Abschnitt 2

Zwischen Spreewald und Wendischer Spree


Eine Osterfahrt in das Land Beeskow-Storkow


3. Groß Rietz


»Nicht in dem geringsten. Es handelt sich bei diesem Anno 93 um nichts mehr und nichts weniger als um die pieskowsche Glocke, von der eine alte Prophezeiung sagte: ›Solange die klingt, so lange dauert der Löschebranden Glück.‹ Und die Prophezeiung hielt auch Wort und die Löschebrands waren nicht bloß die Herren hier um den Schermützel herum, sie waren auch große Herren überhaupt und galten bei Hof und waren versippt und verschwägert mit allem, was reich und vornehm im Lande war. Ihr Liebstes aber war der ›Dienst‹, und weil es immer schöne, stattliche Leute waren, so waren ihnen auch die schönsten und stattlichsten Regimenter immer nur gerade gut genug, und alles, was als Löschebrand in der saarow-pieskowschen Taufliste stand, stand zwanzig Jahre später in der Rangliste der Garde du Corps und Gensdarmes. Es waren echte Junkers, eigensinnig und hochmütig, und ließen die Leute reden, und trotzdem sie nach Sitte jener Zeit über ihre Mittel hinaus lebten und eine wunderliche Wirtschaft führten, erhielten sie sich doch in einem guten und zuletzt wenigstens in einem leidlichen Vermögenszustande, weil sich in alten Familien immer wieder was zusammenerbt.«

»Aber freilich...«

»... Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und als Pfingsten 93 kam und am Abend vorher das Fest eingeläutet werden sollte, da klapperte die Glocke, die beim Volke seit lange nur ›der Löschebranden Glück‹ hieß und sieben Menschenalter lang über den Schermützel hin geklungen hatte. Das gab nun ein Kopfschütteln im Dorf und allerlei Sorg und Furcht im Schloß, aber Sorg und Furcht konnte den Spuk nicht bannen, und obwohlen der alte Gottlob Ernst von Löschebrand, der erst Anno 19 starb und den ich selber noch gekannt habe, die Glocke mit sechs Pferden und einer schwarzen Decke darüber (als ob es ein Leichenzug wäre) nach Berlin fahren und einen frommen Spruch mit eingießen ließ – einen frommen Spruch, an den er nicht recht glaubte –, so war es doch von dem Tag an vorbei mit der ›Löschebranden Glück‹ und ist seitdem auch nicht mehr aufgekommen.«

All die Zeit über war mir der Neufundländer unausgesetzt zur Seite gewesen und nur ein paarmal bis an den Wagen vorgesprungen, um nach Irme zu sehn. Der Emeritus aber öffnete mir immer mehr das Schatzkästlein seiner Erinnerungen, und als er hörte, daß ich zunächst nach Groß Rietz wollte, riet er mir, bei seinem alten Freunde, dem Kantor, vorzusprechen und ihm Grüße zu bringen, »der werde mir mit Rat und Tat behilflich sein und mir zeigen, was zu zeigen sei«.

Dabei waren wir aus dem Walde heraus und bis in die Front eines etwas zurück gelegenen und hinter Efeu halb versteckten Steinhäuschens gekommen, über dessen Heckenzaun fort ein kleiner Pfirsichbaum blühte.

»Wie schön«, sagt ich. »Wem gehört dies Idyll an der Heerstraße?«

Der Alte lächelte vor sich hin. »Es wird wohl das des alten Emeritus sein.« Und wirklich, es war es.

Eine Minute später schritten Großvater und Enkelin auf das Häuschen zu. Der Neufundländer folgte, verstimmt über die zu rasch abgebrochene Bekanntschaft. Irme drehte sich noch einmal um und nickte; dann verschwanden alle drei hinter dem Heckenzaun, und Moll und ich waren wieder allein.

»Er ist auch nur arm«, sagte mein Philosoph in ernster Betrachtung. »Und dabei neunundsiebzig. Es is doch eigentlich eine traurige Geschichte.«

»Warum? Er sah ja nicht traurig aus. Ganz und gar nicht. Aber Sie sind ein Mammonsjäger, Moll; Ihr drittes Wort ist immer Geld, und da kann ich schließlich nicht mehr mit. Ich hab Ihnen heute früh recht gegeben, aber Sie gehen ja viel zu weit und vergessen, daß ein Unterschied ist zwischen Pauvresein und Armsein. Armsein ist nicht so schlimm. Achten Sie mal darauf, immer die, denen das Leben das Leben schwer macht das sind die Tüchtigsten und Klügsten. War nicht die pieskowsche Wirtin eine kluge Frau?«

»Ja, ja.«

»Nun sehen Sie, so viel Schneid ist immer nur bei der Armut. Die Not lehrt beten, sagt das Sprüchwort, aber sie lehrt auch denken, und wer immer satt ist, der betet nicht viel und denkt nicht viel.«

»Ich bin aber doch lieber satt.«

»Ehrlich gestanden, ich auch. Darin stimmen wir nun wieder zusammen. Aber es ist doch auch was mit der Armut, oder wenn man so will, sie hat auch ihre Vorzüge.«

»Man bloß nich viele...«

»Nein, viele nicht. Aber doch welche. Sehen Sie, Sie haben viel gelesen und sind eigentlich, wenn es nicht grad Ihre schwache Stelle trifft (Sie wissen schon, welche), für einen gebildeten Fortschritt. Und nun frag ich Sie, wo säßen wir noch und wo wären wir noch, wenn es keine Not in der Welt gäbe. Die Not ist der große Treiber oder der eigentliche ›Motor‹, wie manche sagen, und daß ich hier jetzt mit Ihnen herumkutschiere trotz Ostwind und dieser Stichsonne (fühlen Sie mal, wie mir die Haut schon abschülbert), ist eigentlich auch bloß aus Not.«

»I nu ja, man kann es auch so sagen. Aber ich bin doch mehr fürs Amöne. Sehen Sie den hübschen Turm da vor uns? Das ist Groß Rietz; da kann man doch wieder ein Glas Bier kriegen und ein Rührei mit Schinken.«

»Und da finden wir auch was in Schloß oder Kirche. Ja, Sie lachen, Moll, und denken: ›Ach, das sagt er schon den ganzen Tag‹; aber Sie sollen sehen, hier gibt es was. In Groß Rietz nämlich hat der Minister Wöllner gewohnt, freilich erst, als er in Ungnade gefallen war, und ist auch bald nachher gestorben. Wer in Ungnade fällt, heißt es, der lebt nicht mehr lange. Nu, mir könnt es nicht passieren; In-Ungnade-Fallen und Pensioniertwerden ist eigentlich immer mein Ideal gewesen. Aber der eine denkt so und der andre so... Haben Sie schon mal von dem Minister Wöllner gehört?«

»Nein. Wer war er denn? Ich habe bloß noch von die Manteuffels gehört. Und einer hieß der kleine Manteuffel. Es muß also wohl schon vorher gewesen sein.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 4. Teil