Vom Umgang mit Russen

Nachfolgende Gespräche sind im großen und ganzen tatsächlich geführt worden, und zwar im Herbst des Jahres 1914. Damals traf ich ganz zufällig einen alten Moskauer Bekannten, der durch den Ausbruch des Krieges an der Rückreise nach Russland verhindert war und nun seinen Schmerz zu vergessen suchte in ununterbrochenem Gedenken an sein Vaterland, wobei er sich, wie das für den Russen so bezeichnend ist, mit sehr großem Freimut auch über die Schattenseiten Russlands äußerte. Wo mich beim Aufzeichnen der mit ihm geführten Gespräche mein Gedächtnis im Stich ließ, ergänzte ich aus früheren Unterhaltungen mit Russen in der Weise, dass keines der hier von russischer Seite wiedergegebenen Urteile über Russland, vor allem kein tadelndes, nicht aus russischem Munde stammt. Ich betone das nachdrücklich, weil das allein mich vor mir selber rechtfertigt in der Herausgabe dieser Schrift. Natürlich erstrebe ich mit ihr gar nichts anderes, als einem dauernden Verständnis mit dem hochbegabten russischen Volke, von dem uns noch so vieles zu lernen bleibt, nach besten Kräften die Wege zu ebnen (und dazu fühle ich mich wiederum verpflichtet wegen eines zwanzigjährigen Aufenthalts in Moskau) .

Aufrichtig bedauere ich dabei, dass Russland damals keinen geschickteren Verteidiger fand. Vielleicht nehmen, durch ihn angeregt, andere Russen die Verteidigung ihres Volkes mit größerem Glücke wieder auf: Nichts wäre mir ja persönlich erwünschter, als da im Unrecht zu sein — wo ich bis jetzt noch nicht einverstanden sein kann mit dem Russen. Mit Freuden wollte ich mir nachweisen lassen, dass ich immer noch voreingenommen , ja, dass ich selbst über das gewöhnliche Maß hinaus beschränkt bin, wenn ich nur überzeugt sein darf, dass das russische Volk noch bei weitem vorbildlicher ist, als es mir so schon erscheint — in aller meiner natürlichen Befangenheit vor ihm — aus der ich niemals ein Hehl machen werde.

Pasing, im Dezember 1915

Karl Nötzel.

                            Nachschrift zum Vorwort
                                (Sechs Jahre später)

In den seit der Niederschrift dieser Gespräche verflossenen sechs Jahren haben sich die russischen Verhältnisse von Grund auf verändert. Der Schlüssel zu allen diesen Vorgängen scheint mir in den nachfolgenden Blättern enthalten zu sein. Wenigstens fand ich sachlich gar nichts zu ändern. Vielleicht würde ich heute etwas stärker noch betont haben, dass der große Vorzug des Russen gerade darin beruht, dass er rein menschlich erlebt, d. h. alles eigene Schicksal als Menschenlos; so weit und so fern es von allen Menschen erlebt werden könnte. Und das erklärt auch den Hauptfehler des Russen: dass er nämlich kein anderes Erlebnis als das seinige als wirklich anerkennen kann. Freilich im Grunde sind gerade das die Leitmotive meiner ganzen versuchten Würdigung des Russen. Unlängst belehrte mich indes eine große Freundin des russischen Volkes darüber, dass dieser Vorzug und dieser Fehler beides nur Folgen des ursprünglichen russischen Bewusstseins der Gotteskindschaft des Menschen bedeuten. Das scheint mir den Kern der Sache zu treffen.

Pasing, im Juli 1921

Karl Nölzel.

                            INHALT

Erstes Gespräch: Weshalb man das russische Volk lieben muss

Zweites Gespräch: Was dem Russen am Deutschen missfällt

Drittel Gespräch: Was dem Deutschen am Russen auffällt

Viertes Gespräch: Nochmals zum Lobe des russischen Volkes