Das Geheimnis des Lebens

Es ist rührend, dem Erklären und Beschreiben feiner Historiker und Psychologen zuzusehen: mit wie geschickten Fingern sie das Leben zergliedern, zerfasern — und wie dennoch das Geheimnis dieses Lebens unberührt bleibt.


Manche Menschen machen sich vor andern so klein wie möglich, um — größer als diese zu bleiben.


Dem Worte Größenwahn ist noch nie das Wort Kleinheitswahn oder Niedrigkeitswahn gegenübergeprägt worden. Und doch ist dieses Leiden so verbreitet, daß ganze Völker noch nicht darüber hinausgekommen sind, sich als bloße Tiere zu empfinden, zu gebärden und zu behandeln.


Mein Satz: Dummheit als absolut notwendiges Retardivum.


Ein berühmter Arzt ist wie eine junge Millionenerbin. Er weiß nie, wie weit man ihn als Menschen und nicht nur als Arzt liebt.


Wie wohl kann das Geräusch einer Säge oder einer arbeitenden Lokomotive tun, ein Hämmern, ein Türenschlagen, ja selbst ein Wagenrasseln, wenn man wund und weh daliegt und nach einfachen kräftigen Grüßen des Lebens hungert.


Jedes Wort ist notwendig Pol. Im Innern sind wir nur als Wortlose, sind wir nur, sobald wir bloß sind, unser Sein bloß fühlen. Daher das tiefe Friedensgefühl, das wir allem Vegetativen beilegen und beilegen dürfen.


Im Schachspiel offenbart sich durchaus, ob jemand Phantasie und Initiative hat oder nicht.


Wahrlich eine verderbliche Lehre: es sei die Bestimmung des Weibes, Gattin oder Mutter zu werden. Damit wird das Weib als Mensch, als Individuum völlig ausgeschaltet, als hätte es an sich überhaupt keinen Wert, keinen Sinn, keine Entwickelungsmöglichkeiten, habe überhaupt nur in Beziehung auf Gatten und Kind Existenzberechtigung. Möchten sich doch alle darüber klar werden, daß wir außer Männchen und Weibchen auch noch Menschen sind.


Im Sohn will die Mutter Mann werden.


Das ist die Gefahr von uns Künstlern: Wir empfinden z.B. einen aufgestützten, entblößten Frauenarm von so hinreißender Schönheit, daß wir ganz vergessen, daß er einer bestimmten Frau gehöre. Und wenn wir zu 196dieser Frau nun in Liebe entlodern, so ist es eigentlich die Schönheit des Weibes, des Menschen überhaupt, die wir anbeten, weniger sie selbst. Und da setzt leicht die Tragödie ein.


Ein Mädchen gefällt uns nicht so sehr etwa um ihrer Augen willen, als ihre Augen um seinetwillen, das heißt um seiner ganzen imponderablen Persönlichkeit willen.


Das Weib mischt uns ins Leben hinein.


Leichtsinn und Geduld, zwei weibliche Haupteigenschaften.


Natürlichkeit, Schwester der Freiheit (und Einfalt).


Es ist schauerlich, Klavier spielen zu hören, während man über Berge und Täler hinwegblickt und die Erde als eine ihrer unzähligen Schwestern mit sich im unendlichen Räume schweben und kreisen fühlt.


Ein gewisses Maß von Schelten gehört wohl zum Leben. Schelten in seiner sublimiertesten Gestalt, als philosophischer, ja, als religiöser Pessimismus, dürfte ebenso nur eine Art von Ventilierung sein, wie der mehr oder minder gerechtfertigte Ärger des Eintags. Alles in Allem möchte hier ein Zuchtproblem vorliegen, das nur selten gelöst werden wird; wenn nämlich dies ganz große Zucht (also ganz großer Stil) ist: ein leidenschaftlich empfindsamer Geist und doch zugleich ein Weiser zu sein.


Die Meisten wissen garnicht, was sie für ein Tempo haben könnten, wenn sie sich nur einmal den Schlaf aus den Augen rieben.


Manche Menschen treiben leicht ab. Unversehens sind sie anderswo, als wo man sie haben will, als wo sie sich selbst haben wollen.


Darum können Zeitungen so sehr schaden, weil sie den Geist so unsäglich dezentrieren, recht eigentlich zerstreuen.


Wer sich überhebt, verrät, daß er noch nicht genug nachgedacht hat.


Vielen ist Reisen ein Ersatz für Leben. Es gibt oft nichts Schmerzlicheres, als solches zu erkennen.


Wenn die Mehrzahl der Menschen das Kleine nicht so viel wichtiger nähme als das Große, würde das Große nie auf seine Rechnung kommen. Wenn der Mensch sich mehr um den Himmel als um die Erde kümmerte, würde nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel verkümmern. Der Geist ist nicht umsonst in die Materie herabgestiegen.


Wie schön ist es, das Auge von einem schönen Buch, in das man versunken war, zu einer schönen Landschaft aufzuschlagen. Dieser kurze Übergang von chiffrierter Geisterwelt in symbolische, dieser jungfräuliche Augenblick unbewußten Staunens ist einzig.


Alles was nicht leicht verstanden wird, reizt leicht. Die edelste Musik kann so z.B. ebenso wie die tiefste Philosophie Gegenstand erbitterter Gegnerschaft werden.


Solange das Tier noch gegessen wird, solange wird es seinen Esser auch besitzen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Oder glaubt man wirklich, es sei keine Beziehung zwischen der Dummheit des Kalbes, der Kuh, des Ochsen und der ihrer Verzehrer, es übertrage der Hammel, das Schwein, der Fisch usw. nicht ganz besondere psychische Hemmungen oder Reize?


Es gibt nichts Schwereres, als einen Menschen, den man liebt, einen Weg gehen lassen zu müssen, der zur nächsten Stadt führt, statt auf den nächsten Gipfel.


Für den Trägen gibt es nichts Aufreizenderes als die unaufhörlich fortschreitende Zeit. Er fühlt, wie sie über ihn hinweggeht und stammelt ihr in dumpfem Ingrimm seine Verwünschungen nach.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern