Was ist unter dem politischen Gleichgewicht von Europa zu verstehen und welches sind die unerlässlichen Bedingungen desselben?

Aus: Ideen über das politische Gleichgewicht von Europa mit besonderer Rücksicht auf die jetzigen Zeitverhältnisse.
Autor: Butte, Wilhelm (1772-1833) Lehrer, Prinzenerzieher, Pfarrer und Professor für Statistik und Staatswissenschaften, königlich preußischer Regierungsrat, Erscheinungsjahr: 1814
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Europa, Staaten, Staatengemeinschaft, Politik, Politiker, Macht, Recht, Kultur, Idee, Verstand, Gemüt, Staatszweck, Individuum, Vernunft, Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Humanität, Bildung, Bürger, Volk, Wissenschaft, Volksbildung, Selbständigkeit, Widersprüche, Theorie und Praxis, Unrecht, Selbstbestimmung, Unglück, Revolution, Verträge, Konstitution, Staatengemeinschaft, Zeitgeist,
Es würde leicht sein, ein bedeutendes Verzeichnis von Schriften anzuführen, welche bald ausschließlich, bald gelegentlich von dem politischen Gleichgewicht Europas handeln. Die Grundidee aller mir über dieses Thema bekannten Schriften ist die:

„Es soll in der Verteilung her Streitkräfte eine gewisse Proportion herrschen, welche jedem Staate die Gewähr leistet, dass keiner seiner Mitstaaten ihm willkürlich Gesetze vorschreiben könne.“

Diese Grundidee ist so wahr und treffend, dass ich sie gern unterschreibe, doch erschöpft sie die Sache nicht und lässt besonders manche Schwierigkeit zurück, wenn man auf die Frage kommt: wie es anzufangen sei, dass dieses Gleichgewicht erhalten werde? Was ich hinzuzusetzen habe, kann nur ein sehr kurzer Kommentar der Worte sein:

„Der Begriff des politischen Gleichgewichts bezieht sich eben sowohl auf den moralischen, als auf den physischen Zustand der in Berührung und Wechselwirkung stehenden Staaten.“

Kein Staatsmann, der je in Sachen des politischen Gleichgewichts eine der Beachtung würdige Stimme abgab, fasste den Begriff desselben so plump auf, dass er sich hätte einsagen lassen, es müssten die Streitkräfte eines jeden Staats so gegen die Streitkräfte jedes andern bemessen sein, dass jeder jedem für sich die Spitze zu bieten vermöge. Eine Verteilung der Art, wäre sie auch momentan möglich, würde doch immer bald wieder ausarten in Ungleichheiten, ähnlich denen, die nach wenigen Generationen wieder eintreten müssten, wenn man heute alle Familien in ihrem Vermögenszustande gleichsetzen könnte und wollte. Indes hat besonders das Emporkommen der Statistik — neben dem vielen Guten, was wir dieser Wissenschaft bereits verdanken und von ihr in Zukunft noch erwarten dürfen — dieses Emporkommen hat einen gewissen Tabellenkalkül zu Ansehen gebracht, der nur da unschädlich wird, wo ihn Männer anstellen, die sich stets erinnern, dass in die Staatskraft eine Menge von Dinge einfließen, die sich durchaus nicht in Tabellen bringen lassen. Zwei Staaten, die so ziemlich gleichen Flächeninhalt, gleiche klimatische Verhältnisse, gleiche Bevölkerung hätten, könnten z. B. durch die Ungleichheit der Verfassung, oder des Kulturzustandes, oder des Volks- und des militärischen Geistes, der Talente und Gesinnungen der Herrscher so ungleich sein, dass ohne die mindeste Grenzverrückung an einem von Heiden dennoch das ganze Gleichgewicht zwischen ihnen aufgehoben wäre. Was vermag z B. nicht ein despotischer, kriegerisch gesinnter Mann als Herrscher eines Volks, welches den Raub liebt, gegenüber dem Regenten, der sich an Formen bindet, und der die Liebe zum Frieden mit seinem gewerbesamen Volk teilt?

Dieser an sich nichts weniger als neuen, gleichwohl unzähligemal unbeachtet gebliebenen Bemerkung, füge ich die hinzu, dass das Gleichgewicht eines so zusammengesetzten Ganzen, wie unter dem politischen Gesichtspunkte Europa ist, immerdar gestört wird, wenn ein einzelner Staat seine nicht minder zum Angriff, als zur Verteidigung bereiten Streitkräfte entweder viel höher steigert, oder viel tiefer sinken lässt, als dies die Staaten, mit denen er in Berührung steht, nach Maßgabe ihrer Grundkräfte zu tun pflegen. Ein Staat, der seine stehenden Heeresmasse zu sehr ausdehnt, möge sich dadurch für die Dauer immerhin zunächst selbst schwächen, so nötigt er gleichwohl seine Nachbarn, die sich als Mächte nicht auf Diskretion hingeben können, zu ähnlichen verderblichen Maßregeln. Ein Staat, der seine Streitkräfte zu tief sinken lässt, gefährdet nicht bloß sich, sondern auch alle übrigen Staaten, dadurch zwar, dass er sich aussetzt dem Eroberer eine leichte Beute zu werden, und so dessen Macht über die Gebühr zu vergrößern.

Nach diesen wenigen vorläufigen Bemerkungen stelle ich folgende, die Idee des Gleichgewichts betreffende Sätze auf:

1) Allerdings darf kein einziger europäischer Staat erfunden werden, der eine solche Masse von Grundkräften in seiner Gewalt habe, dass die Staaten seiner Berührung sich nicht seinen etwaigen Eroberungsplänen entweder allein oder doch mittels natürlicher Allianz unter der größten Wahrscheinlichkeit des Erfolgs widersetzen könnten. Es dürfen aber dabei nicht vergessen werden die Vorteile, welche die Einheit konzentrierter Kräfte in der Regel immer voraus hat vor der Geteiltheit der Allianzen. Kein großer Staat, der sich früher nicht so anhaltend und mutwillig schwächte, wie dies z. B. Frankreich vor dem letzten Rheinübergang getan hatte, der nicht, so wie Frankreich, alle zur Rache aufgefordert und die meisten zur Verzweiflung gebracht hatte, darf furchten von Verbündeten erobert zu werden. Die Geschichte spricht laut für diese an sich sehr beruhigende Wahrheit.

2) Die Idee des Gleichgewichts kann nimmer realisiert werden, wenn nicht alle Mächte jeden Eroberungskrieg für ein Attentat halten, das in Portugal verübt, Russland, in Russland verübt, auch Portugal und Neapel betrifft. In der widerrechtlichen Hinwegnahme einer an sich noch so kleinen Provinz, oder einer als Machtvergrößerung gar nicht in Anschlag kommenden Stadt, müssen Alle die Aufforderung finden, den beleidigten Grundsatz zu rächen. Der Satz, auf den politisch so oft und viel gesündigt wurde, dass nämlich andere Mächte um einer so kleinen Provinz, oder um einer einzigen Stadt willen, keinen Krieg würden anfangen mögen, dieser Satz lässt sich eben so gut umkehren. Keine Macht, wie groß sie auch sei, wird eine kleine Provinz widerrechtlich wegnehmen mögen, wenn sie gewiss ist, dass ihr der beleidigte Grundsatz, in dessen Heilighaltung alle ihre Sicherheit finden, gegen den kleinen Vorteil einer solchen Eroberung notwendig einen schweren Krieg zuziehe.

Politisches Gleichgewicht in einem Zustande, wo die Politik sich vom Rechtsbegriff gänzlich losgesagt hätte, muss für ein Unding gehalten werden. Die Milde und Nachgiebigkeit politischer Verhandlungen gegen über dem Eroberer, sind jener grausamen Milde gleich, welche den entschiedenen Verbrecher begnadigt. Wie jung auch noch die Weltgeschichte ist, so lehrt sie doch deutlich und unwidersprechlich, dass von einem Eroberer keine Besserung zu hoffen ist.

a) Die Erhaltung des Gleichgewichts ist bedingt durch Verträge und Konvention über die Stärke der stehenden Heere; die Volksbewaffnung, die ihrer Natur nach weit mehr auf Verteidigung als auf den Angriff berechnet sein kann, bleibt billig einem jeden Staate selbst anheim gestellt. Nur durch eine solche Konvention über die Größe der stehenden Heere kann der Friede alle seine Segnungen über die Völker Europas bringen, nur dadurch können unsere tiefen Wunden vernarben, nur dadurch kann es den Staaten möglich gemacht werden, ihre Finanzen wieder herzustellen unter Verbannung der großen Missbräuche, die sich während der so langen Tyrannei gebieterischer Umstände als unumgängliche Maßregeln aufgedrängt haben.

Ein guter Entwurf der Grundlage einer solchen Konvention, in welcher jeder Staat mit Rücksicht auf Volksmasse, Flächeninhalt, Ausdehnung seiner Grenzen und dergleichen mehr bedacht wäre, würde ein statistisch, politisches Meisterstück sein. Man müsste freien Spielraum bis zu einem gewissen nicht zu übers schreitenden Maximum lassen.

Es steht in den Händen von Franz, Alexander und Friedrich Wilhelm der Welt diese nicht zu berechnende Wohltat bei dem Frieden sichern.

Napoleon 1769-1821 & Alexander I. 1777-1825.

Napoleon 1769-1821 & Alexander I. 1777-1825.

Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin.

Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin.

Carl Ludwig Friedrich Herzog von Mecklenburg-Strelitz 1741-1816.

Carl Ludwig Friedrich Herzog von Mecklenburg-Strelitz 1741-1816.

Louis Nicolas Davout (Davoust) Marschall von Frankreich Führer des I. französichen Armeekorps 1770-1823.

Louis Nicolas Davout (Davoust) Marschall von Frankreich Führer des I. französichen Armeekorps 1770-1823.

Generalmajor von Fallois, Führer des mecklenburgischen Regiments im russischen Feldzuge 1812.

Generalmajor von Fallois, Führer des mecklenburgischen Regiments im russischen Feldzuge 1812.

Friedrich Ludwig Erbprinz von Mecklenburg-Schwerin.

Friedrich Ludwig Erbprinz von Mecklenburg-Schwerin.

Napoleon Bonaparte I. Kaiser der Franzosen 1769-1821.

Napoleon Bonaparte I. Kaiser der Franzosen 1769-1821.

Friedrich Wilhelm III. König von Preußen (1770-1840)

Friedrich Wilhelm III. König von Preußen (1770-1840)

Pommersches National-Kavallerie-Regiment. Preußen.

Pommersches National-Kavallerie-Regiment. Preußen.

Blücher, Gemälde von Gebauer (Hohenzollernmuseum)

Blücher, Gemälde von Gebauer (Hohenzollernmuseum)