8 Tage auf dem Gipfel des Scorzef

Nicht ohne eine gewisse Beklemmung sahen die Astronomen ihre beiden jungen Kollegen sich entfernen. Denn welche Mühen, welche Gefahren harrten möglicherweise dieser jungen mutigen Leute mitten in einem Land, das ihnen unbekannt war und das sie auf eine Strecke von 100 Meilen zu durchreisen vorhatten! Indessen gelang es dem Buschmann, ihre Freunde zu beruhigen, indem er ihnen zunächst für die Geschicklichkeit und den Mut des Forelopers garantierte. Ferner war es ja möglich, daß die Makololos, da sie um den Scorzef zu sehr in Anspruch genommen waren, im Norden des Ngami nicht daran dachten, ihre Feindseligkeiten zu treiben. Wenn er alles zusammennahm, fand Mokum – und sein Instinkt täuschte sich nicht –, daß der Oberst samt seinen Gefährten in dem kleinen Fort noch mehr gefährdet seien, als die beiden jungen Astronomen auf ihrer Reise in den Norden.

Während der nächsten Nacht hielten die Bootsleute und der Buschmann abwechselnd Wache. In der Tat, die große Dunkelheit mußte den feindlichen Absichten der Eingeborenen günstig sein. Jedoch diese »Reptilien«, so nannte sie der Jäger, wagten sich noch nicht an die Abhänge des Scorzef. Möglicherweise aber erwarteten sie auch Verstärkung, um dann den Berg von allen Seiten herauf in Angriff zu nehmen und durch ihre Zahl die Widerstandsmittel der Belagerten in ihrer Wirkung aufzuheben. Der Jäger hatte sich denn wirklich in seinen Vermutungen nicht getäuscht. Es war kaum Tag geworden, als Oberst Everest einen beträchtlichen Zuwachs in der Zahl der Makololos konstatieren konnte. Ihr Lager, das geschickt verteilt war, schloß den ganzen Fuß des Scorzef ein und machte jede Flucht über die Ebene unmöglich. Glücklicherweise waren aber, und sie konnten es auch nicht gut sein, die Fluten des Ngami nicht bewacht, so daß, wenn wirklich der Fall eintreten sollte, – man konnte ja nicht vorhersehen, welche Umstände eintreten möchten –, immer noch ein Rückzug über den See möglich war.


Aber von Fliehen war gar nicht die Rede. Die Europäer hielten einen der Wissenschaft dienenden Posten besetzt, einen Ehrenposten, den sie nicht aufzugeben dachten. Und in dieser Hinsicht stimmten sie auch vollständig in ihren Ansichten überein. Es existierte keine Spur mehr von dem gewöhnlichen Zwist, der Oberst Everest und Mathieu Strux zuvor geschieden hatte. Ebensowenig war irgend von dem Krieg die Rede, der eben zwischen England und Rußland ausgebrochen war. Es verlautete gar keine Anspielung darauf. Beide Gelehrten verfolgten dasselbe Ziel; beide wollten sie das für beide Nationen gleich nützliche Resultat gewinnen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten vor allem auch zu Ende führen.

So lange, bis das Feuerzeichen auf dem Gipfel des Volquiria erschien, beschäftigten sich die beiden Astronomen damit, die Ausmessung des vorigen Dreiecks zu vollenden. Es wurde aber diese Operation, die darin bestand, daß man mit dem doppelten Spiegel auf die beiden letzten Stationspunkte der englischen Marschroute visierte, ohne alle Schwierigkeiten erledigt, und ihr Resultat wurde von Nikolaus Palander verzeichnet. Nachdem diese Ausmessung vollendet war, kam man überein, in den folgenden Nächten zahlreiche Beobachtungen von Sternen vorzunehmen, um so mit der äußersten Genauigkeit die geographische Breite des Scorzef zu finden.

Eine wichtige Frage mußte ebenfalls vor jeder andern entschieden werden, und Mokum wurde, wie sich von selbst verstand, herbeigerufen, um seine Meinung unter diesem Umstand abzugeben. Zu welcher Zeit mindestens konnten Michael Zorn und William Emery die Gebirgskette, die im Norden des Ngami zog und deren höchste Gipfel dem letzten Dreieck in dem Netz als Stützpunkt dienen sollte, erreichen?

Der Buschmann konnte die dazu nötige Zeit nicht geringer als auf 5 Tage schätzen. Und in der Tat betrug ja die Entfernung vom Scorzef mehr als 100 Meilen. Wenn man berücksichtigte, daß die kleine Truppe des Forelopers zu Fuß war und die Gegend häufig von Bächen durchschnitten war, so waren 5 Tage eine sehr kurze Zeit.

Man nahm also ein Maximum von 6 Tagen an und richtete danach die Einteilung der Nahrung.

Der Lebensmittelvorrat war aber sehr beschränkt, denn man hatte ja auch der kleinen Truppe des Forelopers eine Portion mitgeben müssen, wenigstens für so lange, bis man erwarten konnte, daß sie sich durch die Jagd verproviantieren werde. Was nun die in die Verschanzung gebrachten und um diese Portion verkürzten Lebensmittel anlangte, so konnte davon höchstens noch während zweier Tage ein jeder seine gewohnte Portion haben. Es waren nämlich nur noch wenige Pfund Zwieback, konserviertes Fleisch und Pemmikan. Im Einverständnis mit seinen Kollegen bestimmte Oberst Everest also, daß die Ration für jeden Tag auf ein Drittel herabgesetzt werden sollte. So konnte man bis zum 6. Tag warten, bis das Licht, nach dem dann unausgesetzt ausgeschaut wurde, am Horizont erscheinen würde. Sämtliche 4 Europäer, ihre 8 Matrosen und der Buschmann, 13 Menschen zusammen, hatten gewiß unter dieser ungenügenden Ernährung zu leiden, indessen sie waren schon über dergleichen Leiden erhaben.

»Übrigens ist es ja nicht verboten, auf die Jagd zu gehen!« sagte Sir John Murray zum Buschmann.

Der aber schüttelte seinen Kopf mit zweifelnder Miene, es schien ihm schwer möglich, daß auf diesem isolierten Berg das Wildbret anders als höchst sparsam vorkommen sollte.

Das war indessen kein Grund für ihn, sein Gewehr ruhen zu lassen, und nachdem diese Bestimmungen getroffen worden, verließ er, während seine Kollegen damit beschäftigt waren, die in dem doppelten Register Nikolaus Palanders verzeichneten Maße zu reduzieren, in Begleitung von Mokum die Mauern des kleinen Forts, um einmal eine gründliche Rekognoszierung mit dem Berg Scorzef vorzunehmen.

Die Makololos lagerten ruhig am Fuß des Berges und schienen es mit einem Angriff gar nicht eilig zu haben. Möglicherweise lag es auch in ihrer Absicht, die Belagerten auszuhungern.

Die Untersuchung des Bergs Scorzef war rasch beendet. Der Platz, auf dem sich das kleine Fort erhob, maß nicht einmal 250 Fuß in seiner größten Ausdehnung. Der Boden, untermischt mit Kieselsteinen, stand ziemlich dicht mit Gras bewachsen und war hier und da mit niedrigem Gebüsch bedeckt, das zum Teil aus Schwertlilien bestand. Rotes Heidekraut, Proteen mit Silberblättern, Erizeen in langen Schnüren bildeten die Flora des Berges. Auch an seinem Abhang standen dornige Sträucher, ungefähr in der Höhe von 10 Fuß, mit weißen traubenständigen Blüten, die dem Jasmin ähnlich rochen. Ihre Namen wußte der Buschmann nicht, aber sie müssen der Spezies Ardunia bispinosa angehören, welche die Hottentotten Num’num nennen. Was die Fauna anbelangte, so hatte selbst jetzt nach einer einstündigen Rekognoszierung Sir John noch keine Spur davon wahrgenommen, als eben eine Anzahl kleiner Vögel, mit dunkelblauen Schwungfedern und roten Schnäbeln aus dem Gebüsch aufflogen; aber man hatte kaum mit dem Gewehr auf sie angelegt, als auch schon die ganze geflügelte Gesellschaft auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Man durfte also durchaus nicht auf eine Jagdbeute zählen, mit der man die Garnison hätte verproviantieren können.

»Immerhin wird man aber in dem Wasser des Sees Fische fangen können«, meinte Sir John, indem er nach dem nördlichen Abhang des Scorzef blickte und die großartige Ausdehnung des Ngami betrachtete.

»Fische fangen ohne Netze und Angel«, entgegnete der Buschmann, »das will soviel heißen wie Vögel im Flug fangen. Aber wir wollen deshalb den Mut nicht sinken lassen. Ew. Gnaden weiß, daß der Zufall uns bisher so oft schon günstig war, und so denke ich, wird er es auch weiter sein.«
»Ja, der Zufall!« wiederholte Sir John Murray, wenn Gott ihn dazu bestimmt, so wird aus ihm der treueste Fürsorger des Menschen, den ich kenne. Kein Agent ist zuverlässiger und erfinderischer. Er hat uns in die Nähe unserer Freunde, der Russen gebracht, hat sie gerade dahin geführt, wo wir selbst hinkommen wollten, und er wird uns, die einen wie die andern, ganz gemütlich an das Ziel führen, das wir erreichen wollen!«

»Und wird uns auch mit Nahrung versorgen?« fragte der Buschmann.

»Ganz gewiß wird er das, lieber Mokum«, antwortete Sir John, »und damit tut er bloß seine Schuldigkeit!«

Die Worte Sr. Gnaden waren gewiß beruhigend. Doch sagte sich der Buschmann, der Zufall sei eine Art Diener, der von seinem Herrn ein wenig geschmeichelt haben wolle, und er versprach sich für den Fall der Not viel von ihm.

Der 25. Februar brachte keinerlei Veränderung in die Situation der Belagerer und Belagerten. Die Makololos hielten ihre Lagerlinie fest. Ihre Kuh- und Schafherden weideten auf den dem Scorzef nächstliegenden Wiesen, die dank der Wässerungen des Bodens ein gutes Weideland abgaben.

Die geplünderten Wagen waren mit ins Lager genommen worden. Darin versahen einige Frauen und Kinder, die sich zu dem Nomadenstamm gesellt hatten, die gewöhnlichsten Arbeiten.

Von Zeit zu Zeit zeigte sich einer der Häuptlinge, der an dem Reichtum seines Pelzwerks zu erkennen war, am Abhang des Berges und sah nach, ob er nicht gangbare Wege finden könne, die am sichersten auf den Gipfel führen möchten. Eine Kugel aus dem gezogenen Gewehr ließ ihn jedesmal wieder in die Ebene zurückgehen. Auf den Schuß aber antworteten die Makololos dann mit ihrem Kriegsgeschrei, sie sandten auch wohl einige ungefährliche Pfeile ab, schwangen schließlich ihre Spieße, und alles war wieder ruhig wie zuvor.

Am 26. Februar indessen versuchten die Eingeborenen doch einen etwas ernsteren Angriff und erstiegen zu ungefähr 50 den Berg von drei Seiten zugleich. Die ganze Besatzung begab sich infolgedessen aus dem Fort heraus und stellte sich am Fuß der Umwallung auf. Sehr bald richteten dann die so schnell geladenen und abgeschossenen Gewehre der Europäer einige Verheerung in den Reihen der Makololos an. Fünf oder sechs der Gesellen wurden getötet und dann gab die übrige Bande die Sache auf. Immerhin jedoch, und trotz ihres schnellen Schießens konnten die Eingeschlossenen durch die Zahl der Feinde übermannt werden. Wenn mehrere Hundert dieser Makololos zu gleicher Zeit stürmend den Berg hinaufdrangen, dann war es schwierig, ihnen auf allen Seiten Gegenwehr zu bieten.

Sir John Murray kam deshalb auf den Gedanken, die Vorderseite des kleinen Forts durch Aufstellen einer Mitrailleuse, welche die Hauptwaffe der Dampfschaluppe bildete, zu schützen. Sie war ein ganz ausgezeichnetes Verteidigungsmittel! Die Hauptschwierigkeit bestand darin, dieses schwere Geschütz über die steil abfallenden Felswände, die sehr schwer zu ersteigen waren, heraufzuschaffen. Doch die Mannschaft der ›Königin und Zar‹ zeigte sich so geschickt, so behend, ja man kann sagen, so waghalsig, daß die fragliche Mitrailleuse noch im Laufe des 26. in eine Schießscharte der Umfassungsmauern gestellt werden konnte. Und da konnten die 25 Läufe, deren Schüsse fächerartig auseinandergingen, mit ihrem Feuer die ganze Front des Forts decken. Die Eingeborenen sollten schon bald mit dieser Mordwaffe Bekanntschaft machen, welche die zivilisierten Nationen erst später in ihr Kriegsmaterial aufnahmen.

Solange die gezwungene Untätigkeit auf dem Gipfel des Scorzef dauerte, hatten die Astronomen jede Nacht Sternhöhen gemessen; und zwar gestatteten ihnen der überaus klare Himmel und die sehr trockene Luft, ausgezeichnete Beobachtungen zu machen. Sie erhielten für die geographische Breite des Scorzef 19° 37' 18" 265, also einen Wert, der bis auf das Tausendstel einer Sekunde, das heißt ungefähr auf 1 Meter richtig war. Eine größere Genauigkeit konnte niemand erzielen. Übrigens bestärkte sie dies Resultat in dem Glauben, daß sie sich mindestens einen halben Grad weit vom nördlichen Punkt ihres Meridians befanden und daß folglich das Dreieck, dessen Spitze sie auf dem Pik Volquiria zu gewinnen suchten, das trigonometrische Netz schließen würde.

In der Nacht vom 26. auf den 27. Februar erneuerten sich die Angriffe der Makololo nicht. Der 27. Februar wurde der kleinen Garnison unendlich lang.

Wenn die Umstände den Foreloper, der jetzt seit 5 Tagen fort war, begünstigt hatten, so war es möglich, daß er und seine Begleiter schon heute auf dem Volquiria anlangten. Und deshalb mußte in der folgenden Nacht der Horizont mit der äußersten Sorgfalt untersucht werden, denn das Lichtzeichen konnte nunmehr erscheinen. Oberst Everest und Mathieu Strux hatten bereits das Instrument derart auf die Spitze des Berges gerichtet, daß sie von dem Gesichtsfeld umschlossen wurde. Diese Vorsicht vereinfachte die Untersuchungen wesentlich; denn da man kein Merkzeichen besaß, konnten diese während einer dunklen Nacht sehr schwierig werden. Wenn also jetzt das Licht auf dem Gipfel des Volquiria erschien, mußte man es auch bald sehen und dann den Winkel bestimmen können.


An diesem Tag durchstreifte Sir John abermals die Gebüsche und das hohe Gras vergebens. Es war ihm nicht möglich, irgendein eßbares Tier oder etwas Derartiges darin aufzustöbern. Selbst die Vögel, denen ihre Zufluchtsstätte gestört war, hatten sich im Dickicht des Flusses einen sicheren Schutz gesucht. Der ehrenwerte Jäger ärgerte sich nicht wenig, denn er wollte ja nicht zum Vergnügen schießen. Gesegnet mit einem kräftigen Appetit, dem eine Drittelration nicht genügen konnte, mußte er offenbar Hunger leiden. Seine Kollegen ertrugen die Enthaltsamkeit leichter, sei es, daß ihr Magen weniger herrschsüchtig war, sei es, daß sie nach dem Beispiel Nikolaus Palanders das traditionelle Roastbeef durch Berechnung einer oder zweier Gleichungen zweiten Grades zu ersetzen imstande waren.

Die Matrosen und der Buschmann litten ebenso unter dem Hunger wie der ehrenwerte Sir John. Aber selbst die letzte kleine Menge der Lebensmittel nahte jetzt ihrem Ende.

Noch 1 Tag und alles war aufgezehrt, und falls die Expedition des Forelopers in ihrem Marsch aufgehalten worden war, so stand der Besatzung des Forts unfehlbar der Hungertod bevor.

Während der ganzen Nacht vom 27. auf den 28. Februar wurden Beobachtungen angestellt. Die Dunkelheit, Reinheit und Stille der Luft kamen den Astronomen in ganz besonderer Weise zustatten. Aber der Horizont blieb in tiefen Schatten versenkt. Nicht ein Schein – rein gar nichts wollte sich in dem Objektiv des Fernrohrs zeigen.

Doch war das Minimum, auf das man, selbst wenn man eine Verzögerung der Expedition von Michael Zorn und William Emery annahm, rechnete, so gut wie erreicht. Ihre Kollegen konnten also nichts anderes tun als mit Geduld abwarten.

Am Tag des 28. Februar verzehrte die kleine Garnison des Scorzef ihr letztes Stück Fleisch und Zwieback. Aber die Hoffnung ließen diese mutigen Gelehrten trotzdem nicht sinken, und wenn sie auch Gras essen mußten, so waren sie entschlossen, nicht eher den Platz zu räumen, als sie ihre Arbeit zu Ende geführt hatten.

Auch die Nacht vom 28. Februar auf den 1. März brachte noch kein anderes Resultat. Ein- oder zweimal glaubten allerdings die Beobachter einen Lichtschein wahrzunehmen. Doch wie man sich dann überzeugte, war dieser Schein nichts als ein in der Nebelatmosphäre des Horizonts aufblitzender Stern.

Am 1. März aß man wirklich nichts. Aber wahrscheinlich hatte man sich bereits während dieser Tage an eine sehr ungenügende Nahrung gewöhnt, und Oberst Everest und seine Genossen ertrugen alles leichter, weil sie nicht glaubten, daß die Nahrung völlig ausgehen würde; doch es war so, und wenn die Vorsehung ihnen jetzt nicht zur Hilfe kam, so blieben ihnen für den folgenden Tag nur grausame Qualen.
Der folgende Tag kam, aber die Vorsehung enthob sie noch immer nicht ihrer Zweifel; kein Stück Wild irgendeiner Art kam Sir John Murray vor den Lauf, und doch brachte es die Garnison dahin, mit so wenigem auszuhalten.

Da machten sich denn Sir John und Mokum, so sehr sie vom Hunger gequält wurden, mit verstörtem Blick daran, den Gipfel des Scorzef wieder zu durchstreifen. Ein gräßlicher Hunger marterte ihre Eingeweide.

»Hätten wir doch die Mägen von Wiederkäuern«, dachte der arme Sir John, »was könnten wir uns an diesem Futter zugute tun! Und nicht ein Stück Wild, nicht ein Vogel!«

Bei diesen Worten wandte er seine Blicke nach dem großen See, der sich zu ihren Füßen ausbreitete. Die Matrosen der ›Königin und Zar‹ hatten allerdings versucht, einige Fische zu fangen, doch vergebens. Die Wasservögel aber, die über der Oberfläche dieser ruhigen Fluten schwebten, ließen niemanden an sich herankommen.

Sir John jedoch und sein Gefährte, die so ermüdet waren, daß sie kaum noch fortkonnten, lagerten sich auf das Gras, am Fuß eines 5 bis 6 Fuß hohen Erdhügels. Ein schwerer Schlaf oder vielmehr ein Zustand der Erstarrung befiel sie alsbald. Unwillkürlich schlossen sie ihre Augenlider und fielen dann nach und nach in einen Zustand der Betäubung.

Die Leere, die sie in sich fühlten, nahm ihnen jede Spur von Kraft. Die Betäubung aber ließ sie für den Augenblick die Schmerzen nicht fühlen, die sie so gepeinigt und so weit gebracht hatten.

Wie lange dieser Zustand andauerte, würden weder der Buschmann noch Sir John imstande gewesen sein zu sagen; aber nach Verlauf 1 Stunde wachte Sir John infolge fortwährenden, sehr unangenehmen Stechens auf. Er wandte sich um und versuchte wieder einzuschlafen; doch die Stiche dauerten fort, so daß er endlich ungeduldig die Augen öffnete.

Legionen von weißen Ameisen liefen über seine Kleider hin, und sein Gesicht und seine Hände waren ganz davon bedeckt. Sowie er diesen Überfall der Insekten bemerkte, sprang er auf, wie von einer Feder emporgeschnellt.

Diese rasche Bewegung weckte auch den Buschmann, der neben ihm gelegen hatte. Mokum war ebenfalls vollständig mit diesen weißen Ameisen bedeckt; aber zur größten Überraschung Sir Johns nahm er statt die Insekten fortzujagen eine Handvoll nach der andern, führte sie zu seinem Mund und verzehrte sie gierig.

»O pfui! Mokum!« rief Sir John, den diese Gefräßigkeit anekelte.

»Essen Sie, essen Sie! Machen Sie es wie ich«, antwortete der Buschmann, ohne dabei seinen Mundvoll zu verlieren. »Schmecken Sie nur, das ist der Reis der Buschmänner!«

Mokum bezeichnete wirklich die Insekten mit dem ihnen von den Eingeborenen gegebenen Namen. Die Buschmänner genießen gern diese Ameisen, von denen es zwei Arten gibt, eine weiße und eine schwarze. Die weiße ist nach ihnen vorzüglicher. Der einzige Übelstand bei diesem Insekt, wenn man es vom Standpunkt der Ernährungsfähigkeit betrachtet, besteht darin, daß man zu beträchtliche Mengen davon verzehren muß. Deshalb vermengen auch die Afrikaner diese Ameisen gewöhnlich mit dem Gummi der Mimose, um so eine substantiellere Nahrung zu erhalten. Aber die Mimose wuchs nicht auf der Höhe des Scorzef, und Mokum mußte sich deshalb begnügen, seinen Reis »im Naturzustand« zu verzehren.

Sir John, entschloß sich trotz seines Widerwillens, – da sein Hunger durch den Anblick des sich sättigenden Buschmanns nur zunahm, doch seinem Beispiel zu folgen. Die Ameisen kamen zu Milliarden aus ihrem großen Haufen, der übrigens nichts anderes war, als jener Erdhügel, an dem sich die beiden Schläfer hingelegt hatten. Sir John hob also mehrere Hände davon auf und brachte sie an seine Lippen. In der Tat, es ging an! Er fand sogar, daß sie einen scharfen, aber sehr angenehmen Geschmack hatten, und merkte nach und nach, daß sich seine Leibschmerzen legten.

Indessen erinnerte sich Mokum seiner Unglücksgenossen, lief zum Fort und brachte die ganze Garnison von dort mit. Während die Matrosen keine Schwierigkeit machten und sich sofort auf diese einzige Nahrung stürzten, zauderte der Oberst, Mathieu Strux und Palander eine kleine Weile. Doch wirkte das gute Beispiel Sir John Murrays entscheidend für sie, und halbtot schon vor Schwäche beschwichtigten die armen Gelehrten wenigstens ihren Hunger, indem sie große Mengen dieser weißen Ameisen zu sich nahmen.

Doch ein unerwarteter Zufall sollte Oberst Everest und seinen Gefährten eine solidere Nahrung zuwenden. Mokum kam nämlich auf den Gedanken, um einen gewissen Vorrat von diesen Insekten mitzunehmen, eine Seite des enormen Ameisenhaufens zu demolieren. Es war, wie gesagt, ein konischer Hügel nebst noch einigen kleineren kugelförmigen Spitzen, die rings um seine Basis standen. Der Jäger, der seine Axt bei sich führte, hatte bereits mehrere Schläge auf den Bau geführt, als er durch ein eigentümliches Geräusch aufmerksam wurde. Man konnte es für ein Brummen halten, das aus dem Innern des Ameisenhaufens kam. Der Buschmann unterbrach seine Zerstörungsarbeit und horchte auf. Seine Begleiter aber sahen ihn an, ohne nur ein Wort zu sprechen. Als wieder einige Schläge mit der Axt gegeben waren, ließ sich ein deutlicheres Brummen vernehmen.

Der Buschmann rieb sich vergnügt die Hände, ohne jedoch ein Wort zu sprechen. Nur seine Augen erglänzten begierig.

Von neuem bearbeitete er jetzt den kleinen Hügel, so daß er ungefähr ein fußbreites Loch anbrachte. Die Ameisen flohen nach allen Seiten hin, aber der Jäger kümmerte sich nicht darum, sondern überließ den Matrosen die Sorge, sie einzusacken.

Jetzt erschien an der Mündung des Lochs ein seltsames Tier. Es war ein Vierfüßler, mit einem langen Rüssel, kleinem Mund, ausdehnbarer Zunge, aufrechtstehenden Ohren, kurzen Beinen und einem langen und spitz zulaufenden Schwanz; sein Leib war mit rötlich gefärbtem Seidenhaar bedeckt und an seinen Füßen saßen ungeheure Krallen, die ihm unter Umständen als Waffen dienten.

Ein einziger tüchtiger Schlag, den Mokum auf die Schnauze des sonderbaren Tieres führte, genügte, um es zu töten.

»Hier liegt unser Braten, meine Herren«, sagte der Buschmann. »Wir haben zwar warten müssen, aber das macht nichts. Jetzt schnell ein Feuer, dann einen Ladestock, den wir als Bratspieß benutzen, und wir haben in Kürze eine Mahlzeit, wie wir noch niemals eine genossen haben.«

Der Buschmann machte nicht gerade viele Worte: er hatte aber unterdessen das Tier rasch abgezogen. Es war ein Ameisenfresser, den die Holländer auch unter dem Namen Erdschwein kennen. Das Tier kommt sehr häufig im südlichen Afrika vor und ist der größte Feind der Ameisenhaufen. Der Ameisenbär bringt Legionen dieser Insekten um, und wenn er nicht in ihre engen Gänge eindringen kann, so fängt er sie, indem er seine außerordentlich dehnbare und klebrige Zunge hineingleiten läßt, die dann, wenn er sie wieder herauszieht, von den Ameisen wie mit Butter bestrichen ist.

Der Braten war bald fertig. Er hätte vielleicht noch einige Male am Bratspieß gewendet werden können, aber die Ausgehungerten waren zu ungeduldig! Es wurde ziemlich die Hälfte des Tieres verzehrt, und sein Fleisch, das fest und gesund war, für ausgezeichnet erklärt, obwohl man fand, daß es einen kleinen Beigeschmack von Ameisensäure hatte.

Was war das für ein Mahl und wie gab es den wackeren Europäern mit neuer Kraft auch den Mut und die Hoffnung zurück!

Und es war in der Tat nötig, daß ihnen die Hoffnung wieder im Herzen geweckt wurde, denn auch in der folgenden Nacht zeigte sich noch kein Lichtschein auf dem düsteren Gipfel des Volquiria.