Abschnitt 1

Schulze Kniehase.


Dem Kruge gegenüber lag der Schulzenhof. Er bestand aus einem Ziegeldachhaus, an das sich nach rückwärts zwei lange, schmale Stallgebäude anlehnten, die durch eine Scheune miteinander verbunden waren. Ein hinter dieser Scheune gelegenes, mit Obstbäumen und Himbeersträuchern besetztes Ackerstück streckte wieder zwei schmale Blumenstreifen bis dicht an die Dorfstraße vor, so daß in Sommerszeit, wenn man vom Kirchhügel aus auf das Schulzengehöft herniedersah, alles einem großen Garten glich, der Haus und Hof wie zwischen zwei ausgebreiteten Armen hielt. Selbst Miekleys Mühle war dann nicht freundlicher. Bis unter das Dach blühten die Malven, die Bienen summten um den Stock, die Trauben hingen am Spalier, während sich von dem alten, rechts an der Hoftür wachestehenden Birnbaum von Zeit zu Zeit die schweren Früchte lösten und mit Geklatsch auf die Schwellsteine niederfielen. Von den Insassen des Hauses achtete niemand dieses Tones; nur ein Mädchen, das auf der vorgebauten Steintreppe des Hauses unter einem Gerank von Flieder und Geißblatt saß, sah einen Augenblick horchend auf, ehe es fortfuhr das Garn zu wickeln oder die Naht zu säumen.


So war es im Spätsommer. Aber auch im Winter bot der Schulzenhof ein freundliches Bild, auch heute am zweiten Weihnachtsfeiertage. Auf dem Hofe war der Schnee zusammengeschippt, so daß er eine Mauer bildete; die Stalltüren standen auf, aus denen die warme Luft wie ein Nebel ins Freie zog. An der Schwelle saßen Sperlinge und pickten einzelne Körner auf. Sonst alles still; auch der Hofhund feierte. In einer der Ecken zwischen Stall und Scheune stand seine Hütte; etwas von seinem Lagerstroh hatte er vor die Öffnung geschoben, und auf diesem Kissen lag nun sein spitzer Wolfskopf und sah behaglich in den Morgen hinein.

Und still und festtäglich wie draußen auf dem Hofe, so war auch das Haus. Schon seine Treppe war mit Sand bestreut; in den Ecken der Vordiele standen junge Kiefern und füllten die Luft mit ihrem Harzgeruch; an einem Haken in der Mitte des Flurs aber hing ein Mistelbusch. Die Wohnstuben waren schon geheizt und die Kamintüren geschlossen; nur zur Rechten, wo das große Besuchszimmer lag, knisterte noch ein Feuer und warf seinen Schein. Eine Katze strich ihre Flanken an den warmen Ecken, schnurrend mit gekrümmtem Rücken, zum Zeichen ihres besonderen Behagens.

In dem vordersten Wohnzimmer, um einen schweren Eichentisch herum, befanden sich drei Personen. Dem Fenster zunächst, und diesem den Rücken zukehrend, saß ein breitschultriger Mann, ein Fünfziger. Sein Gesicht drückte Kraft, Festigkeit und Wohlwollen aus. Spärliches, blondes Haar legte sich an seine Scheitel, er war sonntäglich gekleidet und trug einen langen, schwarzbraunen Rock. Die Frau zu seiner Linken, trotz ihrer Vierzig, war noch hübsch, von dunklem Teint und wendisch gekleidet. Ein breiter Kragen fiel über ihr Mieder von schwarzem Tuch, und der kurze Friesrock war in hundert Falten gelegt. Unter der engen Tüllmütze versteckte sich nur halb das glänzend schwarze Haar. Aller Schmuck war silbern. Um den Hals schlang sich eine starke, vorn auf der Brust durch einen Schieber zusammengehaltene Kette; die Ohrgehänge glichen großen, silbernen Tropfen.

Dies war das Schulze Kniehasesche Paar. Dem Alten gegenüber, im vollen Fensterlicht, saß die Tochter des Hauses, Maria, ebenso aufrecht wie Tages zuvor am Kamin des Herrenhauses. Sie trug dasselbe Taftkleid, dasselbe rote Band im Haar; und mit derselben Aufmerksamkeit, mit der sie gestern den Erzählungen Lewins gefolgt war, folgte sie heute der Vorlesung ihres Vaters, der zuerst das Weihnachtsevangelium, dann das 8. Kapitel aus dem Propheten Daniel las. Der alte Kniehase hatte dies Kapitel mit gutem Vorbedachte gewählt. Mariens Hände lagen still in ihrem Schoß. Und als die Stelle kam: „Und nach diesem wird aufkommen ein frecher und tückischer König, der wird mächtig sein, doch nicht durch seine Kraft, und nur durch seine List wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich auflehnen wider den Fürsten aller Fürsten; aber er wird ohne Hand zerbrochen werden“ – da wurden ihre Augen größer, wie sie es bei der Erzählung von dem Feuerschein im Schlosse zu Stockholm geworden waren, denn, erregbaren Sinnes, nahm jegliches, wovon sie hörte, lebendige Gestalt an. Sonst blieb alles in gleichem Schlag. Das Rotkehlchen, mit leisem Gezirp, hüpfte aus dem Ring auf die Sprossen und wieder von den Sprossen in den Ring; in gleichmäßigem Takt ging der Pendel der Gehäuseuhr. Und so ging auch des Schulzen Kniehase Herz.

Kniehase war ein „Pfälzer“. Wie kam er in dieses Wendendorf? Und wie war er Schulze dieses Dorfes geworden?

Um dieselbe Zeit, als die Scharwenkas mit anderen tschechischen Familien von Böhmen her übersiedelten, wanderten die Kniehases mit rheinischen Familien ein. Das war um 1750, als Friedrich der Große zur Trockenlegung der Sumpfstrecken des Oderbruches und zu ihrer Kolonisierung schritt. Die tschechischen Familien, weil ihrer nur wenig waren, fanden in den altwendischen Dörfern ein Unterkommen, und so kamen die Scharwenkas nach Hohen-Vietz. Die rheinischen Kolonistenfamilien aber, die, ohne Rücksicht darauf, ob sie aus dem Cleveschen oder Siegenschen, aus Nassau oder der Pfalz stammten, sämtlich „Pfälzer“ genannt wurden (etwa wie in Irland alle Herübergekommenen »Sachsen« heißen), gründeten eigene Dörfer, unter denen Neu-Barnim das größte war. In diesem Dorfe wurde unser Kniehase geboren, und zwar am Tage des Hubertusburger Friedens. Der Vater schloß daraus, daß der Sohn ein Prediger werden müsse, und ließ ihn nach den bescheidenen Mitteln, die sich darboten, etwas Tüchtiges lernen. Aber der junge Kniehase war weitab davon, ein Mann des Friedens werden zu wollen; nur das Soldatische hatte Reiz für ihn und mit zwanzig Jahren schon, nachdem er den Widerstand des Vaters unschwer besiegt, trat er in die Grenadierkompanie des Regiments Möllendorf ein, das damals zu Berlin in Garnison stand. Der Dienst, trotz aller Strenge, gefiel ihm wohl, und schon 1792, bei Ausbruch der Rheinkampagne, war er unter den Fahnenunteroffizieren des Regiments. Bei Valmy erhielt er ein Ehrenzeichen, bei Kaiserslautern ein zweites. Das kam so. Die Kompanie von Thadden sah sich gezwungen, eine Hügelstellung zu räumen, auf der sie sich seit Beginn des Kampfes behauptet hatte; feindliche Artillerie fuhr auf und beherrschte jetzt das abgeschrägte, wohl 1500 Schritt breite Terrain, auf dem die zurückgehende Kompanie, zum Teil in bloße Trupps aufgelöst, ihren Rückzug bewerkstelligte. In Mittelhöhe des Abhanges lag ein durch einen Schenkelschuß verwundeter Gefreiter und beschwor seine Kameraden, ihn nicht liegen zu lassen. Einige hielten inne; aber das Kartätschenfeuer brach wieder den guten Willen; auch den Tapfersten versagte der Mut. Da sprang Unteroffizier Kniehase vor, lief eine Strecke zurück, lud den Verwundeten auf die Schulter und trug ihn aus dem Feuer. Stabskapitän von Thadden, als die Kompanie sich wieder sammelte, trat an Kniehase heran und schüttelte ihm die Hand; die Grenadiere aber brachen in Jubel aus und nahmen eine halbe Stunde später die verlorengegangene Höhenstellung wieder.

Dieser Tag führte unseren Kniehase, wenn nicht gleich, so doch im regelrechten Lauf der Ereignisse, nach dem alten Wendendorfe, dessen Obrigkeit er jetzt bildete. Denn der Gefreite, den er so mutig aus dem feindlichen Feuer getragen hatte, war niemand anderes als unser Freund aus dem Hohen-Vietzer Kruge her: Peter Kümmeritz. Invalide geworden, erhielt er seinen Abschied; zwei Jahre später aber kam der Frieden, und die ganze Rheinarmee kehrte in ihre Garnisonen zurück. Mit ihr das Regiment Möllendorf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm