Patriotismus

Das Wort Patriotismus ist mit „Vaterlandsliebe“ zu übersetzen. Nicht weniger — aber auch nicht mehr bedeutet das Wort als die Liebe zum Vaterland, die Liebe zu Land und Leuten. In der Hitze des Parteikampfes ist diese Tatsache leider außer acht gelassen worden und Patriotismus zu einem nur allzu geläufigen Schlagwort geworden. Nur so ist es zu erklären, daß auch die Gegner des Zionismus sich seiner im Kampfe gegen diesen bedienen, um, wie die sog. Protestrabbiner, die zionistischen Lehren in Gegensatz m denen des religiösen Judentums zu bringen, da dieses „seine Bekenner verpflichte, dem Vaterland, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen,“ oder gar, wie Professor Ludwig Geiger es tat, um die Hilfe der Staatsregierung gegen den „unpatriotischen“ Geist des Zionismus anzurufen.

Den Juden ist ihr Patriotismus immer bestritten worden. Natürlich mit ebenso wenig Recht, wie er jetzt den Zionisten von ihren jüdischen Gegnern abgesprochen wird. Aber es lohnt gegenüber den Ausstreuungen unserer Gegner, daß der Zionismus deshalb für das Judentum gefährlich sei, weil er Zweifel an der patriotischen Gesinnung der jüdischen Bevölkerung hervorrufen könne, festzustellen, daß es nicht des Zionismus bedurft hat, um diesen Erfolg zu erzielen. Haben die Juden nicht stets an der Spitze gestanden, wenn es galt ein vaterländisches Werk zu fördern, sogar auf den Schlachtfeldern ihr Blut für das Vaterland gelassen? Konnte man weitergehen in der Verleugnung des eigenen Volkstums, als es die Juden im vergangenen Jahrhundert taten, nur um keine Verdächtigung ihrer Loyalität aufkommen zu lassen? Und der Erfolg? — Sie mußten sich immer gegen den Vorwurf des Kosmopolitismus verteidigen. Der ,,roten“ Internationale wurde die „goldne“ zur Seite gestellt, und die Alliance israélite sollte der Geheimbund aller dieser dunklen inter nationalen Mächte sein. Jeder Pfennig, den wir unseren unglücklichen Stammesgenossen in anderen Ländern spendeten, wurde zum Beweis für die jüdische internationale Solidarität gestempelt und daran unsere Unzuverlässigkeit in vaterländischen Dingen demonstriert. Immer blieben wir verdächtige Gesellen, denen man nicht über den Weg trauen dürfe, denen jedes patriotische Empfinden abging, ein Element der ,,nationalen Dekomposition“, der nationalen Zersetzung.


So lagen die Dinge schon, als der Zionismus kam. Begnügen wir uns also mit unserem guten Gewissen und lassen wir uns durch antisemitische Verdächtigungen nicht darin beirren, unsere Pflicht zu tun.

Wir Juden mögen es bedauern, daß Palästina nicht auch das Vaterland des Einzelnen ist, wie es das Stammland des ganzen Volkes ist — die ,,Judenfrage“ wäre uns und unseren Wirtsvölkern erspart geblieben. Jedoch es ist anders gekommen. Und wir lieben unser Adoptivvaterland, wie Kinder ihre Adoptiveltern lieben, die nie ihre angestammten Eltern gekannt haben.

Ein Dualismus wird freilich in der Seele derjenigen Juden fortbestehen, die in dem Lande, das sie ihr Vaterland nennen, keine Heimat gefunden haben. Die Macht der Verhältnisse zwingt heute viele Tausende sich uns zuzuwenden und eine neue Heimat zu suchen. Auch sie sind gewiß gute Patrioten, solange sie sich in dem Lande befinden, in dem sie geboren sind. Aber wären sie es auch nicht: Wer wollte es ihnen verübeln? Der psychologische Grund für die Verdächtigung unserer patriotischen Gesinnung durch antisemitische Gegner ist ja der, daß das schlechte Gewissen dieser Leute keine Anhänglichkeit bei denen vermuten lassen kann, die man täglich mißhandelt. Es wäre schon möglich, daß in einer leidenschaftlichen Seele die Liebe zum Vaterland, das sich als Stiefvaterland erwiesen hat, in Haß umschlägt. Aber das wird immer nur bei wenigen der Fall sein, und die große Mehrzahl selbst russischer Juden wird sich nicht anders als blutenden Herzens von der Heimat losreißen. Allen diesen Heimatlosen aber will der Zionismus eine Heimat bereiten in dem Lande, das eigentlich nie aufgehört hat, ihre Heimat zu sein, weil sie keine andere gefunden haben: in Palästina. Und kann uns Zionisten etwa daraus ein Vorwurf gemacht werden? Man hat wohl immer die Handlungsweise dessen, der Unglücklichen, die sich im Vaterlande nicht wohl fühlten, zu einer Heimat verhalf, als eine edle bezeichnet und seine Vaterlandsliebe nicht zu verdächtigen gewagt.

Aber sind nicht überhaupt gerade unsere Absichten die patriotischsten, die man sich denken kann? „Ich glaube,“ sagt Theodor Herzl, „daß man es uns in den Ländern, wo man die Juden nicht mag und selbst in den anderen als ein patriotisches Verdienst anrechnen wird, wenn wir die lästige alte Judenfrage endlich lösen, wenn wir die überflüssigen Juden ableiten und damit die Gefahr einer Revolution beseitigen, die mit den Juden anfinge und man weiß nicht, wo aufhören würde.“ Ein Blick nach Rußland belehrt uns, wie recht er mit diesen Worten gehabt hat. Wir Zionisten leisten also unserem Vaterlande einen unschätzbaren Dienst wenn wir diejenigen Elemente hinwegführen, die mit ihm nicht dauernd verwachsen können oder wollen — mit einem Wort: Wir handeln patriotisch. Sollte sich aber dereinst unser Traum eines jüdischen Gemeinwesens erfüllen, so wird der Patriotismus derjenigen Juden über allen Zweifel erhaben sein, die ihr Vaterland nicht verlassen, sondern in ihm ausharren werden, trotzdem ihnen die Möglichkeil eines freieren Auslebens ihrer Persönlichkeit geboten sein wird. Freilich werden sie mit ihren Sympathien die Fortschritte des jüdischen Volkes in seinem Stammlande begleiten — aber dieses natürliche Ergebnis der nationalen Verwandtschaft ist nicht unpatriotisch. Wir sehen überall in der Welt die gleiche — auch werktätige Anteilnahme stammverwandter Völker an dem Geschicke des anderen.

Nun gibt es aber Leute, die da meinen, daß, wenn sich in einem Staate mehrere Nationalitäten befinden, diese in die herrschende Nationalität aufgehen müßten, wenn sie als patriotisch gelten wollten. Ganz abgesehen davon, daß es eben vielen Nationalitäten, nämlich den starken, lebenskräftigen, unmöglich ist, in einer anderen zu verschwinden, ist nicht recht ersichtlich, weshalb der Patriotismus mit dem Aufgeben der nationalen Eigenart erkauft werden muß. Ist doch begrifflich Patriotismus schon allen denen eigen, die ihr Vaterland lieben und dementsprechend sein Bestes fördern! Das sagen die Worte des deutschen Kaisers, die er 1902 in Posen sprach: „Das Königreich Preußen setzt sich aus vielen Stämmen zusammen, die stolz sind auf ihre frühere Geschichte und Eigenart. Das hindert sie nicht, vor allem gute Preußen zu sein.“ Das ist um so selbstverständlicher, als es gar keine Nationalstaaten in Europa gibt. Voraussetzung natürlich ist, daß die nationalen Bestrebungen eines Volksstammes nicht mit den Interessen des Gesamtstaates, dem er eingegliedert ist, kollidieren. Ist nun eine solche Kollision unserer zionistischen Pläne mit den Interessen unseres Vaterlandes zu befürchten? Keinesfalls, unsere nationalen Wünsche gehen nicht über das hinaus, was den anderen Nationalitäten in den einzelnen Ländern gewährt ist. Wir verlangen in Nationalitätenstaaten, wie Österreich, dieselben Rechte wie die anderen Völker. Wir begnügen uns in Ländern, in denen die Verschiedenheit der Nationalitäten staatsrechtlich nicht zum Ausdruck kommt, mit der Pflege unserer nationalen Zusammengehörigkeit im Rahmen des bestehenden Vereins- und Versammlungsrechts. Darüber hinaus geht unser Streben nicht. Vor allem beabsichtigen wir nicht, irgend ein Stück eines Landes von diesem loszureißen und dort einen jüdischen Nationalstaat zu gründen, auch in der Türkei nicht, denn wir wollen nicht den törichten Versuch machen, Palästina seinem derzeitigen Herrscher gewaltsam zu entreißen, sondern wir hoffen, daß er uns freiwillig und im eigenen Interesse den Charter erteilen wird, der uns die Besiedelung des Landes sichert.

Der deutsche Dichter ruft auch uns zu: „O lerne fühlen, welchen Stamms Du bist.“ Und unser großer Gegner Treitschke sagt: ,,Eine solche Verworfenheit nationaler Selbstentwürdigung ist geradezu entsetzlich,“ indem er sich missbilligend über diejenigen Deutschen in Ungarn ausspricht, die sich ihr Deutschtum nicht bewahrt haben. Sollte man annehmen, daß er von diesen Leuten verlangt hat, sie sollten gute Deutsche und schlechte Ungarn sein? Nein, gute Deutsche und gute Ungarn. Ebenso wollen wir Zionisten gute Deutsche, Engländer, Franzosen etc., aber auch gute Juden sein. Hier gibt es kein Entweder — Oder, denn eines schließt das andere nicht aus. „Der Mensch ist eben nicht nur ein Teil einer einzigen Gemeinschaft, es ist ihm vielmehr wesentlich, daß er vielen Gemeinschaften zugleich angehören kann, ohne in einer von ihnen mit seiner ganzen Persönlichkeit aufzugehen.“ Wir Juden gehören nicht nur staatsrechtlich zur deutschen, englischen, französischen etc. Staatsnation, wir fühlen uns auch innerlich als ein Stück des Volkes, in dessen Mitte wir leben, durch die gemeinsame Sprache und durch die gemeinschaftliche Kultur, die uns Juden und Nichtjuden, als Gebende und Empfangende vereinigt. Anderseits aber gehören wir auch der jüdischen Nationalität an. Aus unserer Zugehörigkeit zu jeder dieser Gemeinschaften folgt zugleich, daß wir Pflichten gegen beide zu erfüllen haben, und daß die Vernachlässigung derselben gegen die eine so schlimm ist, wie die gegen die andere. Unsere Pflichten gegen die verschiedenen Staatsnationen haben wir bisher vollkommen erfüllt. Wir haben redlich mitgearbeitet an der Größe unseres Vaterlandes auf dem Gebiete der Politik wie des Gewerbefleißes, der Kunst wie der Wissenschaft. Wir haben unser Vaterland auch nicht in den Zeiten der Gefahr verlassen und für seine Ehre und Machtstellung gekämpft. Kein Zionist will, daß es hierin anders werden soll. Haben doch sogar in der englischen Armee während des südafrikanischen Krieges zwei zionistische Vereine bestanden und befanden sich doch unter den 40.000 jüdischen Kriegern auf den Schlachtfeldern der Mandschurei nicht wenige Zionisten, unter ihnen sogar einige Mitglieder des Aktionskomitees! Aber was wir Zionisten fordern, ist, daß sich die Juden auch ihrer Pflichten gegen die jüdische Nation erinnern mögen, die sie bisher nicht erfüllt hüben, daß sie stolze Juden werden, wie sie stolze Deutsche, Engländer, Franzosen etc. sind, und daß sie alle mithelfen, ihren unglücklichen Brüdern eine gesicherte Heimstatt zu gründen in dem Lande, daß unsere historische Heimat ist.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch