Zur Reform der deutschen Strafanstalten

Autor: Biedermann, Karl (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie, Erscheinungsjahr: 1942
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Strafanstalten, Reformen, Gefängniswesen, Maßregeln, Strafvollzug, Strafwesen, Strafverfahren, Kriminalgesetzgebung
Aus: Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben. Erster Band. 1842. Januar bis Juni. Herausgegeben von Karl Biedermann (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie.

Für die Verbesserung des Gefängniswesens, für die Einführung eines vernunft- und zweckgemäßeren Strafverfahrens, für die moralische und bürgerliche Wiederaufrichtung der aus den Strafhäusern Entlassenen sind in der neuesten Zeit auch in Deutschland mehrfache Veranstaltungen getroffen worden, und wenn auch, in Bezug auf die zu wählenden Mittel, vor der Hand weder Gleichförmigkeit in den verschiedenen Maßregeln der Regierungen, noch selbst Einstimmigkeit der Ansichten unter denen herrscht, welche sich mit der Untersuchung dieser Verhältnisse beschäftigt haben, so scheint doch die Überzeugung, dass eine Reform des gesammten Gefängnis- und Zuchthauswesens stattfinden müsse, immer allgemeiner zu werden, immer mehr sowohl über den Schlendrian, der einen Teil der Beamteten allen dergleichen Verbesserungen abgeneigt macht, als auch über die Gleichgültigkeit derer, welche dabei nur die augenblickliche Kostenvermehrung im Auge haben, die Oberhand zu gewinnen.

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Die allgemeinsten und großartigsten Maßregeln dieser Art werden in Preußen vorbereitet, wo schon am Anfange dieses Jahres eine Kommission, unter dem Vorsitze des durch seine Arbeiten im Fache des Strafwesens bekannten Dr. Julius, zur Untersuchung des gegenwärtigen Zustandes der Gefängnisse und zur Ausarbeitung geeigneter Vorschläge zu Reformen desselben, niedergesetzt ward. Diese Kommission beendete ihre Arbeiten im Juli und legte die Resultate derselben, nebst Vorschlägen zur Einführung des pensylvanischen, so wie anderen zur Einführung eines gemischten Systems, der Regierung vor. Diese Vorschläge wurden jedoch für nicht geeignet befunden und eine zweite Kommission, aus dem Dr. Julius, dem Strafanstaltinspektor v. Grabowski und dem Oberbaurate Busse bestehend, zur Besichtigung der Strafanstalten nach England geschickt. Auf ihrer Rückkehr von da über Belgien gesellte sich ihnen, gleichfalls im Auftrage der Regierung, der Geheime Oberregierungsrat Jacobi zu, um mit ihnen gemeinschaftlich die belgischen Strafanstalten in Augenschein zu nehmen, welche nach dem pensylvanischen Systeme eingerichtet sind. Vor Kurzem ist die Kommission nach Berlin zurückgekehrt, hat sich jedoch zu gemeinsamen Vorschlägen nicht vereinigen können, indem Dr. Julius streng an dem pensylvanischen Systeme der Absperrung und des absoluten Schweigens fest, hält, während die übrigen Mitglieder der Kommission und mit ihnen die Mehrzahl der preußischen Kriminalisten für das entgegengesetzte System, gemeinsames Arbeiten der Sträflinge bei Tage und Isolierung derselben nur während der Nacht, sich erklären. Zum Organ dieser letztern Ansicht hat sich die kriminalistische Zeitung gemacht, in welcher ein, seitdem auch besonders abgedruckter Aufsatz von Temme über diesen Gegenstand erschienen ist. Besonders hebt man die Gefahr der Geisteszerrüttung durch die einsame Absperrung hervor. In dieser Hinsicht wird angeführt, dass (nach einer Angabe in den „Times„) man in London mit einer gänzlichen Abänderung des Pönitentiarsystems in dem großen Londoner Zuchthause umgehe, weil alle Versuche, die man dann mit der Einsamhaft und dem Schweigen angestellt, gegen dieses System ausgefallen sein und in mehreren Fällen Wahnsinn der Sträflinge zur Folge gehabt haben sollen. Desgleichen hat sich der zu Florenz versammelte Kongress der Naturforscher und Ärzte auf die in Betreff des Schweigsystems ihm von mehreren Gelehrten (unter denen der Geh. Rat Mittermaier) vorgelegten Fragen fast einstimmig gegen die absolute Absperrung der Gefangenen ausgesprochen und ebenfalls die Gefahren derselben für das körperliche und geistige Befinden der Sträflinge hervorgehoben.

Dagegen erklärte sich, im Julihefte der „preußischen Provinzialblätter“, der Geistliche der Strafanstalt zu Insterburg, Jablonowsti, für das pensylvanische System, als das zur Besserung der Gefangenen geeignetste.

Die neuen Strafanstalten, welche die preußische Regierung in Insterburg, Sonnenburg, Kölln, Koronowo, Sagan, Halle u. s. w. angelegt hat, sind in ihrem Bau und ihrer inneren Einrichtung auf eine wenigstens teilweise Anwendung des verbesserten Strafsystems berechnet. Besonders wird die Arbeit in allen als ein vorzügliches Mittel für Wiederbelebung des bessern Geistes in dem Sträflinge an, gesehen und benutzt. Man nimmt dabei teils auf die frühere Lebensweise der Gefangenen, teils auf den Nutzen Rücksicht, welchen für dieselben, bei ihrem Wiedereintritt in das bürgerliche Leben, die eine oder die andere Fertigkeit haben kann. Manche dieser Arbeiten, z. B. die Leineweberei, werden in einsamen Zellen, andere gemeinschaftlich in Arbeitssälen betrieben. Der Überverdienst wird den Sträflingen aufgehoben und dient ihnen, beim Austritt aus der Anstalt, zur Begründung einer neuen bürgerlichen Existenz.

Auch der Senat der freien Stadt Frankfurt hat die Reform des Strafverfahrens zu einem Gegenstand seiner ernstesten Betrachtungen gemacht. Der Geh. Hofrat Dr. Stiebel erstattete demselben im Namen der zu diesem Zwecke niedergesetzten Kommission einen ausführlichen Bericht über diese Angelegenheit, in welchem er folgende Ansichten niederlegte. Er hält nur ein solches System für zweckmäßig, welches die Besserung nicht bloß durch Unterdrückung und Einschüchterung, sondern durch Entwicklung-, Hoffnung und Stärkung erreiche, ein System, welches alle Methoden und alle Mittel zu vereinigen vermöge, die den Zweck erfüllen können. „Es muss notwendig ein Hilfsverein bestehen, ohne welchen die Besserung nicht möglich ist. Die Kriminalgesetzgebung muss der Pönitentiargesetzgebung konform sein. Die Untersuchungsgefangenen müssen getrennt sein und die möglichste Freiheit haben. Das Repressivsystem oder die einsame Einsperrung ist trotz seiner Nachteile notwendig, wo die zu entwickelnde Besserung nicht anwendbar ist, bei Allen, wo die durch Richterurteil bestimmte Strafzeit zu kurz ist, eine Besserung zu bezwecken, also bei Allen, die nicht über ein halbes Jahr verurteilt sind, die allein durch die Härte der Abschreckung vor dem Rückfall verwahrt werden können“. (Wir bemerken hierzu, dass Dr. Julius gerade umgekehrt das System der Besserung durch Schweigen nur bei einer längeren, wenigstens ein Jahr andauernden Strafzeit anwendbar findet.) „Die einsame Einsperrung“, fährt Stiebel fort, „ist auf längere Zeit nur bei einzelnen Fällen, nicht allgemein, anzuwenden, bei einem Rückfall in Verbrechen, bei Vergehen gegen die gesetzliche Ordnung im Gefängnisse, und bei solchen, die überhaupt nicht gebändigt werden können. Trennung der Geschlechter und der Alter ist notwendig. Nachts soll in jeder Zelle nur Einer sein. Das Gefängnis ist ein Verband mit bekannten Gesetzen und Strafen.“

„Die dem eigentlichen Besserungssysteme unterworfenen Gefangenen sollen am Tage gemeinschaftlich arbeiten, gemeinschaftlichen moralisch-religiösen und industriellen Unterricht genießen, während der dogmatisch-konfessionelle in der Zelle gegeben wird. Der Gottesdienst soll öffentlich und allgemein sein. Es sollen verschiedene Klassenabteilungen für die Gefangenen sein. Der Gefangene kann, je nach seiner Aufführung, seiner Fügung unter die Gesetze, von einer niedern zu einer höhern steigen oder zur Strafe zurückversetzt werden. Es soll Belohnung und Strafe stattfinden; es soll dem Gefangenen ein Teil seines Erwerbs zur Disposition stehen und ein Teil dem Hilfsverein zur Aufbewahrung gegeben werden. Es soll durch die Gesetze im Voraus bestimmt werden, unter welchen Umständen Begnadigung und teilweiser Erlass der Strafe stattfinden kann“.

„Die Aufsicht soll ein lebendiges Beispiel für die Gefangenen sein und nicht durch mechanisch totes Werk, sondern durch Liebe und Ergebung in den schönen Beruf sich tätig zeigen, fest im Vorsatz, nie furchtsam und nie hinterlistig. Der Bau soll allerdings nach dem panoptischen Plane stattfinden, allein so, dass die Aufsicht mehr auf die Arbeitssäle gerichtet ist, als auf die Zellen; Hof, Garten, Anstalten zu schwerer Arbeit und zu gymnastischen Übungen sind nötig“. — Der Vorschlag der Kommission an den Senat geht dahin: 1) Die gesetzgebende Versammlung möge sich zuvörderst erklären, welche Art von Pönitentiarwesen sie für unsere Stadt am geeignetsten halte, ob das philadelphische, auburnische oder gemischte europäische? 2) Nachdem sie sich darüber ausgesprochen, möge der Senat eine gemischte Kommission zur völligen Erledigung der Sache ernennen. (Franks. Journ. 15. Juli 1841.)

Auch in Bruchsal in Baden wird eine Strafanstalt gebaut, welche sowohl für das pensylvanische als für das auburnische System eingerichtet werden kann.

Als ein besonders wichtiges Mittel für die Besserung der Verbrecher werden immer mehr die Vereine zur Unterstützung und Versorgung der entlassenen Sträflinge anerkannt. Neue Vereine dieser Art, neben den vielen schon bestehenden, sind errichtet worden in Hannover, in Mainz und in Berlin, wo zu den zwei allgemeinen Hilfsvereinen für entlassene Strafgefangene künftig auch einer speziell für weibliche und außerdem eine Rettungsanstalt für Mädchen, die durch einen Fehltritt ihren Ruf und ihre Stellung in der Gesellschaft eingebüßt haben, (nach dem Muster des Magdalenenstifts in London) treten werden. Dagegen hat sich der zu Mannheim aufgelöst, weil die Mitglieder wahrzunehmen glaubten, dass ihre Bestrebungen ohne Erfolg blieben.

Sehr zu wünschen wäre, dass die in Deutschland bestehenden Vereine dieser Art von ihrer Wirksamkeit, deren Mitteln und deren Erfolgen möglichst regelmäßig und ausführlich öffentliche Rechenschaft ablegten.

Die deutsche Monatsschrift wird zu diesem Zwecke gern nach Kräften beitragen und ersucht daher alle Vorsteher solcher Vereine um gefällige Mitteilung der betreffenden Unterlagen.
Auch die Literatur des Gefängnis- und Pönitentiarwesens ist in der neuesten Zeit durch mehrere sehr schätzbare Schriften bereichert worden. Wir nennen folgende, deren ausführlichere Besprechung wir einem spätern Aufsatze vorbehalten:

„Handbuch der Gefängnisse, oder geschichtliche, theoretische und praktische Darstellung des Buß- und Besserungssystems“, von Grellet-Wammy, Mitglied der Genfer Ausschüsse für die moralische Aufsicht in den Gefängnissen, für die schützende Leitung der Freigelassenen u. s. w. Aus dem Franz. übersetzt von C. Matthy, Solothurn, Reuter, 1838. 1 Thlr. 7 ½ Sgr.

G. Varrentrapp: „Über Pönitentiarsysteme, insbesondere über die vorgeschlagene Einführung des pensylvanischen Systems in Frankfurt a. M.“ Frankfurt a. M., Varrentrapp, 1841. 25 Sgr.

Oskar, Kronprinz von Schweden: „Über Strafen und Strafanstalten.“ Aus dem Schwed. übers, von A. v. Treskow. Mit Einl. und Anm. von U. N. H. Julius. Mit 3 lithogr. Taseln. Leipzig, Brockhaus, 1841. 1 Thlr.

Dasselbe Werk, nach der 2ten Aufl. aus d. Schwed. übers, vom Konrektor Dr. Udo Waldemar Dietrich. Nebst einem Anhange, enthaltend Bemerkungen über die Verhandlungen des Stockholmer Reichstags über das Gefängniswesen. Stockholm, Bonnier, 1841. 1 Thlr.

"Die Fortschritte des Ponitentiarsystems in Frankreich, dargestellt durch den motivierten Entwurf eines Gesetzes der französischen Staatsregierung v. 9. Mai 1840 und den darüber erstatteten Kommissionsbericht an die Deputiertenkammer, vom 20. Juni 1840.“ Mit Vorwort und Anmerkungen von Fr. Nöllner, großh. hess. Crim.-Richter zu Gießen. Darmstadt, Leske, 1841.

Temme: „Die preußischen Strafanstalten“; besonderer Abdruck aus der „Kriminalistischen Zeitung für die preußischen Staaten“. Berlin, Boike, 1841. 13 Sgr.

Dies ist der gegenwärtige Stand der Frage der Reform unserer Strafanstalten, einer Frage, welche keine bloß juristische, sondern eine soziale, philosophische, moralische und allgemein menschliche ist, und deren Lösung daher auch keineswegs von dem alleinigen Standpunkte des Beamteten, des Juristen oder des Staatsmannes aus, sondern nur durch die allgemeinste Teilnahme und das freieste Zusammenwirken aller Gebildeten, durch die gemeinsamen Beobachtungen, Untersuchungen und Mitteilungen des Arztes, des Psychologen, des Moralisten, des Kriminalisten und des praktischen Gefängnisbeamten, auf eine befriedigende und erfolgreiche Weise zu Stande gebracht werden kann.

Der Besprechung dieser Frage, welche eben jetzt aus der Enge und Verborgenheit bloßer administrativer und legislativer Entschließungen in die Freiheit und Allgemeinheit der öffentlichen Diskussion und Parteinahme herauszutreten beginnt, wünschten auch wir in unsern Blättern eine stehende Rubrik anweisen zu können. Eine fest abgeschlossene und ausschließliche Ansicht in Bezug auf die Wahl des einen oder des andern der vorgeschlagenen Reformsysteme zu vertreten, scheint uns noch nicht an der Zeit, da die Prüfung dieser verschiedenen Systeme noch zu unvollständig, die Erfahrung über die Vorteile oder Nachteile eines jeden derselben noch zu neu ist. In dieser Hinsicht also halten wir uns für verpflichtet und berechtigt, die Frage für eine offene zu erklären, d. h. für eine Frage, bei deren Erörterung wir verschiedenen und selbst entgegengesetzten Meinungen Raum und Gehör vergönnen werden. Nur in Bezug auf das Grundprinzip selbst, nämlich auf den höheren, moralischen Zweck der Strafe, glauben wir Entschiedenheit und Einstimmung der Ansichten fordern und voraussetzen zu dürfen*).

*) Wir gedenken diese Besprechung im nächsten Hefte einzuleiten durch Mitteilung einiger Bemerkungen und Vorschläge des, durch mehrfache Arbeiten im Fache der gerichtlichen Psychologie und der Strafgesetzgebung rühmlichst bekannten Prof. Grobmann in Dresden, welche dieser zu dem angegebenen Zwecke uns zu überlassen die Güte gehabt hat.