Warum muss man heizen?

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Raoul H. Francé, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Energie, Heizen, Heizung, Wärme, Temperatur, Frost, Jahresdurchschnittstemperatur
Da es nun einmal so eingerichtet ist, dass man von den am nächsten liegenden Dingen am wenigsten weiß, ist es wohl nicht überflüssig, die im Titel aufgeworfene Frage einmal öffentlich zu beantworten. Denn die Antwort, wir Heizen, um nicht zu erfrieren, ist so unzulänglich, dass sicher die meisten schon stocken, bevor sie sie aussprechen. Die Rehe im Walde und die Hasen im Felde erfrieren ja im Winter auch nicht. Dieses Schicksal aber würde uns bevorstehen, auch wenn wir ein Rehfell umhätten oder uns in Hasenpelz kleiden würden.

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Um zu verstehen, worum es sich bei der Frage der Heiznotwendigkeit handelt, muss man sich vor allem klarmachen, was die durch das Heizen angestrebte Wärme eigentlich ist. Die Beantwortung fällt der Wissenschaft noch immer nicht leicht. Am ehesten macht sie sich durch die bildhafte Erklärung verständlich, dass alle Substanzen aus überaus kleinen Teilen, Molekülen, bestehen, die wie die Gestirne des Himmels sich in gesetzmäßiger Weise gegeneinander bewegen. Die Geschwindigkeit dieser Bewegung ist es nun, was man als Temperatur bezeichnen kann. Sehr langsame Bewegung entspricht der Kälte, eine Beschleunigung dem Wärmerwerden.

Soweit wäre alles klar und leicht verständlich. Leben bedarf einer gewissen Temperatur, und ohne die Wärme der Sonne oder eines künstlichen Sonnenersatzes muss es in jedem Sinn erstarren.

Die Schwierigkeit des Verstehens liegt in etwas ganz Anderem. Wenn die Sache so einfach wäre, dann müsste mit dem ersten Frost alles, was nicht seinen Ofen und das dazugehörige Feuerungsmaterial besitzt, in Todesstarre versinken und — wenn es gut geht — darin verbleiben, bis die Wiederkehr der Sonnenwärme den Starrkrampf löst. Aber wir sahen gerade in den Eingangszeilen dieser Betrachtung, dass Wal und Hase sich wenig um Frost und Winterstarre scheren, und ein Gang durch die winterliche Natur zeigt im Nu hundert Beispiele, zeigt, dass Flechten und Moose auf den Bäumen und Steinen, dass die kleinen schwarzen Schneeflöhe auf der Oberfläche hartgefrorener Schneedecken, dass die Bäume im Walde alle ohne Heizung und Schutz dem Frost trotzen, dass also zum mindesten zwischen Leben und Leben in diesem Punkte die erheblichsten Unterschiede bestehen. Denn die armen kleinen Eidechsen, die bei uns kümmerlich genug leben, werden schon unbeweglich, wenn im August ein kühlerer Sommertag die Fluren erquickt, die Libellen am Rande der Flüsse sind an manchem bedeckten Herbsttag so kältestarr, dass man sie mit Händen greifen kann, und Papageien zittern vor Kälte bei uns oft genug selbst im geheizten Zimmer.

Jetzt erst wird das eigentliche Problem, das hinter der ganzen Frage steckt, sichtbar. Jede Tier- und Pflanzenart hat ein anderes Verhältnis zur Wärme. Wie ist das unsere geregelt? Und warum sind diese Unterschiede?

Wer das beantworten kann, der hat die richtige Antwort auf die Frage gefunden, warum wir Heizen müssen. Wir befinden uns in Europa nicht in einem Klima, das der Organisation des menschlichen Körpers ganz entspricht. Jede Art von Lebewesen ist darin von eigener Beschaffenheit und wahrt gerade in dieser Hinsicht seine Natur mit einer erstaunlichen Konsequenz und Beständigkeit. Am besten kann man das an jenen Formen studieren, denen die freie Körperbeweglichkeit versagt ist, also etwa an den Pflanzen oder Korallen. An diesen kann man erkennen, dass schon ganz geringfügige klimatische Schwankungen, wenn sie nur dauernder Natur sind, ihren Verbreitungsbezirk einschränken. Danach konnte man zum Beispiel für jede Pflanzenart den Jahresdurchschnitt der Temperatur berechnen, dem sie angepasst ist. Von den Palmen weiß man, dass sie wildwachsend und früchtereifend nur dort vorkommen, wo die Jahrestemperatur durchschnittlich mindestens 15 Grad Celsius beträgt. Obst reift nur in den Landstrichen, welche wenigstens 7 Grad Celsius Jahresdurchschnitt besitzen. Der Haselstrauch erstreckt sich nur in Gebiete, welche wärmer als 4,5 Grad Celsius im Jahre sind. Wein reift nur unter einem Klima von durchschnittlich 9 Grad Celsius. Korallen leben auf der ganzen Erde riffebildend nur in den Meeren, deren Temperatur nicht unter 20 Grad Celsius sinkt. Und so könnte man bei genügend genauer Kenntnis der Lebensverhältnisse für jedes Lebewesen den klimatisch genau umzirkten Kreis angeben, an den es angepaßt ist.

Für den Menschen ist nun diese Arbeit — so merkwürdig das auch klingt — noch nicht geleistet. Man kann ohne die tausendfachen, peinlich genauen Beobachtungen, die dieser Bestimmung vorausgehen müssten, nur annähernd schätzen, welches Temperaturminimum seiner „Lebensgrenze“ entspricht. Es ist so ziemlich die jedermann aus eigenem Erleben wohlbekannte „Badegrenze“, jene 14 bis 16 Grad Celsius Luft- und Wassertemperatur, die für die meisten Menschen etwa das Erträgliche bedeuten, was sie im Luft- oder Flussbad noch auf sich nehmen wollen oder können. Ein Flussbad von 14 Grad Celsius kann, die nötige Abhärtung vorausgesetzt, noch als angenehm empfunden werden, kälteres Wasser aber schadet den meisten. Eine Zimmertemperatur gleichen Grades erscheint noch wohlig und zu dauerndem Aufenthalt geeignet; eine Stube, welche andauernd unter dieser Grenze „erwärmt“ ist, wird als unangenehm, schließlich als unerträglich empfunden.

Der Mensch fühlt sich also dauernd eigentlich nur in einem „Palmenklima“ wohl und sucht überall dort, wo ihm die Natur nicht ein solches bietet, es sich durch künstliche Mittel zu verschaffen. Bei geringeren Abweichungen greift er zur warmen Kleidung; sinkt aber die Temperatur einmal um etwa 10 bis 15 Grad unter sein „natürliches Minimum“, dann hilft ihm auf die Dauer nur künstliche Lufterwärmung.

Dies ist etwa die Antwort, welche man heute auf die Frage, warum man Heizen muss, geben kann. Die Menschheit hat zum großen Teil ihren natürlichen Verbreitungsbezirk verlassen; sie lebt in den Gegenden nördlich von Griechenland, Neapel und Rom unter unnatürlichen Verhältnissen, daher muss sie sich dort mit großen Kosten in den Monaten ein künstliches „Menschenklima“ schaffen, in denen der Tagesdurchschnitt unter das Erträgliche sinkt.

Diese Antwort ist nicht allein interessant, sondern auch bedeutsam in einer anderen Hinsicht. Von jeher wurde das Denken von der Streitfrage gefesselt, wo die eigentliche Urheimat des Menschengeschlechtes zu suchen sei und man hat gerade in neuerer Zeit mit großer Bestimmtheit behauptet, dass der Mensch nur ein Geschöpf des Nordens sein könne.

Dem widerspricht der obige Gedankengang und das ihm zugrunde liegende Erleben vollständig. Der Mensch könnte unmöglich ein so hohes Wärmebedürfnis besitzen, wenn er wirklich zwischen Spitzbergen und Schweden entstanden wäre, wie die Anhänger seiner polaren Urheimat behaupten; er hätte dann die Anpassungen und das Naturell eines Eisbären oder einer Robbe, nicht aber die zarte, leicht schaudernde Haut seines Geschlechts und die stete natürliche Sehnsucht nach Süden, Sonne und einer ihm verloren gegangenen Heimat, die als Paradies in der Erinnerung aller Völker hängt. Wer weiß, ob einmal diese Sehnsucht nicht so übermächtig wird, dass sie gleichsam wie eine „große Vernunft des Leibes“ den dagegen protestierenden kleinen bewussten Verstand überredet und die Menschheit Europas neuerdings den Weg nach Süden zurückfindet. In den fruchtbaren, bewässerten und gesunden Teilen der subtropischen Länder hätten reichlich tausend Millionen Menschen Lebensraum, während heute auf ihnen noch keine hundert Millionen Glücklicher leben, die auf die Frage, warum wir Heizen müssen, nur die verwunderte Antwort haben: Wir haben niemals Heizen müssen, denn unser Winter ist wie euer Mai.

Klima, Wetter, Im Schneetreiben

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Regenwetter

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Winter, Fröhliches Getümmel auf dem Müggelsee bei Berlin-Friedrichshagen

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Winterabend im Hochland

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