Abschnitt 2

Prediger Seidentopf.


Innerhalb der Kirche, wie Uhlenhorst sagte, ein Halber, ein Lauwarmer, hatte er, sobald es sich um Urnen und Totentöpfe handelte, die Dogmenstrenge eines Großinquisitors. Er duldete keine Kompromisse, und als erstes und letztes Resultat aller seiner Forschungen stand für ihn unwandelbar fest, daß die Mark Brandenburg nicht nur von Uranfang ein deutsches Land gewesen, sondern auch durch alle Jahrhunderte hin geblieben sei. Die wendische Invasion habe nur den Charakter einer Sturzwelle gehabt, durch die oberflächlich das eine oder andere geändert, dieser oder jener Name slawisiert worden sei. Aber nichts weiter. In der Bevölkerung, wie durch die Sagen von Fricke und Wotan bewiesen werde, habe deutsche Sitte und Sage fortgelebt; am wenigsten seien die Wenden, wie so oft behauptet werde, in die Tiefen der Erde eingedrungen. Ihre sogenannten „Wendenkirchhöfe“, ihre Totentöpfe niedrigeren Grades wollte er ihnen zugestehen, alles andere aber, was sich mit instinktiver Vermeidung des Oberflächlichen eingebohrt und eingegraben habe, alles, was zugleich Kultur und Kultus ausdrücke, sei so gewiß germanisch, wie Teut selber ein Deutscher gewesen sei. Um diese Sätze drehte sich für ihn jede Debatte von Bedeutung. Er war sich bewußt, in seinem archäologischen Museum durchaus unanfechtbare Belege für sein System in Händen zu haben, unterschied aber doch zwischen einem kleinen und einem großen Beweis. Der kleine war ihm persönlich der liebere, weil er der feinere war; er kannte jedoch die Welt genugsam, um dem blöden Sinn der Masse gegenüber je nach einem andern als nach dem großen Beweis zu greifen. Die Stücke, die diesen bildeten, befanden sich sämtlich in den zwei großen Glasschränken des Arcus triumphalis, waren jedoch selbst wieder in unwiderlegliche und ganz unwiderlegliche geteilt, von denen nur die letzteren die Inschrift führten: »Ultima ratio Semnonum«. Es waren zehn oder zwölf Sachen, alle numeriert, zugleich mit Zetteln beklebt, die Zitate aus Tacitus enthielten. Gleich Nr. 1 war ein Hauptstück, ein bronzenes Wildschweinsbild, auf dessen Zettel die Worte standen: „Insigne superstitionis formas aprorum gestant“, „Ihren Götzenbildern gaben sie (die alten Germanen) die Gestalt wilder Schweine.« Die anderen Nummern wiesen Spangen, Ringe, Brustnadeln, Schwerter auf, woran sich als die Sanspareils und eigentlichen Prachtbeweisstücke der Sammlung drei Münzen aus der Kaiserzeit schlossen, mit den Bildnissen von Nero, Titus und Trajan. Die Trajansmünze trug um das lorbeergekrönte Haupt die Umschrift: „Imp. Caes. Trajano Optimo“, auf dem danebenliegenden Zettel aber hieß es: „Gefunden zu Reitwein, Land Lebus, in einem Totentopf.“ Das „in einem Totentopf“ war dick unterstrichen. Und vom Standpunkte unseres Freundes aus mit vollkommenem Recht. Denn es führte den Beweis, oder sollte ihn wenigstens führen, daß nicht alle Totentöpfe wendisch, vielmehr die „Totentöpfe höherer Ordnung“ ebenfalls deutsch-semnonischen Ursprungs seien.


Auflehnung gegen so beredte Zeugen erschien unserem Seidentopf unmöglich, und dennoch hatte er sie zu befahren, wobei es sich so glücklich oder so unglücklich traf, daß sein heftigster Angreifer und sein ältester Freund ein und dieselbe Person waren. Es sprach für beide, daß ihre Freundschaft unter diesen Kämpfen nicht nur nicht litt, sondern immer wurzelfester wurde; allerdings weniger ein Verdienst unseres Pastors als seines gutgelaunten Antagonisten, der, weltmännisch über der Sache stehend, nicht gewillt war, die Semnonen- und Lutizenfrage unter Drangebung vieljähriger herzlicher Beziehungen durchzufechten. In Wahrheit interessierte ihn die »Urne« erst dann, wenn sie anfing, die moderne Gestalt einer Bowle anzunehmen.

Dieser alte Freund und Gegner war der Justizrat Turgany aus Frankfurt a. O., der, ein Feind aller Prozeßverhandlungen bei trockenem Munde, speziell in dem Prozeß „Lutizii contra Semnones“, manche liebe Flasche ausgestochen hatte, gelegentlich im Pfarrhause zu Hohen-Vietz, am liebsten aber im eigenen Hause, nach dem Grundsatze, daß er über seinen eigenen Weinkeller am unterrichtetsten sei. Schon die Studentenzeit hatte beide Freunde, Mitte der siebziger Jahre, in Göttingen zusammengeführt, wo sie unter der „deutschen Eiche“ Schwüre getauscht und, Klopstocksche Bardengesänge rezitierend, sich dem Vaterlande Hermanns und Thusneldas auf ewig geweiht hatten. Seidentopf war seinem Schwure treu geblieben. Wie damals in den Tagen jugendlicher Begeisterung erschien ihm auch heute noch der Rest der Welt als bloßer Rohstoff für die Durchführung germanisch-sittlicher Mission; Turgany aber hatte seine bei Punsch und Klopstock geleisteten Schwüre längst vergessen, schob alles auf den ersteren und gefiel sich darin, wenigstens scheinbar, den Apostel des Panslawismus zu machen. Die Möglichkeit europäischer Regeneration lag ihm zwischen Don und Dnjepr und noch weiter ostwärts. „Immer“, so hatte er bei seiner letzten Anwesenheit in Hohen-Vietz versichert, „kam die Verjüngung von den Ufern der Wolga, und wieder stehen wir vor solchem Auffrischungsprozeß“; halb scherz-, halb ernsthaft vorgetragene Paradoxien, die von Seidentopf einfach als politische Ketzereien seines Freundes bezeichnet wurden.

Aber dieser Freund war nicht halb so schwarz, wie er sich selber malte. Er debattierte nur nach dem Prinzip von Stahl und Stein; hart gegen hart; das gab dann die Funken, die ihm wichtiger waren als die Sache selbst. Zudem wußte der panslawistische Justizrat, daß Streit und immer wieder in Frage gestellter Sieg längst ein Lebensbedürfnis Seidentopfs geworden waren, und gefiel sich deshalb in seiner Oppositionsrolle mehr noch aus Rücksicht gegen diesen als aus Rücksicht gegen sich selbst.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm