Abschnitt 2

Tante Amelie.


Sie blieb also, blieb und huldigte, ohne ihres Bleibens und ihrer Huldigungen noch recht froh zu werden. Die glücklichen Tage lagen eben zurück. Alles war verändert, nicht nur der Hof, auch der Prinz. Seine Mißstimmungen wuchsen. Die staatlichen Interessen, so viele Jahre zurückgedrängt, traten wieder in den Vordergrund und beunruhigten ihn. Namentlich von dem Augenblick an, wo sich in Paris erkennbar die Gewitter zusammenzogen. Vor seinem großen, nun heimgegangenen Bruder, so wenig er ihn geliebt, so viel er ihn bekrittelt hatte, hatte er doch schließlich allem Besserwissen zum Trotz einen tiefgehenden, ganz ungeheuchelten Respekt empfunden; nichts davon flößten ihm die neuen Verhältnisse ein, noch weniger die Personen. Die Weiberherrschaft, weil alles Feinen und Geistigen entkleidet, war ihm ein Greuel, und unserer Gräfin huldvoll die Hand küssend, sagte er, als der Name der Madame Rietz in seiner Gegenwart genannt wurde: „Je la déteste de tout mon coeur; mes attentions, comme vous savez bien, appartiennent aux dames, mais jamais aux femmes.“


Dies waren Äußerungen besonderen Vertrauens; nichtsdestoweniger überkam die Gräfin das Gefühl, daß ihre Rheinsberger Tage gezählt seien. Sie sehnte sich nicht fort, aber sie bereitete sich in ihrem Herzen darauf vor. Und der Augenblick kam eher, als sie erwartet. Anno 1789 war der Graf auf kurzen Urlaub zurück. Er erkrankte, von einem Schlaganfall getroffen, im Vorzimmer des Königs; am anderen Tage war er tot. Die Nachricht davon erschütterte die Witwe mehr, als diejenigen, die ihre Ehe kannten, erwartet hatten; sie wurde sich jetzt bewußt, in Hochmut und Caprice nicht seine Liebe, aber den Wert seiner edelmännischen Gesinnung unterschätzt zu haben. Sein Testament, das aufs neue ein vollkommener Ausdruck dieser Gesinnung war, konnte die Vorstellung ihres Unrechts, so frei sie ihrer ganzen Natur nach von sentimentaler Reue blieb, nur steigern. Schloß Guse, das, aus freier Hand erstanden, nicht zu den Familiengütern zählte, war der Gräfin samt einem bedeutenden Barvermögen zugeschrieben worden. Sie beschloß, ihr Erbe anzutreten und die Verwaltung des Gutes selbst in die Hand zu nehmen. Nur noch den Winter über wollte sie am Rheinsberger Hofe verweilen; bei Ablauf desselben schied sie nicht ohne Bewegung von dem Prinzen, der ihr neben andern Souvenirs ein eigens gedichtetes Akrostichon überreicht hatte.

Am Osterheiligabend 1790 traf sie in Schloß Guse ein.

Das Schloß konnte zunächst nur den allerunwohnlichsten Eindruck machen. Die Administrationsjahre hatten es, einige wenige Räume abgerechnet, in eine Art Korn- und Futtermagazin umgewandelt; Raps und Weizen lagen aufgeschüttet in den Zimmern, während Heu- und Strohmassen die Korridore füllten. Am störendsten wirkte der ganze linke Flügel, aus dessen zerbröckelten Dielen überall die Pilze hervorwuchsen. Alte Bilder aus der Derfflingerzeit, stockfleckig und eingerissen, die meisten ohne Rahmen, hingen schief und vereinzelt an den Wänden und mehrten nur den Eindruck des Verfalls.

Die Gräfin indessen ließ sich durch den Anblick dieser Unbilden und Schädigungen, die das Schloß erfahren hatte, nicht beirren; im Gegenteil, die Aussicht auf Tätigkeit, die sich für sie eröffnete, hatte für ihre energische Natur einen Reiz. Sie bezog zwei kleine Zimmer im ersten Stock, die von der allgemeinen Zerstörung am wenigsten gelitten, zugleich auch eine gute Luft und einen freien Blick auf den schönen Park hatten. Von hier aus mit allen Handwerkern der nächsten Ortschaften, bald auch mit ihr bekannten hauptstädtischen Künstlern in Verbindung tretend, leitete sie den inneren Um- und Ausbau, der, soweit überhaupt beabsichtigt, in verhältnismäßig kurzer Zeit beendigt war. Am 31. Dezember 1790 zog sie, abergläubisch und tagewählerisch, wie sie war, in die neuen Räume ein, den Silvestertag jedes Jahres, aus allerhand heidnisch-philosophischen Gründen, in denen sich Tiefsinn und Unsinn paarte, zu den ausgesprochenen Glückstagen zählend.

Die neuen Räume lagen sämtlich auf der rechten Seite und bestanden aus einem Billard-, einem Spiegel- oder Blumen- und einem Empfangszimmer, woran sich dann, in den entsprechenden Seitenflügel übergehend, der Speisesaal und das Theater schlossen. Denn ohne Vorhang und Kulissen konnten sich Personen, die aus der Schule des Rheinsberger Prinzen kamen, eine behagliche Lebensmöglichkeit nicht wohl vorstellen. Die ganze linke Hälfte des Schlosses, von Lüftung der Räume und Beiseiteschaffung alles Ungehörigen abgesehen, hatte baulich keine Veränderungen erfahren, während die große zwischen beiden Hälften gelegene Flurhalle zum Stapelplatz für alle Derfflingerreminiszenzen gemacht worden war. Hier befanden sich zwei Falkonetts, zwei ausgestopfte Dragoner mit Glasaugen und die besterhaltenen jener Porträts und Schlachtenbilder, die bis dahin in den Räumen des Schlosses zerstreut gewesen waren. In Front der beiden Dragoner, ziemlich die Mitte der Flurhalle einnehmend, stand ein der Antike nachgebildeter Faun, dessen spöttisches Lachen die beste Kritik alles dessen war, was ihn umstand.

Am folgenden Tage, dem Neujahrstage 1791, gab die Gräfin zur Einweihung der neubezogenen Räume ihre erste Soiree. Der benachbarte Adel war geladen, und Tante Amelie machte die Honneurs ganz auf dem vornehmen Fuße, den ihr ihre Mittel, ihr Geist und die höfische Gewohnheit gestatteten. Alles war entzückt. Wirtin wie Gäste versprachen sich ein anregendes, vielleicht selbst ein freundschaftliches Beieinanderleben; Pläne wurden entworfen; die Zukunft erschien als eine lange Reihe von musikalisch-deklamatorischen Matineen, von L’hombre-Partien und Aufführungen französischer Komödien.

Aber es kam anders.

Schon vor Ablauf des Jahres mußten sich beide Parteien überzeugen, daß man nicht füreinander passe; die Gräfin war zu klug, der Nachbaradel nicht klug genug. Besonders die Frauen. Ihr Französisch (nur noch übertroffen durch ihr Deutsch), die geheuchelten literarischen Interessen, das beständige Sprechen über Dinge, die ihnen ebenso unbekannt wie gleichgiltig waren, mußten den feinen Sinn einer Dame verletzen, die zwischen dem persönlichen Umgang mit einem Prinzen und dem geistigen Verkehr mit hervorragenden Geistern ihr Leben geteilt hatte. Nur die Flüchtigkeit erster Begegnungen hatte über diese Verhältnisse täuschen können. Die Gräfin, als sie den Tatbestand überschaute, brach allen Umgang ab und beschränkte sich, ihre Lesepassion wieder aufnehmend, mehrere Jahre lang auf einen allerengsten Kreis, der sich aus ihrem Bruder Berndt auf Hohen-Vietz, aus dem auf Hohen-Ziesar lebenden Grafen Drosselstein und dem dreiundachtzigjährigen Seelower Superintendenten, der schon die Schlacht bei Mollwitz als Feldprediger mitgemacht hatte, zusammensetzte. Ihrem tiefen Bedürfnisse nach Moquerie und Klatsch, dem in diesem frauenlosen Kreise (Berndts Gemahlin schloß sich aus) nur sehr unvollkommen entsprochen wurde, suchte sie durch ein briefliches Geplauder mit dem Prinzen zu Hilfe zu kommen, der, ein Feinschmecker auf dem Gebiete der Chronique scandaleuse, nicht müde wurde, sie zur Fortsetzung einer beiden Teilen gleich gewinnbringenden Korrespondenz zu ermutigen.

Das ging bis 1802, wo der Prinz starb. Erst nach dieser Zeit empfand sie wieder den Hang, aus ihrer Einsamkeit, die ganz und gar gegen ihre Natur und ihr durch die Verhältnisse nur aufgezwungen war, herauszutreten. Und so geschah es. Die Frauen, gegen die sie, mit den Jahren sich steigernd, eine fast zur Manie gewordene Abneigung hegte, blieben nach wie vor ausgeschlossen; aber den kleinen Männerkreis, der bis dahin ihren Umgang gebildet hatte, suchte sie zu erweitern. Der Wechsel im Besitz auf mehreren der ihr benachbarten Güter bot dazu eine bequeme Gelegenheit, und jener Gesellschaftszirkel begann sich zu bilden, der schon ein Jahrzehnt vor Beginn unserer Erzählung zu allerhand kritischen Bemerkungen von seiten ihres Bruders Berndt, zugleich aber auch zu dem Verteidigungskonklusum der Gräfin: „Tous les genres sont bons, hors l’ennuyeux“ geführt hatte.

„Gut“, hatte Berndt geantwortet, „aber dann erfülle auch die Bedingung. Du wirst doch nicht den Kammerherrn von Medewitz als ?hors l’ennuyeux? bezeichnen wollen?“

„Doch“, hatte die Schwester repliziert und eine Unterredung abgebrochen, in der beide Geschwister, jeder von seinem Standpunkte aus, im Rechte waren. Die Gräfin, selbstisch in all ihrem Tun, verfuhr nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten, sondern nach allerpersönlichstem Geschmack. Ihr Umgangskreis, den Berndt ziemlich spitz als „allerlei Freunde“ bezeichnete, war nicht darnach gewählt worden, ob er anderen, sondern lediglich darnach, ob er ihr gefiele. Was sie am meisten verachtete, waren herkömmliche Anschauungen; ihre Laune war souverän. Wer ihr ein Lächeln abnötigte, ihr Gelegenheit zu einem Sarkasmus bot, war ihr ebenso unterhaltlich als derjenige, der ihr eine Fülle von Esprit, einen Schatz von Anekdoten entgegenbrachte. Nur die unausgesprochenen Menschen waren ihr interesselos, während alles Aparte, gleichviel, ob es nach der Beschränktheits- oder Klugheitsseite hin lag, einen prickelnden Reiz für sie hatte.

Sehen wir im folgenden Kapitel des näheren, welcher Art diese „allerlei Freunde“ von Schloß Guse waren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm