Was ist zu tun? - Einige Bemerkungen zu den „Antworten der Jugend"

Aus: Die jüdische Bewegung. Erste Folge 1900-1914
Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph und Bibelübersetzer, Erscheinungsjahr: 1904
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
Die Grundlage dieser Ausführungen war eine unter den jüdischen Gymnasiasten Galiziens veranstaltete Umfrage über die Aufgaben der zionistischen Jugend*).

*) Die Zitate im Text sind den Antworten der Gymnasiasten entnommen.

Diese Antworten der Jugend sind der Ausdruck noch unfertiger, suchender, irrender Seelen; ein zuweilen allzu rhetorischer, allzu gesprochener Ausdruck; aber — ein Ausdruck, und ein Ausdruck von Seelen. So viel Seelenlosigkeit ist im gegenwärtigen „Zionismus", so viel enge Phraseologie in den „zionistischen" Reden und Artikeln, so viele Worte der Oberfläche und so wenige Worte aus der Tiefe, dass Freude einen erfasst beim Anblick eines ehrlichen und frischen Gefühls, beim Anblick dieser rücksichtslosen Eruptivität, dieser Jugend der Jungen. Aus dem sittlichen und geistigen Stillstand einer Partei kann uns nur eine glühende Wahrheit, die Wahrheit der Persönlichkeit, die Wahrheit, die Seele ist, erlösen. Der junge Jude, der in sich und um sich schaut, erkennt das Judentum in der eignen Seele, das Judentum im Blute der Väter und der Mütter und das Judentum im stummen Lebensopfer der Millionenschar der Brüder, und aus diesem Schauen, aus diesem Erkennen wird das Wort und die Tat für das Volk — dies ist die größte Kraft der Wiedergeburt. In den ,, Antworten der Jugend" sehe ich hier und da Elemente dieser Kraft.

Hier und da nur. Denn es gibt auch traurige Blätter in diesen Antworten. Solch ein Blatt ist die psychologisch wichtige, durch die Offenheit des Bekenntnisses unserem Mitgefühl näher gebrachte, aber an sich selbst überaus traurige Geschichte von dem ehrgeizigen Juden und dem unbarmherzigen Gervasius*), in der — natürlich wider Willen des Erzählenden — das Judentum wie etwas aussieht, dem man sich anschließt, weil das erwünschte „Bessere" die Aufnahme verweigert. Dass mancher der Unseren dieses Stadium durchmachen musste, ist vielleicht das furchtbarste Zeichen der Pathologie unserer Lage. Wer von diesen darüber noch nicht hinausgelangt ist, der neide den Gefangenen des Titus, die unser Heiligtum durch die fremde Stadt tragen, der arbeite an sich, um erst wahrhaft Jude zu werden, er erkenne, dass er nicht „auf schwindelnder Höhe", sondern am Fuße unseres Berges steht, dass er nicht ein ,, freier Jude" ist, sondern ein Jude, dem es aufgegeben ist, erst nach der Freiheit zu streben. Noch einmal: er arbeite an sich!

*) Anspielung auf eine Episode des Epos „Herr Thaddäus" des polnischen Dichters Adam Mickiewicz, in der ein alter Schloss Verwalter einen polnisch-patriotisch empfindenden jüdischen Spielmann, der in den Streit einiger Edelleute beschwichtigend eingreifen will, derb abfertigt.

Zwar nicht so traurig, aber ebenso falsch und vielleicht schädlicher ist die Auffassung des Zionismus als einer Tendenz zur Besserung der Lage der Juden, die „in mancherlei Hinsicht viel zu wünschen übrig lässt" (!) Diese Betrachtungsweise ist den Ansichten der sogenannten humanitären Zionisten verwandt, die alles andere, nur keine Zionisten sind. Auch hier im Vordergrund „der Kampf gegen den Antisemitismus", den Antisemitismus, der für unsere Bewegung nur eine zeitliche Auslösungsursache war, aber mit unserer Idee und unserem Programm nichts zu schaffen hat. Aus einer solchen Auffassung ergeben sich Folgerungen wie die, die einer der Antwortenden ausspinnt: der Kampf gegen den Antisemitismus werde „fürs erste auf der Überwindung unserer Fehler beruhen", sodann auf der „Auswanderung der Juden nach Palästina". Nein, Kamerad! Wenn wir arbeiten, in unserer Seele das Golus abzutragen und Zion aufzubauen, in unserem Geist das negative Judentum auszurotten und das positive fruchtbar zu machen, so tun wir das nicht, um denen zu gefallen, die uns nicht lieben, sondern weil wir unsere nationale Eigenart entwickeln und vollenden wollen, weil wir uns nach der Wiedergeburt sehnen und uns tätig sehnen.

Und wenn wir danach streben, die Juden in Palästina zu zentralisieren, so tun wir das nicht, weil „die sich aus dem verschärften Kampf ums Dasein ergebenden Reibungen mit den andern Völkern eine Brutstätte für den Antisemitismus bereiten" und wir daher weichen sollen, sondern weil nur aus der Zusammenströmung des Volkes auf eigener Erde, aus der Erneuerung der geschichtlichen Kontinuität, aus der Kraft des palästinensischen Ackers ein gesunder Volksorganismus, ein in Trieb und in Werk regeneriertes Judentum, der gewandelte jüdische Geist auferstehen kann.

Nicht die Besserung der Lage der Juden, sondern die Erlösung der Nation ist der Inhalt unserer Idee. Also ist die wahrhafte Liebe zum Volke nicht die, von der die Kamaradin Esther M. spricht, nicht die, „die man immer für die unschuldig Verfolgten und Gemarterten fühlt", sondern die, die man für das eigene Blut und das eigene Sein fühlt, für seine Väter und für seine Söhne, für die Geschlechter, die waren und für die Geschlechter, die sein werden, das Gefühl der Einheit unseres Ich mit alledem, woraus wir gewachsen sind und was aus uns wachsen wird. Lanu welo lachem. Das ist nicht ein anderer, der gemartert wird, Kameradin Esther, das bist du selbst. Jeder von uns fühle mit der ganzen Seele: das Volk bin ich — und das Volk wird auferstehen. Jeder von uns begehre mit der ganzen Seele Palästina für sich — und wir werden Palästina erlangen.

Das hat mich am meisten an den Antworten erfreut, dass ich in einigen von ihnen eben diese Empfindungen und Überzeugungen gefunden habe. Dass der Zionismus eine vorwärtsdrängende Bewegung ist, weil er das bewusst macht, was ist; dass er nicht aus der Not, sondern aus der Sehnsucht entstanden ist, nicht aus dem Sterben, sondern aus dem Leben, aus einem vollen und niedergehaltenen, nach Fruchtbarkeit verlangenden Leben; dass die Nation nur durch den Willen des Volkes, durch das Bewusstwerden dieses gefesselten Lebens wiedergeboren werden kann: — diese Gedanken fand ich in den Antworten und ich fand an ihnen das Zeichen selbständiger Gedankenarbeit, innerer Kämpfe, das Zeichen der Seele. So erschollen also auf die erste Frage („Worauf beruht mein Zionismus?") wackere, gesunde, junge Antworten. Nicht im gleichen Maße auf die anderen Fragen, die die Arbeit für den Zionismus betreffen.

Zwar bricht aus mancher der Antworten ein starkes Gefühl der Berufung durch, ja die Überzeugung, zur vorbereitenden Arbeit sei „einzig die Jugend befähigt". Aber die Frage, welches diese Arbeit sein solle, hat keine zulängliche Antwort gefunden. „Völlige Selbsthingabe", ,,Prägung des Charakters", „Selbsterziehung", „Konzentrierung des Geistes", das sind schöne und erhabene Losungen, aber aus ihnen taucht immer stärker, immer dringlicher die Frage hervor: Was ist zu tun?

Der größte Teil der Kameraden antwortete auf diese Frage, man solle die hebräische Sprache und die jüdische Geschichte lernen; einer betonte mit Recht die Wichtigkeit des Studiums der jüdischen Statistik und der Vertrautheit mit den wirtschaftlichen und geographischen Verhältnissen Palästinas; ein anderer forderte ein tieferes Wissen, das Begreifen der spezifisch jüdischen Ideen. Aber das ist nicht genug, das ist noch kein Tatprogramm für diese Jugend, die, wie sie meint, einzig befähigt ist, die Nation zu bereiten und die auf jeden Fall eine breitere, mühseligere und anspruchsvollere Aufgabe hat als die Jugend irgendeiner anderen Nation in irgendeiner anderen Geschichtsepoche.

Versuchen wir also klar und offen, unter Verzicht auf alle Parteiformeln, uns die Frage zu beantworten: Was ist zu tun ?

                                        *******

Es scheint mir, dass man die ganze Aufgabe des jungen Juden in ein ungeheuer einfaches Wort einschließen kann: Mensch werden, und es jüdisch werden.

Denn wir sind eigentlich noch nicht „Mensch geworden". Jeder blicke in sich. Fast jeder wird in sich hinter allem Reichtum des Geistes eine große Leere, eine Ohnmacht zum wahrhaften Leben finden, — viel Verheißung und wenig Erfüllung, viel Möglichkeit und wenig Frucht.

Die Fesseln des Golus verwundeten, verwüsteten unsere Seele. Täuschen wir uns nicht — wir sind sehr krank. Aber vermeinen wir nicht, wir würden irgendwann und irgendwo genesen, wenn wir nicht jetzt und hier die Arbeit an der Heilung beginnen.

Drei Dinge vor allem versteht der heutige Jude nicht: zu leben, zu schauen, zu schaffen. Diese drei Dinge in sich bilden — das ist es, was uns zu tun obliegt.

In sich bilden? Gleichsam erlernen? Kann man das? Die seelischen Fähigkeiten können sich doch nur aus den veränderten Verhältnissen durch die Kraft der Evolution entwickeln?

Ein bekannter Einwand — wie oft habe ich ihn vernommen, wenn ich von der Erziehung des Volkes sprach! Er nimmt sich zugleich wissenschaftlich und praktisch aus und ist doch unsäglich hinfällig — vor der Tatsache unseres Willens. Unseren Willen, der auch aus Verhältnissen, als Widerstand, erwuchs, stellen wir der Satzung der Evolution gegenüber; oder vielmehr wir erweitern den Begriff der Evolution. Denn unser Wille ist auch eine Naturkraft, eine Kraft, die nach außen wirkt, die Welt umgestaltend, und nach innen, die Seele umwandelnd.

Zwar wird nur die Erde Palästinas uns wiederzugebären vermögen, sie allein wird uns die Macht und das Werk geben. Aber um diese Erde zu erringen, müssen wir uns erziehen, richten, was in uns verbogen ist, die Leere füllen, die Ohnmacht zum Leben bezwingen. Damit unser Wille die Verhältnisse ändern könne, muss er vor allem uns selber umwandeln.

Das wird begreifen, wer immer in der Jugend den Willen übte, in sich die Ausdauer oder die Güte oder den Mut zu bilden und diese seine Wirkung in der Seele wachsen fühlte, des Staunens und der Freude voll sich zugleich als Schöpfer und als Geschöpf empfand. Jeder, der an sich selber das Gesetz der Umwandlung durch den Willen erfahren hat, wird begreifen, welch eine Gnade in diesem unserem Willen ruht.

Drei Dinge also wollen wir in uns bilden.

Vor allem lernen wir leben.

Warum versteht der heutige Jude nicht zu leben, warum fehlt seinem Leben, mag es auch vom Glück überströmen, die Fülle und das Gleichmaß, warum fehlt ihm die Gestalt?

Sollte er keine Lebenskraft haben? Es ist doch kein Volk so mächtig in der Erniedrigung, so unbesiegt im Elend!

Sollte er das Leben nicht lieben? Es sind unter uns doch wenige, die die Wüste sich zur Stätte und den Verzicht zum Richtmaß erwählen.

Sollte er die Schönheit nicht empfinden? Sind wir doch ihre begeisterten Sendboten.

Der heutige Jude weiß nicht zu leben, weil er in sich den Zusammenhang nicht hat.

Alles, was in ihm ist, alles, was sich aus ihm gestaltet, ist ein Bruchstück. Ein Bruchstück sein Gedanke, ein Bruchstück die Sehnsucht, sein Werk ein Bruchstück.

All dies bricht gleichsam unterirdisch hervor, regt sich gewaltsam, fieberhaft, krampfhaft, überfällt die Seele mit einer zitternden Unruhe und versinkt wieder ins Ungeschiedene.

Der unterirdische Schatz hat zu seiner Stunde geblüht, aber keine Hand hat ihn ergriffen, kein Bann ist auf ihn geworfen worden, und er ist ungehoben untergegangen. Die Form hat ihn nicht erlöst.

Nur der vermag das Haus aufzubauen, der die Einheit im Willen und im Sinn hat. Den anderen bleibt es ein Steinhaufen. Der Jude mus zuerst wieder das Leben erlernen, um leben zu können.

So wollen wir den Zusammenhang in uns erziehen.

— Den Zusammenhang des Denkens.

Unser Geist befreie sich von dieser Schar hüpfender Kobolde, deren wir uns berühmen, indem wir sie unsere Einfälle nennen, und er erwähle über sich den Gedanken, den ganzen und einigen, den königlichen Gedanken, der den Abgrund mit unerschrockenem Auge misst. Ach, diese unsere „guten Köpfe"! Gebt mir „schlechte Köpfe" und lasst sie eines großen Gedankens fähig sein. Gebt mir einfältige Leute ohne Verwicklungen und die Unbeirrbarkeit des Denkens sei in ihnen. Und diese Leute, diese Juden mögen unsere Vergangenheit und Zukunft besinnen!

— Den Zusammenhang des Gefühls.

Wie viele Schwärmereien gibt es in uns und wie wenig jener stillen Begeisterung, die wie der Glanz der Cherubim über der Bundeslade ist! Wie viele Liebeleien und wie wenig jener heiligen Liebe, die wie Moses Stab sprudelndes Wasser aus der Felswand schlägt! Wie viele Ambitionen und wie wenig Stolz! Wie viele Begehrlichkeiten und wie furchtbar wenig jener Sehnsucht, die neue Welten zeugt! Gebt mir Leute, die ungespalten im Gefühl sind: sie mögen Zion lieben!

— Den Zusammenhang des Willens.

Genug der Aufbrüche und Projekte, genug jener ewigen Anläufe, aus denen nichts entsteht! Wann wird ein Geschlecht von solchem Opferwillen aufwachsen, wie ihn unsere Helden hatten, in welchen Seelen wird Massada wieder aufleben?

Stellt euch dieses Geschlecht von Männern vor, diesen Heerhaufen brennender Geister, diesen heiligen Frühling — könntet ihr am Siege zweifeln?

Und könnt ihr an ihn glauben — wenn ihr auf uns seht? Auf unsere Ohnmacht und die Knechtschaft unserer Seelen?

Darum aber fehlt es dem Juden an Zusammenhang, weil die Katastrophen des Golus ihm den Zusammenhang in jedem Augenblick durchschnitten, weil er Jahrhunderte hindurch auf vulkanischem, bebendem, drohendem Grunde wohnte, und so oft er den Geist zur Einheit spannte, fiel ein neues Unheil nieder und zermalmte alles, was im Geist empfangen war. So wuchs die Unrast und die Unstimmigkeit. Wuchs mit der Verzweiflung und ging vom Vater zum Sohn — ein furchtbares Erbe der Geschlechter.

Heute, der Katastrophen nicht ledig, aber frei an Atem und Bewegung, und verjüngten Willens, lasst uns gegen das Golus in unseren Herzen kämpfen !

Ein Teil nur dieses Kampfes ist dies, dass wir lernen müssen zu schauen.

Zu schauen! Warum versteht der Jude nicht zu schauen, warum ist sein Auge unsicher und unfähig, die Fülle der sichtbaren Welt zu umfassen, warum ist in seinem Denken so wenig Gestaltung, in seinem Erkennen so wenig Eingebung? Warum kann er so selten die ganze Zufälligkeit seines Lebens abtun und mit einer von allen Absichten freien Seele, mit andächtiger Seele einen Baum, einen Bach, einen schönen Menschen ansehen? Warum kann er sich so selten den Dingen hingeben?

Der Jude hatte Jahrhunderte hindurch nicht Zeit noch Raum. Er hatte nicht Zeit, um sich von den Bedürfnissen des Augenblicks loszureißen und sich an etwas hinzugeben, „das ihn nichts anging". Er hatte nicht Raum, um sich mit der Seele über die Mauern jenes engen, finstern Ghettos zu den grauen Bergen, den dunkelgrünen und rotbraunen Wäldern, den blauen Horizonten und goldenen Sternen zu schwingen; diese Mauern waren sein Raum und sie versperrten vor ihm nicht bloß die Welt, sondern auch den Himmel. Und überdies war es eine Sünde, zu schauen.

Wir aber wissen, dass es Sünde ist, nicht zu schauen; und schmerzlich empfinden wir dieses unser Gebrechen. Und wissen, dass die große Tat bei uns nur aus dem großen Erkennen entstehen kann und dass groß das Erkennen ist, welches sieht.

Lernen wir also schauen und sehen. An der Natur um uns das Auge bilden, die allein ganz in uns eingehen kann.

Dann aber auch uns selber, unser Volk und sein Leben sehen. Rings um uns lebt unser Volk. Tagaus, tagein geschehen die unscheinbaren Wunder seines Elends und seiner Größe, geschieht der schweigsame Schmerz und das stumme Ringen der Millionen. Menschen gehen mit dem Zeichen Gottes auf der Stirn und sterben, ohne ihr Werk begonnen zu haben. Und wir leben und sehen nicht. Und dennoch — wo irgendein Jude lebt, da ist das ganze Rätsel des Judentums.

Daher wollen wir lernen, auch in uns selber, in die eigne Seele zu schauen. Sie bis zu den tiefsten Schichten zu durchdringen, in denen die Sonderart unseres Volkstums schlummert, die wir nicht in unfruchtbarer Ablösung, sondern in reiner Intuition erkennen wollen. Hier eröffnet sich uns ein neuer Weg der Selbsterziehung, ein nicht mehr gemeinsamer, sondern durchaus persönlicher, für jeden verschiedener Weg. Hier schweigen die Ratschläge des älteren Kameraden, hier ist jeder sein eigener Erlöser.

Aber dieses Schauen und diese innere Arbeit sollen nur der Grundbau für das Schaffen sein. Das Schaffen ist die Veräußerung, Vergegenständlichung des seelischen Lebens. Was den Juden des Ghettos im Leben und im Schauen hemmte, der Mangel an Zusammenhang und das Fehlen von Zeit und Raum, wurde ihm auch zum Hindernis am Schaffen; mehr aber noch als beide ein Drittes, der Zwiespalt von Seele und Körper. Heute, da sich uns deren Bindung zu erneuen beginnt, wollen wir eine neue Zeit jüdischen Schaffens erhoffen.

Man darf den Begriff des Schaffens nicht auf die Schöpfung des Künstlers beschränken. Jeder schafft, der aus seiner Innerlichkeit etwas Selbständiges, Ganzes herausstellt. Alle wahrhafte Volksarbeit ist ein Schaffen. Wahrhafte Volksarbeit kann nicht auf bloßer Agitation beruhen, sie muss der Persönlichkeit des Arbeitenden entströmen und sie in der Tat aussprechen. Zionistisches Wirken darf keine Schablone kennen, das der Jugend am wenigsten. Jeder binde sein eignes Leben, seinen Beruf, seine Betätigung an das Leben des Volkes! Jeder besinne sich, und er wird gewahren, dass gerade da, wo er im Leben steht, etwas für das Volk zu tun ist, und dass diese Arbeit gerade die seine ist, dass sie auf ihn wartet. Möge jeder in seinem Umkreis, in den Fähigkeit und Lose ihn gestellt haben, wecken und helfen, forschen und schaffen.

So wollen wir uns zu Menschen, das heißt für uns: zu Juden erziehen. Leben wir, schauen wir, schaffen wir. Jeder aus ganzer Seele, ihre Sonderart verwirklichend, jeder an seinem nur ihm beschiedenen Orte, jeder anders und alle zusammen. Dann werden Seelen und Werke verschmelzen und Zion, unser Zion wird erstehen.

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph