Von der deutschen Ostseeküste im Herbst 1859 - Das Seebad Warnemünde.
Ich hatte mir ein kleines, im übrigen Deutschland ziemlich unbekanntes Seebad, Warnemünde, unweit der alten, ehrwürdigen Hafenstadt Rostock, am Einfluss der Warnow in die offene Ostsee gelegen, diesmal ausgesucht, um ein paar Wochen in voller Ruhe die Freuden des Aufenthalts am Meere genießen zu können. Hierzu ist gerade Warnemünde der geeignete Ort. Man wird hier durch nichts von der See abgezogen und immer aufs neue wieder auf ihren Genuss hingewiesen, da die Natur sonst höchst einförmig und die Gesellschaft nur gering ist. Einzelne versprengte Berliner oder Hamburger ausgenommen, sind sonst alle Badegäste in Warnemünde ächte Söhne des guten alten, ehrlichen Mecklenburgs. Mit Weib und Kind, mit Betten und Hausgerät aller Art, mit wohlgefüllten Flaschenkörben und den wo möglich noch volleren Kobern und Kiepen mit Würsten, Schinken, Eiern, ziehen die Mecklenburgischen Gutspächter, wohlhabende Dominialbeamten, sehr gut besoldete Pfarrer, ja selbst einzelne Gutsbesitzer, denen das nahe, vornehme, elegante Seebad Doberan zu viele Bequemlichkeit raubt, nach dem stillen Warnemünde, um dort einige Wochen der Seeluft zu genießen. Für vierzig bis fünfzig Thaler monatlich mietet eine solche Familie ein eigenes Häuschen, wo möglich in der „Vorderreihe", mit der Aussicht nach dem freien Meer, und jetzt die gewohnte häusliche Lebensweise mit eigener Küche und eigenem Keller fort. Rostocker, die es der Nähe wegen noch bequemer haben, bilden den größten Teil des übrigen Badepublikums. Man ist nun zwar in Mecklenburg, wo Gottes trockene Gaben in Hülle und Fülle gedeihen und direkt eingeführter französischer Rotwein und englischer Porter durch keine Eingangssteuer verteuert werden, ungemein gastfrei, und so kann wohl ein einzelner Mann leicht Einladungen zu einigen der fünf Mahlzeiten erhalten, die viele Familien in Warnemünde täglich einzunehmen pflegen; allein wer kein Eingeborener des Landes ist, wird sich in diesen spezifisch mecklenburgischen Kreisen leicht fremd und bald auch gelangweilt fühlen. Es herrscht ein zu stark ausgeprägter provinzieller Charakter darin, und man muss mit manchen inneren Verhältnissen des Landes genau vertraut sein, um der Unterhaltung mit einigem Interesse folgen zu können. An öffentlichen Orten aber, wo der einzelne Fremde Unterhaltung finden könnte, ist in Warnemünde großer Mangel, und schwerlich werden sie jemals dort entstehen. Wie fast überall an der deutschen Ostseeküste, wo das Familienleben stark ausgeprägt ist und der verheiratete Mann seine Bekannten zu Hause aufsucht, statt mit ihnen im Gasthofe zu verkehren, sind auch in Warnemünde alle Gasthäuser nur höchst mittelmäßig und dabei genötigt, ziemlich teure Preise zu nehmen, um bei den wenigen Gästen noch dürftig bestehen zu können. Mit einzelnen Ausnahmen findet man an der ganzen deutschen Nord- wie Ostseeküste dieselben Verhältnisse, und der Rheinländer, Bayer oder Schwabe, der das hiesige Leben nur nach dem Wirtshausleben kennen lernt, dürfte sehr wenig davon erbaut sein. In Süddeutschland isst, trinkt und vergnügt man sich am besten im Gasthause, in Norddeutschland im engen Familienkreise; das ist eine alte, feste Regel.
Doch wozu bedarf man auch in Warnemünde vieler Unterhaltung im Gasthause, da das Meer für jeden, der Sinn dafür hat, einen unerschöpflichen Reichtum stets neuer Genüsse darbietet? Niemals ist dasselbe sich gleich, fort und fort zeigt es dem Auge des Beschauers eine Reihe wechselnder Bilder. Und gerade hier in Warnemünde bietet der mächtige, weit in die offene See hinein gebaute Steindamm, das „Spiel“ genannt, einen vortrefflichen Platz, um das Meer in aller Bequemlichkeit und in unmittelbarster Nähe belauschen zu können. Gleich einem riesigen Spiegel liegt jetzt die unabsehbare Fläche ausgebreitet vor einem da und die glühenden Strahlen der Sonne färben das Ganze mit silbernem Schein von solcher Helle, dass beim längeren Hinsehen unwillkürlich zuletzt die Augenwimpern sich schließen. Nur bisweilen zuckt ein leises Aufrauschen gleich einem mächtigen Atemzug über den weiten Spiegel und verkündet, dass das offene Meer und nicht ein großer Binnensee sich vor einem ausbreitet. Plötzlich ändert sich die Szene, und während am Lande noch kein Lüftchen weht, fängt in weiter Ferne draußen ein Wirbelwind an aufzustoßen, der mit rasender Hast das Wasser vor sich aufkräuselt, so dass man den Lauf des langen, bald dunkeln, bald hell schimmernden Streifen, den er bildet, deutlich mit dem Auge verfolgen kann. Immer stärker wird der Wind, immer breitere und krausere Züge schneidet er im Meere ein, und nicht lange, so schlagen die ersten Wellen mit schaumigem Gicht an die mächtigen Steine, die das Ende des „Spiels“ bilden. Dunkle Gewitterwolken, die ein schweres Unwetter verkünden, ziehen jetzt am Horizont herauf, und der vor kurzem noch so sonnige und goldig blaue Himmel wird schwärzer und schwärzer. Seine Farbe spiegelt sich im Meer ab, das helle Silbergrün desselben geht in immer dunklere Schattierungen über, so dass es zuletzt fast ebenfalls eine tiefe Schwärze zeigt. Weißschaumige Wellenköpfe, zuerst nur einzeln, aber von Minute zu Minute häufiger, tauchen, immer näher kommend, aus dem Dunkel der Flut empor. „Der Scheeper drifft dee Schaap ut", sagen dann die Warnemünder Weiber, und in der Tat gleichen diese weißen Wellenköpfe in der Ferne einer Herde schneeweißer Lämmer, die auf dunkelgrüner Fläche umher hüpfen. In eiligster Fahrt kommen jetzt die Fischerboote, die oft meilenweit in der offenen See ihre Netze ausstellen, angesegelt, um den sicheren Hafen noch vor dem Unwetter zu erreichen. Für das Auge des Laien sieht es wirklich gefährlich aus, wie diese kleinen Boote von den Wellen umhergeschleudert werden; man fürchtet jeden Augenblick, die umschlagen oder in die Tiefe des Meeres hinabgerissen zu sehen. Allein die Fahrzeuge sind stark gebaut, die Männer, häufig auch Weiber, darin wissen Segel und Steuer sehr geschickt zu handhaben, und so ist die Gefahr ungleich geringer, als es scheint, und Unglücksfälle kommen zwar mitunter vor, gehören aber doch zu den seltensten Ausnahmen. Immer lauter tosen jetzt die Wellen, der Sturm heult und immer höher bäumt sich das wild aufgeregte Meer an den Steinquadern herauf. Bis über die hier aufgestellten Sitzbänke, die bei ruhigem Wetter an fünfzehn Fuß von dem Meeresspiegel entfernt sind, rollen jetzt die schäumenden Fluten, und bei sehr heftigem Sturm wird der ganze breite und hohe Steindamm oft von den sich hoch aufbäumenden und überstürzenden Wellen so überschlagen, dass er auf Augenblicke völlig unter Wasser steht.
Oft tobt ein solcher Sturm Tage lang und immer aufgeregter wird dann die See, so dass ihre Fläche nur aus kochenden Wogen besteht und dann einen grausig schönen Anblick gewährt; mitunter aber beruhigt sich das Unwetter schon nach wenigen Stunden wieder, der Himmel erheitert sich, die Wellen werden kleiner und immer kleiner, und am Abend spiegelt der Vollmond am wolkenlosen Himmel sein bleiches Licht in der klaren, glatten Flutt, einen breiten silbernen Streif, mit funkelnden Sternen besäet, darüber ziehend. Solch wechselndes Naturschauspiel, stets schön und großartig und die Seele mit mächtigen Eindrücken erfüllend, kann man auf dem „Spiel“ in Warnemünde oft im Laufe eines einzigen Tages genießen.
Aber auch andere Bilder helfen dem Badegast die Zeit verkürzen und geben ihm Stoff zu mannigfachen Beobachtungen. Wer sich für Schifffahrt und Seemannsleben interessiert, findet hier ein ergiebiges Feld. Warnemünde, als der Außenhafen der blühenden Reedereistadt Rostock deren mehr als dreihundert große Seeschiffe in allen Meeren der Welt kreuzen, wird täglich von ein- und aussegelnden Fahrzeugen belebt. Mit vollen Segeln kommt jetzt eine stattliche dreimastige „Bark“ über die See daher gezogen und hält den Kurs auf die Warnemünder Hafeneinfahrt. Das kundige Auge der Lotsen am Leuchtturm hat schon aus weiter Ferne entdeckt, dass es ein Rostocker Fahrzeug ist, an dessen Bord, wie man weiß, manche Matrosen aus Warnemünde selbst dienen. Große Freude verbreitet diese Nachricht im ganzen Orte, und schnell eilen die Angehörigen der Seeleute nach dem „Spiel", um das „Binnensegeln“ des Schiffes mit anzusehen. Über drei Jahre war die Barke abwesend und während dieser Zeit fortwährend im Handel zwischen Ostindien und Holland beschäftigt gewesen, bis sie jetzt wieder mit Steinkohlen beladen aus England zurückkommt. Schon ist das Lotsenboot, mit den fünf alten Lotsen bemannt, hinausgefahren, und das stattliche, leicht dahin schwebende Schiff hat sich bereits so genähert, dass alle Taue und Stangen der Masten deutlich zu sehen sind. Ein großes, gutgehaltenes Segelschiff, das alle Segel bis auf die obersten Marsegel aufgesetzt hat und nun in rascher Fahrt durch die grünen Fluten daher schießt, so dass vor dem scharfen kupfernen Kiel das Wasser aufschäumt, gewährt ein reizendes Bild, dem selbst der Anblick des größten Kriegsdampfers nicht im Entferntesten gleichkommt. In weitem Bogen hat das Schiff jetzt gewendet und mit kundigem Blick und starker Faust der Lotse am Steuerruder es in die schmale Einfahrt zwischen den beiden Steindämmen hineingebracht. Mit lebhaftem Schwenken der Kopfbedeckungen begrüßen die zahlreichen Zuschauer die aus weiter Ferne Heimkehrenden, während diese selbst hastig in die Masten klimmen, um die Segel einzuziehen, damit das Schiff sofort am Hafenpfahl festgelegt werden kann. Bald liegt die Barke am Bollwerk, das Laufbrett ist schon ausgeworfen, und jetzt stürmen die am Lande Harrenden und die Heimkehrenden zusammen, um die immer ergreifende Szene des Wiedersehens aufzuführen. Unter der rauen Außenseite dieser kräftigen, von der Tropensonne tief gebräunten, vom Sturm und Spritzwasser verwetterten Matrosen in ihren schmutzigen Teerhosen und groben Frieshemden schlägt gar oft ein warmes, für jedes edle menschliche Gefühl empfängliches Herz.
Kaum ist das stattliche Fahrzeug eingelaufen, der Jubel der Begrüßung verhallt, so hat auch der Schmerz seine Rolle zu spielen. Ein altes Fischerweib von der Halbinsel, das „Fischland", wo die Mehrzahl der mecklenburgischen Seeleute wohnt, kommt in einem Boot von Rostock eiligst angefahren. Es ist ihr die Nachricht zugegangen, das Schiff, auf dem ihr einziger Sohn, die Stütze ihres Alters, als Matrose dient, werde heute einsegeln, und sie eilt nun herbei, ihn nach mehrjähriger Trennung zu begrüßen. Das erwartete Schiff ist glücklich im heimatlichen Hafen angelangt, den Sohn aber brachte es nicht wieder mit zurück. In der Bay von Biscaya schleuderte ihn in einer wilden Sturmnacht eine überschlagende Sturzwelle über Bord, und ferne an der spanischen Küste ruht er nun für immer auf dem tiefen Grund des Meeres. Wie hastig und ängstlich fragt die Mutter nach dem Sohn, den ihr suchendes Auge unter der Scharr der Matrosen vermisst! Niemand steht ihr Rede, selbst diese rauen Männer scheuen sich, der Mutter das Schrecklichste mitzuteilen. Endlich spricht der Steuermann die Worte: "Ihr Sohn ist bei Gott; in der spanischen See ging er über Bord. Trösten Sie sich, es kann uns Seeleuten. Allen so ergehen.“ Da schreit wohl das Mutterherz im ersten Augenblick des jähen Schmerzes laut auf, aber bald bezwingt das Weib solch wilden Ausdruck, die Tränen stürzen ihr zwar über das faltige Antlitz, aber äußerlich ruhig erkundigt sie sich nach den näheren Umständen des Todes ihres Sohnes. Fand doch ihr Mann im selben Meere und fast auf gleiche Weise ebenfalls ein Ende.
Jubelnder, lauter Gesang aus rauen Männerkehlen, nach einer eintönigen, aber gar nicht übel lautenden Melodie, wobei ein Vorsänger zuerst eine Strophe singt und der Chor den Refrain wiederholt, ertönt jetzt daneben. Die zehn bis zwölf Matrosen der schönen Bark „Agnes“ winden eben den mächtigen Schiffsanker in die Höhe und ziehen singend am Tau, um im gleichen Takte den kräftigen Anzug zu tun. Das Schiff segelt sogleich ab, der Lotse ist schon am Bord, in einer halben Stunde fährt es aus dem Hafen, um vielleicht erst in zwei bis vier Jahren, vielleicht auch nimmermehr zurückzukehren. Es segelt zunächst nach Norwegen, dort Holz für Cadir zu laden, und geht von dort mit Seesalz nach Südamerika und so weiter, gleichviel wohin, wo sich gerade lohnende Fracht findet. Die Matrosen, lauter kräftige „Fischländer", sind guter Laune, den Abschied von den Ihrigen haben sie bereits überstanden und freuen sich jetzt, wieder in die weite freie See hinauszukommen und auf Jahre lohnenden Verdienst zu finden. Nur Einem, einem hübschen stattlichen Burschen, der mit seiner kräftigen Gestalt, seinem offenen, gebräunten Gesicht, mit den klaren blauen Augen und dem lockigen blonden Haar sich so recht als ein ansprechendes Bild eines ächten norddeutschen Seemanns darstellt, scheint der Abschied von Warnemünde schwer zu werden. Er hat sein Herz hier im Orte verloren an eine hübsche junge Tochter desselben. Weinenden Antlitzes steht das Mädchen hart am Bollwerk, um den scheidenden Geliebten noch so lang wie möglich zu sehen. Wie der flinke Bursche nur einen freien Augenblick erhaschen kann, springt er vom Bord des Schiffes an das Land zurück, umarmt das weinende Mädchen, spricht tröstende Worte und trocknet ihr zärtlich mit seinem Tuche die Tränen vom Antlitz. Die gebieterische Pflicht ruft ihn jetzt wieder, und mit der Behendigkeit einer Eichkatze klettert er flugs hoch oben in die Masten, um den schon vorausgeeilten Kameraden beim Lösen der Segel zu helfen. Bereits aber wird die Planke vom Bord bis zum Bollwerk zurückgezogen, noch schnell die letzte herzliche Umarmung, der letzte heiße Kuss, – vielleicht auf Nimmerwiedersehen; das Schiff setzt sich in Bewegung, zuerst im Strome selbst nur langsam, aber so wie es um das Ende des Bollwerks herum in die offene See kommt und der Wind die bauschenden Segel fasst, immer schneller, bis nach einigen Stunden auch der letzte weiße Schimmer desselben am fernen Horizont verschwommen ist.
Solche und ähnliche Bilder bietet Warnemünde dem, der Sinn dafür hat, viele und mannigfaltige. Es begreift
sich, dass an einem solchen Orte, auch ohne äußere Genüsse einer glänzenden Geselligkeit, die paar Wochen des Badeaufenthaltes nur zu schnell vergehen und man sich schweren Herzens vom Meere, dem ewig schönen Meere trennt.
Warnemünde, Strom, Hafen und Leuchtturm
Warnemünde, Strom, Leuchtturm
Mecklenburger Ostseestrand im Herbst
Rostock zur Zeit der Hanse, Holzschnitt
Hart ist das Leben für die Fischer an der Ostsee.
Fischeralltag
In der Saison wird jede Hand gebraucht
Shantyman
Abbildung 6. Amerikanischer Sechsmast-Schoner „George W. Wells“.
Abbildung 10. Kreuzmast eines großen Segelschiffes mit allem stehenden und laufenden Gut.
Abbildung 11. Deck eines großen Segelschiffes mit Rahefall- und Brassenwinden.
Abbildung 14. Ozeanwettfahrt der Teeclipper 1866. links „Taeping“, rechts „Ariel“
Abbildung 15. Vollschiff „Großherzogin Elisabeth“ des Deutschen Schulschiffvereins.
Abbildung 16. Fünfmast-Bark mit Dampfhilfsmachine „R. C. Rickmers“.
Abbildung 9. Fünfmast-Vollschiff „Preußen“ im Vergleich zu Berliner Bauten.
Hansestadt Rostock, Unterwarnow, Pionierschiff mit Blick auf Petrikirche, 1962
Rostock - Giebelhäuser bei der Nicolaikirche
Rostock - Petrikirche mit Petritor
Hansestadt Rostock, Stadthafen mit Großsegler, 1968
Rostock, Stadthafen mit Großsegler, 1968
Rostock, Stadthafen, 1968
Rostock, Stadthafen, Segelschulschiff "Wilhelm-Pieck", 1968
Rostock-Warnemünde, Alter Strom, Eisgang 1968