Siedelungsgenossenschaften

Die Siedelungsgenossenschaft nach Franz Oppenheimers (s. d.) Vorschlag ist, um Herzls glückliche Benennung zu gebrauchen, „das neue Dorf,“ das auf dem Gemeinbesitz aller Bewohner am Grund und Boden aufgebaut ist. Es hat jedoch nichts mit Kommunismus zu tun, sondern soll ein individualistisches Gemeinwesen im unverfälscht liberalen Sinne sein. Als Vorstufe zur Siedelungsgenossenschaft, die ein Gemeinwesen mit Gliederung in Bauern, Handwerker etc. darstellt, ist die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft gedacht.

Oppenheimer weist der Produktivgenossenschaft die Aufgabe zu, den Verteilungsmodus zwischen Kapital und Arbeit günstiger zu gestalten, d. h. die soziale Frage zu lösen. Das vermag allerdings nicht die industrielle Produktivgenossenschaft, die stets und überall gescheitert ist. Daß dagegen die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft das Mittel ist, die soziale Frage zu lösen, schließt er durch folgende Gedankengänge: Alle Ein kommen eines Volkes, das Freizügigkeit besitzt, werden in ihrer Höhe bestimmt durch das Einkommen der tiefst entlohnten Schicht; denn wenn z. B. durch ein Wunder der niedrigste ungelernte Arbeiter plötzlich 2000 Mark pro Jahr verdienen würde, so wäre kein gelernter Arbeiter, kein Unterbeamter für weniger, sondern nur für etwas mehr zu haben. Dagegen hätte es keinen Dauererfolg, wenn es gelingen würde, eine der höheren Schichten ausgiebig zu heben, z. B. den selbständigen Handwerkerstand: denn sofort würden Angehörige der tieferen Schichten, namentlich der gelernten Arbeiter, solange in den Handwerkerstand hineindrängen, bis die Konkurrenz alle wieder auf ungefähr das alte Einkommen heruntergebracht hätte. Daraus folgt, daß man mit der Hebung der niedrigsten Schicht beginnen muß. Die schlechtest gestellte soziale Schicht sind aber die ländlichen Arbeiter. Daher muß man diese aufbessern, um die Klassenlage der Arbeiter in der Stadt, der Handwerker und Beamten zu heben. Das kann nur durch die Produktivgenossenschaft ländlicher Arbeiter geschehen, durch die der Boden der extensiven Latifundienwirtschaft (Bewirtschaftung eines Großgrundbesitzes durch abhängige Bauern in Abwesenheit des Besitzers) entzogen und einer intensiven Bewirtschaftung erschlossen wird, die die Vorzüge des Großbetriebes und des Kleinbetriebes in sich vereinigt. Alle bisherigen Versuche landwirtschaftlicher Produktiv Genossenschaften, ungefähr 70, sind geglückt, während von ca. 1000 gewerblichen keine einzige als Genossenschaft am Leben geblieben ist. Das ist kein Zufall, sondern hat seinen Grund darin, daß die gewerbliche Produktivgenossenschaft eine „disharmonische“, die landwirtschaftliche dagegen eine „harmonische Genossenschaft“ ist, wie Oppenheimer gezeigt hat. Auf die ausführliche Beweisführung dafür kann hier nicht eingegangen werden, nur auf einen Punkt sei im Vorbeigehen hingewiesen: Die industrielle Produktivgenossenschaft braucht ungedeckten Personalkredit, den sie mit unverhältnismäßig hoher Risikoprämie bezahlen muß, die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft nur hypothekarisch gesicherten und daher billigen Realkredit.


Wenn erst einige Hundert in Produktivgenossenschaften umgewandelte Rittergüter den Erfolg gehabt haben, das Einkommen ihrer Genossen zu steigern, dann strömen die Arbeiter von weiteren Gütern den Genossenschaften zu, Angebot und Nachfrage auf dem ländlichen Arbeitsmarkte verschieben sich zugunsten der noch in abhängiger Stellung bleibenden Arbeiter, ihr Lohn muß steigen, d. h. die ganze Klasse wird gehoben. Steigende Löhne für die Arbeiter bedeuten aber verminderte Reinerträge für neue Hunderte von Gutsbesitzern, die infolgedessen ihre Hypotheken-Zinsen nicht bezahlen können, so daß die Güter zur Subhastation (Zwangsversteigerung) kommen. Die Hypothekengläubiger sind gezwungen, die Güter an Genossenschaften aufzulassen. Das gibt auf weiteren Gütern Arbeitermangel und steigende Löhne, der geschilderte Prozess wiederholt sich usw., bis die Aufteilung im wesentlichen vollendet ist.

Ist somit die ländliche Produktivgenossenschaft das Mittel, die ganze Landarbeiterklasse zu heben, so wird auch deren Kaufkraft erhöht, die als Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen auf dem Markt der Städte erscheint. Die erhöhte Nachfrage nach Industrieprodukten hat einen erhöhten Bedarf an Industriearbeitern zur Folge, während zugleich der übermäßige Zuzug solcher vom Lande aufhört. Somit erzielt der Industriearbeiter eine bessere Bezahlung, weil die Lage der Landarbeiter gehoben ist. Diese Beweisführung läßt sich mutatis mutandis (mit den nötigen Abänderungen) leicht auf die anderen höheren Klassen ausdehnen, da bei erhöhtem Wohlstand des Unterbaues der Bevölkerung ganz allgemein der Bedarf an Qualitätswaren und Qualitätsleistungen (Handwerker, Beamte, Künstler, Akademiker etc.) steigen muß.

Literatur: Siehe unter „Oppenheimer“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch