Pinsker, Leo

wurde Ende Dezember 1821 geboren. Das nähere Datum und der Geburtsort sind nicht genau bekannt. Von Lilienblum wird das russisch-polnische Städtchen Tomaschow genannt. Andere nehmen Tismenice in Galizien an. Leo Pinskers Vater, Simchah Pinsker, stammte aus Tarnopol. Simchah Pinsker siedelte gegen Ende der zwanziger jähre nach Odessa als Sekretär des Rabbiners und Lehrer an der Sternschen Privatschule über. Hier erhielt Pinsker seinen ersten Unterricht. Nach Absolvierung dieser Schule trat er in ein Gymnasium ein und beendete dann das Odessaer Richelieu-Lyceum als „Kandidat der juristischen Wissenschaften“. Da ihm die Advokatur verschlossen war, nahm er eine Stelle als Lehrer des Russischen an der jüdischen Schule in Kischinew an. Kaum ein Jahr später ließ er sich in die medizinische Fakultät Moskaus inskribieren. Noch als Student hatte er Gelegenheit, sich während der 1848 wütenden Choleraepidemie auszuzeichnen. — Nach Abschluß seiner Studien war Pinsker im Hospital der Stadt Odessa und während des Krimkrieges als Militärarzt tätig. Pinsker galt als einer der angesehensten Ärzte Odessas. — Anfangs der sechziger Jahre beginnt Pinskers literarische Tätigkeit. Er war Mitarbeiter an der damals erscheinenden russisch-jüdischen Zeitschrift Rasswjet (Die Morgenröte), später, nach dem Eingehen dieses Blattes, an dem russisch-jüdischen ,,Zion“ (das er in Gemeinschaft mit Dr. Soloweiczik begründete). Eine Reihe seiner Aufsätze wurde in der Zeitschrift Djen (Der Tag) gedruckt, deren Herausgabe er gleichfalls angeregt hatte. Pinsker war kein fruchtbarer Schriftsteller. Sein anstrengender Beruf gab ihm nur wenig Muße. Und seine Arbeitskraft war durch ein chronisches Lungenleiden geschwächt. Aber so gering auch die Anzahl seiner literarischen Beiträge war, sie zeichneten sich durch straffe Fassung, Pointiertheit, Großzügigkeit der Gedanken und Frische aus. Die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind für die russische Judenheit eine Analogon zu dem Entwicklungsgange, den die deutschländischen Juden um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts nahmen. Die gleichen Ideen und Hoffnungen, die einst die westlichen Juden füllten, begannen jetzt in den Osten einzudringen. Die Aufklärer gaben den Ton an. Bildung, Zeitgeist, Aufklärung Menschentum waren die Schlagwort. „Sei Jude in deiner Kammer, und draußen sei ein Mensch.“ In diesem Satz Jehuda Leib Gordons findet die Stimmung jener Jahre prägnanten Ausdruck. Pinsker gehörte zu dem Kreise dieser Volksbildner. Er hatte noch die Hoffnung, dass der Assimilationsprozess die Judenfrage lösen kann. So wurde denn Pinsker einer der rührigsten Vorkämpfer des „Vereins zur Verbreitung der Aufklärung unter den russischen Juden“. Aber auch an Pinsker vollzog sich das Wunder, das noch jeden traf, der mit ernstem Willen, Selbstkritik und Ehrlichkeit als Jude an das Problem des jüdischen Volkes herantrat: er kam um aufzulösen und musste aufrichten! Die Odessaer Judenexzesse vom Jahre 1871 verwirrten seine früheren Anschauungen und zertrümmerten alle Hoffnungen. Immer deutlicher erkannte, dass alles Heil nur in der Einheit des jüdischen Volkes lag. Als aber die furchtbaren Verfolgungen im Beginn der achtziger Jahre die ganze Tragik der jüdischen Massen offenbarten, verdichteten sich Pinskers Gedanken zu einem scharfumrissenen Plane. Die qualvolle Hilflosigkeit bei allem ernsten Bestreben, den vertriebenen Juden zu helfen, die er damals in Berlin vorfand, wo er zu seiner ärztlichen Fortbildung weilte, ließ ihn hoffen, daß sein Mahnwort der westeuropäischen Judenheit große Aufgaben und ein hohes Ziel geben müßten. Er veröffentlichte 1882 seine Broschüre: Autoemanzipation. Mahnruf an seine Stammesgenossen. Von einem russischen Juden. (2. Auflage. Brünn 1902 besorgt von Schnirer.) Seine Hoffnung hat sich (trotz der erregten Berliner antisemitischen Bewegung) nicht er füllt. Die Broschüre verschwand in der Flugschriftenflut jener Tage. Aber seine Gedankensaat ging auf: noch im Winter 1882 gründeten Nathan Birnbaum, Kokesch, M. T. Schnirer die erste jüdisch-nationale Studentenverbindung Kadimah, und bald darauf erschien die erste national-jüdische Zeitung in deutscher Sprache: Selbstemanzipation.

Der Kernpunkt des Judenproblems besteht nach Pinsker in folgendem: „Die Juden bilden im Schoße der Völker . . . tatsächlich ein heterogenes Element, welches von keiner Nation assimiliert zu werden vermag. . . .“


Die Aufgabe besteht darin, ein Mittel zu finden, durch welches jenes exklusive Element dem Völkerverbande derart angepasst werde, daß der Judenfrage der Boden für immer entzogen sei.

Diese Thesen werden in einer durch Eleganz der Form, durch Schärfe der Gedanken gleich vollendeten Weise durchgeführt. Das Judentum ist krank, die Völker leiden an ererbter unheilbarer Judophobie: Pinsker analysiert die Symptome mit der Sicherheit des geschulten Arztes und gibt auch das Heilmittel an. Der Jude ist ,,für die Lebenden ein Toter, für die Eingeborenen ein Fremder, für die Einheimischen ein Landstreicher, für die Besitzenden ein Bettler, für die Armen ein Ausbeuter und Millionär, für die Patrioten ein Vaterlandsloser, für alle Klassen ein verhasster Konkurrent“. Und wie ist unser eigenes Bild: ,,Unser Vaterland — die Fremde, unsere Einheit — die Zerstreuung; unsere Solidarität — die allgemeine Anfeindung; unsere Waffe — die Demut; unsere Wehrkraft — die Flucht; unsere Originalität — die Anpassung; unsere Zukunft — der nächste Tag.“ Es gibt nur eine Heilung: eine Heimat. Die Juden müssen weder zum Selbstbewusstsein, zum Bewußtsein einer geschlossenen Nationalität kommen, und von hier durch Selbsthilfe zu eigenem Lande. Pinsker selbst läßt die Frage offen, welches Land zu wählen sei: Palästina oder ein amerikanisches Territorium.

Das wichtigste ist ihm aller das eigene Land, in dem der Überschuss der Juden, der sich und den andern eine Last ist, eine sichere Zufluchtsstätte finden kann. Für die Ausführung dieses Planes schlägt Pinsker vor, daß die bereits bestehenden Allianzen einen National-Kongress einberufen oder doch aus eigener Mitte ein „Direktorium bilden, das jene uns fehlende Einheit zu vertreten hätte“. Die erste Aufgabe wäre, durch Sachverständige ein Territorium ausfindig zu machen, das für unsere Zwecke passend, möglichst einheitlich und zusammenhängend ist. „Dieses Terrain muß als Nationalgut unveräußerlich sein.“ Diesen Gedanken führt Pinsker aber durch aus inkonsequent durch. Er will das Land durch eine Aktiengesellschaft ankaufen und nach Parzellierung verkaufen lassen. Der Erlös soll zum Teil Gewinn der Finanzgesellschaft sein, zum Teil zu einem Unterstützungsfonds für hilflose Emigranten verwandt werden. Zur Vermehrung dieses Fonds soll eine Nationalsubskription eröffnet werden. Hier sind die Institutionen der späteren zionistischen Organisation bereits angeregt. Aber auch den Grundgedanken Herzls spricht Pinsker schon aus: „Natürlich wird die Gründung eines jüdischen Asyls ohne Unterstützung der Regierungen nicht zustande kommen. Um diese zu erlangen und den Bestand unseres Asyls für immer zu sichern, werden die Schöpfer unserer nationalen Wiedergeburt mit Beharrlichkeit und Umsicht vorgehen müssen.“ Die Zeit war für diese stolzen Gedanken noch nicht reif. Eine Volksbewegung zu schaffen, war Pinsker nicht stark genug. Zu einer Organisation kam es nicht. Die Kattowitzer Konferenz (s. d.), die sich aus Pinskers Anregungen ergab, blieb ohne tiefere Wirkung. Sie gab aber Pinskers Tätigkeit die neue Richtung: kolonisatorische Arbeit in Palästina. Er wurde der Vorsitzende des Odessaer Vereins für jüdische Handwerker und Ackerbauer in Palästina und Syrien (s. d.), dem er seine ganze Arbeit und seine reiche, versöhnende Persönlichkeit widmete. Von seinem stolzen Plane war nur wenig geblieben. Er hatte es lernen müssen: sich zu bescheiden! Nicht entmutigt von den vielen Misserfolgen in Palästina, behielt und weckte er die Hoffnung, daß das letzte Ziel doch noch erreicht werden würde. Und er hatte noch kurz vor seinem Tode die Freude, daß die russische Regierung (1891) die öffentliche Werbetätigkeit für das Odessaer Komitee zuließ, wodurch die Möglichkeit intensiverer Palästinaarbeit gegeben war. Am 9. Dezember 1891 starb Pinsker. Die Schaffung der weltumspannenden Organisation sollte er nicht miterleben.

Literatur über P. : M. Li1ienblum , Woschod 1902 No. 11. — Jacob Schorr, jüd. Volkskalender (Brünn) I. Jahrg. 1902/03. — The Jewish Encyklopedia Bd. X, (Welt II. 1).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch