Abschnitt 1

„Alles, was fliegen kann, fliege hoch“


Das Nebenzimmer war das Eßzimmer, das von dem Vorrecht aller Speiseräume, kahl und schmucklos sein zu dürfen, den ausgiebigsten Gebrauch machte. Nur zweierlei unterbrach die vorherrschende Nüchternheit: über der nach dem Korridor hinausführenden Tür hing eine große, stark nachgedunkelte, von irgendeinem Niederländer aus der Rubensschule herrührende Bärenhatz, während am Spiegelpfeiler der gegenübergelegenen Schmalwand eine hohe Nußbaumetagere stand, auf deren oberstem Brett ein durchbrochener Korb mit bemaltem Alabasterobst, Birnen, Orangen und Weintrauben paradierte. Die „Bärenhatz“ hatte sich vor mehr als fünfzig Jahren, bei Renovierung des Vitzewitzeschen Speisesaales, aus dem Herrenhause nach dem Predigerhause verirrt, in dem damals ein lebelustiger Amtsvorgänger Seidentopfs, soweit ihn nicht Fuchs- und Hasenjagd in Anspruch nahmen, der Hohen-Vietzer Seelsorge oblag.


So kahl und nüchtern das Zimmer war, einen so entgegengesetzten Eindruck machte es von dem Augenblick an, wo die Seidentopfschen Gäste dasselbe zu füllen und zu beleben begannen. Die Armleuchter, die grünen und weißen Gläser, vor allem ein die Mitte der Tafel einnehmender, in der Fülle seiner langen und braunen Zacken eine Hohen-Vietzer Pfarrspezialität bildender Baumkuchen gaben ein überaus heiteres Bild, das aus seiner wunderlich komponierten Umrahmung: kahle Wände, nachgedunkelter Rubens und Alabasterobst, eher Vorteil als Nachteil zog.

Turgany, der sich wieder des Platzes zwischen den beiden jungen Damen zu versichern gewußt hatte, flüsterte, nachdem eine Tasse Tee glücklich an ihm vorübergegangen war, der in Person aufwartenden Alten einige Worte ins Ohr, die von dieser, wie es schien, verständnisvoll aufgenommen und mit Kopfnicken erwidert wurden.

„Neue Anschläge im Werke?“ fragte Renate.

„Vielleicht“, bemerkte Turgany. „Aber doch nur solche, die die Neugier meiner schönen Nachbarin nicht lange auf die Probe stellen werden. In jedem Falle Überraschungen von allgemeinerem Interesse als ?der Wagen Odins?.“

Während dies Gespräch noch geführt wurde, erschien die Haushälterin wieder zu Häupten der Tafel, eine flache Schüssel herumreichend, deren schwarzkörniger, mit Zitronenschnitten reich garnierter Inhalt über die Art der Überraschung nicht länger einen Zweifel lassen konnte.

„Aber Turgany“, murmelte Seidentopf mit liebevollem Vorwurf.

„Keinen vorzeitigen Dank“, nahm der Justizrat das Wort. „Du ahnst nicht, Freund, die geheime Tücke, die hinter diesen schwarzen Körnern lauert. Allen Tafelparagraphen zum Trotz, die schon jede lebhafte Debatte von den Freuden des Mahles ausgeschlossen wissen wollen, trage ich den alten Turgany-Seidentopf-Streit an diesen deinen gastlichen Tisch und entnehme neue Waffen gegen dich diesem Überraschungsgericht, das ich mir, im Vertrauen auf deine Nachsicht, einzuschieben erlaubt habe. Ja, Freund, hier ist das Salz der Erde, das einzige, das noch nicht dumpf geworden. Diese schwarzen Körner, was sind sie anders als ein Vortrab aus dem Osten, als eine Avantgarde der großen slawischen Welt. Sendboten von der Wolga her; Astrachan rückt ein in dieses alte Land Lebus. Ein tiefsinniges Symbol dieses alles! Schon folgen die Steppenreiter, die dieselbe Heimat haben; erwarten wir sie, bereiten wir unsere Herzen. Es lebe das Salz der neuen Zeit; es lebe die große Slawa, die Urmutter unserer wendischen Welt, es lebe Rußland!“

Seidentopf, viel zu liebenswürdig, um nicht für Neckereien wie diese ein bereitwilliges Verständnis zu haben, erhob sich sofort. „Ich bitte, die Gläser zu füllen“, begann er, „versteht sich, die grünen. Unser Freund hat das Salz unserer Zeit, hat Rußland, hat die astrachanische Prärie leben lassen. Ich könnte hervorheben, daß optische Täuschungen, riesenmäßige Vergrößerungen zu den charakteristischen Zügen jener Steppengegenden gehören, von denen uns beispielsweise Reisende berichten, daß einfache Heidekrautbüschel das Ansehen stattlicher Bäume gewönnen; aber ich verzichte auf Bemerkungen, die unseren Streit nur schüren könnten. Ich dürste nicht nach Fehde, sondern nach Versöhnung. Gut denn, es lebe das Wolgasalz, das erfrischt, aber zugleich durchglühe uns dieser deutsche Wein, der erheitert und erhebt. Zu dem Herben geselle sich das Feuer, zu der Kraft die Begeisterung. So vermähle sich die slawische und germanische Welt. Es ist ein alter Wein noch, der in unseren Gläsern perlt, und die Gelände waren unser, die ihn trugen und reiften. Sie sollen es wieder sein. Möge der Most des nächsten Jahres in deutschen Keltern stehen.“

Die Gläser klangen zusammen, auch die Turganys und Seidentopfs. Beide Gegner umarmten sich, alles schüttelte sich die Hände, und das Gefühl patriotischer Erhebung wuchs, als, unter Zugrundlegung des 29. Bulletins, die Tischunterhaltung in das Gebiet der Konjekturalpolitik hinüberglitt.

Erst der Schluß der Tafel machte dem Gespräch ein Ende, an dem sich auch die Damen um so lieber beteiligt hatten, als die Abwesenheit eigentlich zuverlässigen Materials es sowohl jedem reichlich eingestreuten „On dit“, wie nicht minder dem Fluge der Einbildungskraft erlaubte, alles Fehlende aus eigenen Mitteln zu ersetzen. Und auf derartig schwachen Fundamenten aufgeführte Unterhaltungen pflegen meist mehr zu befriedigen als solche, die durch oft unbequeme Tatsachen in ihrem Gange bestimmt werden.

Die Gesellschaft begab sich jetzt aus dem Eßzimmer in die die Zimmerreihe abschließende Putzstube, die im wesentlichen noch die Einrichtung zeigte, die ihr die vor zehn Jahren, beinahe unmittelbar nach der Feier ihrer silbernen Hochzeit, aus der Zeitlichkeit geschiedene Frau Pastorin Seidentopf gegeben hatte. An der einen Längswand standen ein Sofa und ein Birkenmaserklavier, jenes hochlehnig, mit fünf harten, großblümig überzogenen Seegraskissen, dieses auf schmalen, ellenartigen Beinen, deren Dünne nur noch von der seines Tones übertroffen wurde. Dem Sofa gegenüber befand sich der „Jubiläumsschrank“, in dem alles ein Unterkommen gesucht und gefunden hatte, was bei Gelegenheit der mit seiner silbernen Hochzeit zusammenfallenden fünfundzwanzigjährigen Amtsführung unserem Seidentopf an Geschenken und Huldigungen dargebracht worden war. Außer dem Kranz und dem Ehrenpokal standen hier zwei Blumenvasen mit Zittergras, ein Fidibusbecher, ein Album, eine Briefmappe, mit zwei großen Perlenarbeiten geschmückt, von denen die eine die Hohen-Vietzer Kirche, die andere das Landsberger Korrektionshaus darstellte, an dem unser Seidentopf einige Jahre lang amtiert hatte. Aus ebendieser Zeit her stammte auch ein kleines, aus Brotkrume geformtes Kruzifix, das, unscheinbar an sich selbst, in ebenso unscheinbarer Umrahmung hart über der Sofalehne hing. Es war die Arbeit eines in Ketten geschlossenen, auf Lebenszeit verurteilten Sträflings, der, einfach um Beschäftigung willen beginnend, unter dem Tun seiner Hände sich zum gläubigen Christen herangebildet hatte. Turgany pflegte die Bemerkung daran zu knüpfen, daß es ein neuer Beweis sei, wie sich jeder seinen Gott und seinen Glauben schaffe; Seidentopf aber, weil hier sein Innerstes mitspielte, ließ sich in seinen entgegenstehenden Anschauungen nicht beirren, war vielmehr fest überzeugt, daß auch diesem Schächer das Wort erklungen sei: »Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein«, und pries sich glücklich, dies Brotkrumen-Kruzifix aus den Händen eines gläubig Sterbenden empfangen zu haben. Er sah es für nichts Geringeres als einen Talisman oder, um christlicher zu sprechen, als einen segenspendenden Hort seines Hauses an.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vor dem Sturm