Die reinsten Empfindungen

Was gegen die höchsten, reinsten Empfindungen ausgespielt wird, sind nichts als die gleichen Empfindungen, nur noch mehr oder minder vor ihrer Katharsis. Wie kann man den Satz nachsprechen: Gott ist die Liebe, und an anderer Stelle der Meinung sein, eine vom Tierischen ganz losgelöste seelisch-geistige Liebe sei — wohl vielleicht eine reinere, aber auch eine kühlere, blassere, ohnmächtigere Liebe!


Es gibt Seelen, zu schamhaft, Wege der tieferen Erkenntnis beschreiten zu wollen. Sollten sie als ‚von Gottes Stamme‘ nicht noch zu wenig stolz sein und als Arbeiter an Gottes Reiche nicht noch zu wenig demütig?


Welcher Erfahrene kennt nicht im Geistes- und Empfindungsleben den Zustand des Federsträubens der Vögel.


Ich machte die Beobachtung, daß Menschen, die beim Beifallklatschen die Arme weit von sich, ja fast über Kopfeshöhe ausstrecken, in einer zugleich wunderlichen und schmerzlichen Weise den Anblick ungeduldig Bittender, ungeduldig — Betender gewähren, eine Vorstellung, von der sie selbst nicht das Geringste ahnen und die doch nichts weniger als ihre ganze dürstende Seele — in einem doppelgängerischen Bilde gleichsam — enthüllt.


Die Anzahl der geistigen Foltermittel, die wir heute noch unter- wie gegeneinander bewußt oder unbewußt anwenden, ist groß. Eines davon ist das Fragen. Es gibt Menschen, die so wenig wie möglich gefragt sein wollen; wohlverstanden: nach Unwesentlichem. Und Gegenstücke dazu: Menschen, die fast keine andere Interpunktion kennen, als das Fragezeichen.


Wie mancher muß sich auf Kosten seiner Vergangenheit lieben lassen. Diese Vergangenheit hat ihm vielleicht ein gutartiges Gesicht gegeben. Älter werdend aber erkennt er mehr und mehr auch das Böse in sich. Nun aber hängt ihm seine Miene wie ein Schild vor, das nur die eine Seite seines Wesens anzeigt.


Gewiß hat der Mann die moderne Kultur geschaffen, aber sie ist denn auch nur für ihn ein so ungeheurer Ruhmestitel. Er selbst würde vermutlich nie an dieser kompakten Errungenschaft vorbeikommen, wenn es nicht Frauen gäbe, die, ohne seinen ‚Geist der Schwere‘ himmlisch unbefangen daran vorüber und dem entgegenschritten, was ihrer Seele — denn für sie gibt es in der Tat und horribile dictu noch eine Seele — not und wohl tut.


Wie ein Wind über ein Ährenfeld, so ging diese durchfahrene Viertelstunde über seine bewegliche Seele.


Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten und danach, was man geben kann, einrichten.


Es gibt Naturen, die für sich allein Stunden lang mit ihren Freunden und Bekannten reden, während ihnen in deren Gegenwart jeder Gesprächsstoff entfallen ist.


Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewußtsein.


Der Mensch ist ein in einem Spiegelkerker Gefangener.


Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.


Ein jeder sollte erst seine Grenzen anzugeben suchen, soweit er sie selbst erkennen kann, um darauf umso freier und unbefangener seine Beobachtungen und Meinungen niederzulegen.


Die Menschen haben sich daran gewöhnt, von hinten nach vorn, statt von vorn nach hinten zu denken.


Bedeutet es schließlich etwas, seine Kniee und Füße anblicken zu können? Und doch kannst du es nur solange, als du in dir lebst.


Nur der Erkennende lebt.


Ich darf wohl sagen: Ich liebe die Wissenschaft von Grund auf und hasse alle Schwarmgeisterei. Eine Wissenschaft aber, die vergißt, daß sie eine seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, ja, die vergißt, daß sie selbst Mysterium ist, sie fällt mit der übelsten Schwarmgeisterei in eins zusammen, sie ist im Tiefsten inferior, allein schon rein intellektuell genommen.


Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Religion. Und nicht einmal eine wesentliche.


Der Denker, der dir kein Grauen erregt, ihn magst du zu Tisch einladen.


Das Urbuch der Welt wird mit sympathetischer Tinte geschrieben.


Nur im vorbereiteten Herzen kann ein neuer Gedanke Wurzel fassen und groß werden. Sich vorbereiten, sich zubereiten, den Acker lockern für das beste Korn, ist alles.


Es gibt kein größeres Hindernis, zur Wahrheit zu gelangen, als — schreiben zu können. Vergiß deinen Stil, vergiß allen Stil, überlaß dich ganz dem Rhythmus der inneren Stimme, überlaß alle ‚Kunst‘ denen, die mehr Künstler sind als Wahrheitssucher.


Der Materialismus hat uns in viele Jämmerlichkeiten gestürzt, aus denen wir uns erst nach und nach wieder erheben werden.


Alles Denken ist Zurechtmachen.


Wie mancher Gedanke fällt um wie ein Leichnam, wenn er mit dem Leben konfrontiert wird.


Ich meine: Gehirn und Dinge sind in Einem Zirkel beschlossen. Im Gehirn kann nicht sein, was nicht im Stoff ist.


Betrachte den Fühler dieses feingliedrigen Käfers. Was ist der Mensch anderes als solch ein Fühler, von unbekannter Urkraft ausgestreckt, tastend sich über die Dinge zu unterrichten suchend, zuletzt forschend zurückgekrümmt auf sich selbst — ? Der Mensch, ein Taster Gottes nach Sich selbst.


Alles Denken ist Übersetzen Gottes ins Rationalistische. Von Gott, dem Original, wissen wir nur durch Gott, den Übersetzer.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern