Abschnitt 2

Helpt mi!


Hier überstiegen sie zunächst den Höhenzug, auf dem sie nach links hin den Hohen-Vietzer Kirchturm noch eben erkennen konnten, und sahen sich nun gezwungen, dieselben tausend Schritte wieder zurückzumarschieren, die sie jenseits über das Ziel hinausgeschossen waren. Der Weg, den sie noch zu machen hatten, lief zunächst am Fuße des Hügels, dann aber an einer dichten Schonung hin, von deren vorderstem Eck aus höchstens ein Büchsenschuß bis zum Dorf und kaum halb so weit bis zur großen, von Küstrin auf Hohen-Vietz zu fahrenden Straße war.


Als sie dies Eck erreicht hatten, hörte der Fußpfad auf oder war in der Dunkelheit nicht mehr bestimmt zu erkennen. Sie schwankten noch, ob sie wieder umkehren und den eben aufgegebenen Hügelweg (der sie in den Hohen-Vietzer Park geführt haben würde) fortsetzen oder quer über den verschneiten Sturzacker hin auf die große Straße zuschreiten sollten, als sie zwischen den Bäumen eben dieser Straße verschiedener Gestalten ansichtig wurden. Gleich darauf war es auch, als ob gesprochen, und im nächsten Augenblicke schon, als ob ein heftiger Streit geführt würde. Plattdeutsche Schmäh- und Scheltworte ließen sich unterscheiden, bis es plötzlich über das Feld hin zu ihnen herüberklang: „He wörgt mi; helpt mi, Lüd!“

Lewin, um sich rascher zurechtzufinden, war auf einen großen Feldstein gesprungen, der hier am Waldeck als Grenzzeichen lag, aber schwerlich würd’ er seinen Zweck erreicht haben, wenn nicht in demselben Augenblick der Mond aus dem Gewölk, das ihn seit einer Stunde verdeckt hatte, hervorgetreten wäre. Er sah jetzt alles deutlich.

„Das ist Hoppenmarieken!“ rief er. Zugleich sprang er von dem Steine herunter, riß das Gewehr von der Schulter und schoß den einen Lauf ab, um zu zeigen, daß Hilfe da sei. „Das wird wenigstens eingeschüchtert haben; vorwärts, Tubal!“ Und damit setzten sich beide Freunde quer über das Feld hin in Trab. Lewin stürzte, raffte sich aber schnell auf und war im nächsten Augenblick wieder an Tubals Seite.

Als sie den halben Weg bis zur Straße hinter sich hatten, konnten sie die Szene deutlich erkennen. Einer von den Strolchen war nach dem Dorf zu als Posten aufgestellt, während der andere mit Hoppenmarieken rang und an ihrem Halse riß und zerrte.

„Halt aus!“ rief Lewin, der jetzt einen Vorsprung hatte; aber es bedurfte des Zurufes nicht mehr. Der Straßenräuber ließ von ihr ab und lief, einen weiten Bogen beschreibend, auf dasselbe Wäldchen zu, von dessen entgegengesetztem Eck aus Tubal und Lewin ihren Lauf über den Sturzacker hin begonnen hatten. Der andere, als Posten aufgestellte, verschwand nach der Dorfseite hin.

Als Lewin und dann Tubal den Fahrdamm erreicht hatten, war auch Hoppenmarieken verschwunden. Aber gleich darauf fanden sie dieselbe. Sie lag hinter einem aufgeschichteten Steinhaufen, zwischen diesem und einer Pappelweide, deren oberes Geäst voller Krähennester war. Die Kiepe war noch auf ihrem Rücken, der Stock in ihren Händen.

„Ist sie tot?“ fragte Tubal.

Lewin, ohne sich vom Gegenteil überzeugt zu haben, schüttelte den Kopf, bückte sich zu ihr nieder und zog ihre beiden Arme aus den leinenen Tragebändern heraus. Als er sie so von der Kiepe freigemacht und sich vergewissert hatte, daß es nichts als eine Ohnmacht war, hob er sie vom Boden auf und setzte sie mit dem Rücken an den Baum.

„Gib etwas Schnee“, rief er Tubal zu, während er selber ihr das enge Tuchmieder öffnete, dessen oberste Haken ohnehin bei dem Ringen und Zerren abgerissen waren. Er sah jetzt deutlich an dem rot und blutrünstig gewordenen Hals und Nacken, daß alle Anstrengungen des Strolchs keinen anderen Zweck gehabt hatten, als ihr die Geldtasche zu entreißen, die sie herkömmlich an einem harten und engen Lederriemen um den Hals trug. Der Riemen hatte aber weder reißen noch auch sich über den Kopf fortziehen lassen wollen.

In diesem Momente schlug Hoppenmarieken die Augen auf. Ihr erstes war, daß sie nach der Tasche faßte; dann erst musterte sie die Personen, die um sie beschäftigt waren. Ein ihr sonst nicht eigenes, gutmütiges Lächeln, das mit ihrer Häßlichkeit aussöhnen konnte, flog über ihr Gesicht, als sie Lewin, ihren Liebling, erkannte, den einzigen Menschen, an dem sie wirklich hing. Sie streichelte und patschelte ihn; als aber Tubal auch jetzt noch fortfuhr, ihr in einer ihr lästigen Weise die Stirn mit Schnee zu reiben, wurde sie ungeduldig, stieß ihn zurück und wies mit dem Zeigefinger immer heftiger auf die neben ihr stehende Kiepe. Lewin verstand ihr Gebaren einigermaßen und begann in der Kiepe umherzukramen. Als er, gleich in der obersten Lage, eine mit einem Sacktuche umwickelte Flasche fand, wußte er, was Hoppenmarieken gemeint hatte. Er machte Miene, während er sich über sie bog, etwas von dem Branntwein in seine Hand zu gießen; aber jetzt richtete sich ihr Unmut selbst gegen diesen, und ihm ärgerlich die Flasche aus der Hand reißend, tat sie einen tüchtigen Zug. Sofort hatte sie all ihre Lebenskräfte wieder, drückte den Kork in die Flasche und rief Lewin zu: „Nu helpt mi up, Jungeherr.“ Dann setzte sie die Kiepe auf den Steinhaufen, legte den langen Krummstock daneben und fuhr mit ihren kurzen Armen durch die leinenen Kiepenbänder. So stand sie wieder marschfertig da.

„Willst du nicht mit uns zurück?“ fragte Lewin. „Wir begleiten dich.“

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich nach der entgegengesetzten Seite hin in Marsch, im Selbstgespräch allerhand Unverständliches vor sich hinmurmelnd.

Die Freunde sahen ihr nach. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und drohte mit ihrem Stock nach dem Wäldchen hinüber, in dem der eine der Strolche verschwunden war.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm