Wie Städte verfallen.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: R. Bon., Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, St. Petersburg, Petrograd, Türkei, Konstantinopel, Wohnhäuser, Feuerwehr, Brandgefahr, Wohnungsnot, Wohnungselend, Seuchengefahr
Die Geschichte belehrt uns, dass einst in den Euphrat- und Tigrisländern, in Ägypten und Griechenland Völker lebten, die eine hohe Kultur besessen haben. Vor Jahrtausenden sind manche dieser Städte in Schutt und Asche zerfallen, kaum eine schwache Erinnerung an ihre Namen blieb erhalten. Manche dieser Schutthügel erweckten den Eindruck, als seien sie natürliche Bodenerhebungen. Da kamen die Altertumsforscher und legten durch ihre Grabungen manche der alten Städtereste frei. So lernte man die Hochsitze der damaligen Kulturen, Babylon, Ninive und Theben kennen, man entdeckte in Kreta alte Paläste, und Schliemann grub Troja aus. Angesichts der oft erstaunlich großen Ruinenfelder gewaltiger Mauern, Paläste und Tempelanlagen fragte man sich, wie es möglich war, dass solche Anlagen vernichtet werden konnten. In Amerika fand man, vom Urwald überwuchert, die Ruinen einstiger Millionenstädte. Der Verfall solcher Städte vollzog sich vermutlich langsam, denn manche waren so groß, dass es unmöglich war, sie kurzerhand zu vernichten.

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Durch den kurzsichtig und frevelhaft angezettelten Weltkrieg, der zur Überraschung seiner geschäftsgieren Anstifter anders ausging, als man erwartete, erleben wir traurige Beispiele des Verfalls großer Städte. Und man begreift nun, wie in vergangenen Jahrtausenden der Untergang bedeutender Gemeinwesen langsam erfolgen konnte. Es sind bei dem augenblicklichen Verfall viele Umstände, die dazu beitragen, dass Ruinen entstehen. Als Peter I. „das russische Fenster nach Europa“, Petersburg, gründete, wollte er dem Reiche damit ein geistiges und wirtschaftliches Zentrum schaffen. Die Stadt blühte auf, und nun nagt der Zerfall an ihren Häusern. Als im Anfang des Dezember 1921 der Petersburger Wohnungsausschuss die Bauten auf ihren Zustand prüfte, ergab sich, dass von siebenhundert Häusern zweihundertverzehn als für menschliche Benutzung unbrauchbar erklärt werden mussten.

Es wurde festgestellt, „dass sie eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit bildeten“. In weiteren, ungefähr zweitausend Wohnhäusern, die mit Warmwasserheizungen und allen sonstigen Bequemlichkeiten versehen waren, bestätigte der Ausschuss eine teilweise geradezu sinnlose Zerstörung. Nach diesem traurigen Ergebnis musste sogar die Regierungszeitung „Prawda“ zugeben, dass die „Bevölkerung in unerhört törichter Weise“ mit ihren Wohnungen umgehe. Die Häuser sind Gemeingut des Staates und Volkes geworden, und Miete braucht für Wohnungen nicht bezahlt zu werden. Es steht jedermann frei, beliebig ein- und auszuziehen. Trotzdem die Bevölkerung Petrograds nur ungefähr drei Fünftel der Einwohnerzahl vor 1914 beträgt, besteht zwar keine ausgesprochene Wohnungsnot, aber die beziehbaren Häuser sind durch die Zerstörung knapp geworden. Sie sind nicht nur unerhört verschmutzt und wahre Seuchenherde geworden, sondern auch aus anderen Gründen nicht mehr als Obdach geeignet. Während der Kohlennot riss man die Zimmerböden heraus, entfernte die Türen, Holzgesimse, Fensterrahmen und Jalousien und verbrauchte das Holz zur Heizung. Die Fensterscheiben wurden entweder zerschlagen oder verkauft, ebenso Türgriffe und Schlösser. In einzelnen Zimmern stellte man kleine eiserne Ofen auf und leitete die Abzugsrohre durch die mit Brettern verschlagenen Fensteröffnungen auf die Straße. Wenn alles vernichtet war, zog man aus und wiederholte die Zerstörung an anderen Häusern. Nicht nur die Mieter, auch die Behörden wirtschafteten in gleich vandalischer Weise, wo sie abzogen, nahmen sie die elektrischen Einrichtungen mit. An Erneuerung dieser Schäden ist nicht zu denken. Die Flüsse versanden, und die Häfen werden unbrauchbar. Frachtschiffe hat man zerschlagen und das Holz verheizt. Das Feuerlöschwesen versagt, die Wasserleitungen gehen zugrunde. Nichts ist deshalb heute mehr zu fürchten als ein Großfeuer.

Nicht minder trostlos ist das Bild des zerfallenden Konstantinopel. Ende 1921 wurde im Bericht des Polizeipräsidenten der Stadt mitgeteilt, dass in den letzten dreizehn Jahren jährlich durchschnittlich fünfzehnhundert Häuser abgebrannt sind, ohne wieder aufgebaut zu werden. Die Brandstätten erstrecken sich über ein Gebiet von nahezu drei Quadratkilometer! Die Stadtkassen sind leer, der Aufbau unmöglich! Ja, es fehlen sogar die allernötigsten Mittel, um für die Feuerwehr die dringend nötigsten Apparate und Werkzeuge zu beschaffen. Dabei sind Brände in Konstantinopel in hohem Grade zu fürchten, da zur Errichtung nicht nur der einfachen Gebäude viel Holz verwendet wird. Um sich vor weiteren Katastrophen einigermaßen zu schützen, will man das Löschwesen, so gut es geht, wieder erneuern. Die Kosten dafür sollen durch eine Anleihe aufgebracht werden, die man von ausländischen Versicherungsgesellschaften zu erhalten hofft. Da für diesen Zweck große Summen nötig sind, ist die Lage verzweifelt schwierig. So schreitet denn auch der Verfall in den Levantehäfen unaufhaltsam fort, eine Gefahr, die nicht weniger groß ist als das Wohnungselend. Da in Russland sowie in der Türkei die hygienischen Zustände nicht annähernd so durchgebildet waren als in anderen modernen Kulturstaaten, besteht für diese Länder eine nicht geringe Seuchengefahr. Wenn man bedenkt, dass in Petersburg zahlreiche Wohnhäuser in den bestgelegenen Vierteln als verseucht oder seuchenverdächtig geschlossen werden mussten, so lässt sich ermessen, was anderwärts möglich werden kann, wo jede Fürsorge entweder ruht oder durch das Unverständnis der Leute unmöglich ist. Gewiss wird deshalb Petersburg und Konstantinopel nicht ohne weiteres vom Erdboden verschwinden, aber die dort einmal eingerissenen Zustände geben ein erschütterndes Bild der langsam vor sich gehenden Verwahrlosung und des Verfalls.

Aus dem sterbenden St. Petersburg: Ofenrohre ragen aus den Fenstern der baufälligen Häuser und lassen den Rauch in die Straßen ab.

Russland, St. Petersburg, Aus dem sterbenden St.Petersburg, Ofenrohre ragen aus den Fenstern der baufälligen Häuser und lassen den Rauch in die Straßen ab

Russland, St. Petersburg, Aus dem sterbenden St.Petersburg, Ofenrohre ragen aus den Fenstern der baufälligen Häuser und lassen den Rauch in die Straßen ab