche) und ebenso viele im Neben- oder Doppelerwerbe versicherte Personen; vergl. Tafel C. 4) Gegen Lohn oder Gehalt beschäftigte Arbeiter aller Berufszweige (einschließlich der Lehrlinge und Dienstboten), sowie Betriebsbeamte und Handlungsgehilfen mit regelmäßigem Jahresarbeitsverdienst bis 2000 Mark; vergl. Tafel D. 5) Personen, welche auf Grund der Arbeiterversicherungsgesetze eine Unterstützung in Geld- oder sonstigen Leistungen (freies Heilverfahren u. s. w.) zur Schadloshaltung für die durch Krankheit, Unfall, Invalidität oder Altersschwäche herbeigeführte Erwerbsbeschränkung bezogen haben; vergl. Talel J5, C, D, III, 6) Einschließlich des Bestandes zu Anfang des Rechnungsjahres, bezw. des Zinsertrags. 7) Einschließlich des Reichszuschusses; vergl. Tafel D, J. 8) Einschließlich des Vermögenszuschlags. 9) Einschlie9lich der laufenden Kosten der ganzen Organisation. 10) Der den gesetzlichen Bestimmungen gemäß zur Sicherstellung der Entschädigungsleistungen angesammelte Kapitalbestand.11) Durchschnittlicher Entschädigungsbetrag auf den einzelnen Unterstützungsfall; vergl. Tafel B, C, D, 11. 12) Durchschnittlicher Kostenbetrag der Versicherung auf den Kopf der versicherten Personen; vergl. Tafel B, C, D, II.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Arbeiterbewegung und Sozialreform in Deutschland.