Vergleich des englischen, französischen und deutschen Sozialismus

Aus: Vorlesung über Sozialismus und soziale Fragen
Autor: Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist und Professor für Philosophie, Erscheinungsjahr: 1847
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gesellschaft, Politik, Bildung, Philosophen, Sozialismus, Proletariat, Sozialdemokrat,
Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen zuerst in flüchtigen Zügen eine vergleichende Schilderung der drei Hauptstämme des Sozialismus, des englischen, französischen und deutschen, zu geben. Es prägt sich darin in sehr auffallender Weise die Verschiedenheit der drei Nationalcharaktere aus. Der englische Sozialismus entstand, ganz in Übereinstimmung mit dem praktischen und vorzugsweise den Volkswirtschaftlichen Interessen zugewendeten Charakter der Engländer, durchaus auf dem Boden des praktischen Lebens und des unmittelbaren Bedürfnisses. Der Chartismus — denn Das ist die hauptsächlichste Erscheinungsform sozialistischer Ideen in England — war in seinen Anfängen allerdings halb eine politische, halb eine soziale oder ökonomische Reformbewegung. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts fassten demokratische Ideen in England Wurzel; um die gleiche Zeit bildete sich auch mehr und mehr eine besondere Arbeiterklasse und in ihr das Bewusstsein ihrer gedrückten Lage aus. Diese politisch-soziale Bewegung half das Entstehen der Reformbill im Jahre 1832 fördern. Nach diesem Ereignis jedoch fing sie bald an sich zu spalten. Die Mittelklassen, denen es nur um die politische Reform und um die Erweiterung ihrer Rechte und die Förderung ihrer Interessen zu tun war, wollten die arbeitenden Klassen bloß als Werkzeuge benutzen. Diese Letzteren lernten bald einsehen, dass ihr Ziel ein anderes sein müsse. 1835 entwarf ein Komitee der allgemeinen Arbeitergesellschaft die sogenannte Volkscharte (the peoples charter), deren Tendenz die Vertretung aller Klassen des Volks, auch der unbemittelten, ist. Aber im Hintergrunde dieser politischen Richtung lag eine soziale: die Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen auf dem Wege der Gesetzgebung. Dazu sollte die radikale Wahlreform das Mittel sein, denn man merkte wohl, dass von den Mittelklassen, welche durch die Reformbill das Heft der Gesetzgebung in die Hand bekommen hatten, für jenen Zweck Nichts zu erwarten sei. Schon im Jahre 1838 sprach Stephens, der Hauptführer der Chartisten, bei einer der großen Riesenversammlungen, die sie damals hielten, die eigentliche Aufgabe des Chartismus klar und unumwunden aus, indem er sagte: „Der Chartismus, meine Freunde, ist keine politische Frage, wobei es sich darum handelt, dass Ihr das Wahlrecht bekommt; sondern der Chartismus, das ist eine Messer- und Gabelfrage; die Charte, das heißt: gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.“ Oder, wie es auf einer Versammlung im J. 1842 ausgedrückt ward, man wollte: „für richtiges Tagewerk richtigen Tageslohn.“ In diesem Sinne hat nun die Hauptmasse der Chartisten, die Arbeiter, seitdem immer mehr selbstständig ihren Weg verfolgt. Neben den Riesenversammlungen und Riesenpetitionen für die Volkscharte haben sie auch direkt auf eine Verbesserung des Loses der Arbeiter, auf eine Erhöhung der Löhne hingewirkt, bald ebenfalls durch Petitionen ans Parlament, bald auf eigne Hand durch Arbeitseinstellungen in großem Maßstabe *).

Hier ist, wie Sie sehen, Alles praktisch, Alles auf das nächste notwendige Ziel gerichtet. Von einer systematisch ausgesponnenen sozialistischen Theorie wissen die Chartisten Nichts.

Daneben finden wir allerdings in England auch den Sozialismus in der Form eines Systems — bei Owen und seinen Anhängern, — allein auch ihnen ist, wie wir später sehen werden, die Praxis, die Verwirklichung ökonomischer und sozialer Reformen die Hauptsache.

In Frankreich ging die soziale Bewegung zuerst als Konsequenz aus der Revolution von 1789 hervor. Die konsequente Verfolgung der Ideen politischer Freiheit und Gleichheit, allgemeiner Menschenrechte u. s. w. musste notwendig auf die Idee sozialer Gleichheit und allgemeiner Glückseligkeit führen. Die Revolution selbst schien einen Moment lang in diese Bahn einlenken zu wollen.

*) Wer sich über die Geschichte des Chartismus und der Arbeiterbewegungen in England näher unterrichten will, dem empfehlen wir: Engels: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“, Leipzig, 1845, O. Wigand.

Andeutungen sozialer Gleichheitsideen finden sich in der Verfassung von 1793. Allein die Häupter der Revolution, selbst Robespierre, zogen sich bald auf das rein politische Gebiet zurück und ließen die sozialen Verhältnisse, das Eigentum und die ökonomische Ungleichheit unter den freien und gleichen Bürgern der Republik, unangetastet bestehen. So musste sich die soziale Bewegung neben der politischen und außerhalb dieser entwickeln, aber immer tat sie es mit dem Bewusstsein und unter der ausdrücklichen Berufung darauf, dass sie die notwendige Konsequenz der politischen Revolution sei. Zunächst erschien dieselbe unter der noch rohen Form des Kommunismus oder des Systems absoluter Gleichheit aller Menschen, absoluter Austilgung aller Unterschiede — des Vermögens, der Bildung, der Beschäftigung. Dieser Kommunismus, zur Zeit der ersten französischen Revolution von Baboeuf und Darthès gepredigt, von den politischen Machthabern aber gewaltsam unterdrückt, kam nach 1830 wieder zum Vorschein, heftete sich auch an die Fersen dieser zweiten Revolution, indem er das Interesse des Volks, d. h. der arbeitenden Klassen, welche die Revolution von 1830 wesentlich hatten durchführen helfen, gegen die Mittelklassen oder die Besitzenden, welche allein von dieser Revolution Vorteil ziehen wollten, geltend machte. Buonarotti und Cabet setzten das Werk von Baboeus und Darthès fort und predigten von Neuem die Theorie absoluter Gleichheit, während eine noch neuere Fase des französischen Kommunismus, repräsentiert durch Dezamy *), mehr die zweite jener Grundideen der Revolution von 1789, die Idee der absoluten Freiheit, auch auf sozialem und ökonomischem Gebiete durchzuführen versucht.

Dazwischen liegt nun allerdings wieder eine andere Reihe sozialistischer Systeme, welche, mehr wissenschaftlich gehalten, zum Teil sogar in fast metaphysisch-spekulativer Form, eine wirklich positive Neugestaltung aller gesellschaftlichen Verhältnisse anstreben. In ihnen offenbart sich wieder eine andere Seite des französischen Charakters: der den Franzosen eigentümliche Sinn fürs Organisieren, Zentralisieren, Administrieren, der sich ja auch in ihrem Staatsleben so auffallend ausspricht.

*) Das Nähere über alle diese einzelnen Systeme folgt in der 3. Vorlesung.

In Deutschland endlich hat sich der Sozialismus auf ökonomischem Gebiete bisher nur als eine matte Nachahmung französischer Systeme gezeigt. Dagegen tritt hier eine andere Eigentümlichkeit zu Tage, die mit dem Wesen des deutschen Geistes aufs Innigste zusammenhängt. Das ist ein gewisser metaphysischer Zug, das Bestreben, die sozialistischen Ideen nicht bloß schlechthin aus den nächsten praktischen Bedürfnissen zu entwickeln, sondern vielmehr sie aus den höchsten Prinzipien der Religion und Philosophie herzuleiten, sie zu einem spekulativen Systeme allumfassender Welt- und Lebensanschauung auszubilden.

So sehen wir also bei den drei Hauptkulturvölkern der Gegenwart den Sozialismus in drei Hauptrichtungen, analog den Charakteren eines jeden derselben, sich offenbaren: durch und durch praktisch und von den nächsten materiellen Bedürfnissen ausgehend bei den Engländern; als Konsequenz einer politischen Theorie und bestrebt, sofort eine ganz neue Gesellschaft nach großen Maßstäben zu organisieren, in Frankreich; in Deutschland endlich als philosophisches System, als metaphysische Welt- und Lebensanschauung.

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie