Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 10. Curiosa.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Begierig, ein Gebäude zu bewundern, das in Deutschland sich eines bedeutenden Rufes erfreut, eilte ich nach dem berühmten Marmorpalais. Wer in eine Orangerie zu treten hofft, und in einen Eiskeller fällt, kann nicht bitterer getäuscht, nicht mehr erkältet werden. Dieser famose Palast ist das widerlichste Gebäude von ganz Petersburg. Finster und kalt starrt er den Beschauer an, den bei dessen Anblick ein eisiger Fieberschauer überläuft. Catarina die Zweite hat ihn für Orloff erbaut, nach dessen Tode er, durch Kauf, an die Krone überging und eine Zeit lang vom verstorbenen Großfürsten Constantin bewohnt wurde. Jetzt steht er leer. Außer den Schildwachen kommt ihm Niemand zu nahe; die Petersburger haben eine förmliche Abneigung gegen ihn.

Das einzig Merkwürdige daran sind auch wohl nur die enormen Kosten, die er verursacht. Schön ist er nicht. Er bildet ein längliches Quadrat, dessen längere Seiten nach Norden und Süden liegen. Die Hauptfassade gegen Norden erscheint für das Ganze unverhältnismäßig klein. Zwei Flügel sind durch schöne Säulen verziert, aber sie sind von ungleicher Höhe, was einen unangenehmen Eindruck auf den Beschauer macht. Das Erdgeschoss des Palastes ist von Granit, seine zwei Stockwerke dagegen aus grauem geäderten Marmor, mit Pfeilern und Säulen aus rotem verziert, deren Kapitäler jedoch aus weißem gearbeitet sind. Das erste Stockwerk ist mit Balkons und Balustraden von vergoldeter Bronze geschmückt, die Fensterscheiben sind drei Fuß hoch und von bewundernswerter Reinheit.

Herrlicher prangt dagegen der Taurische Palast. Er gehörte Potemkin; Katharina II. kaufte ihn nach dessen Tode und gab ihm, zum Andenken an die Feldzüge ihres Lieblings in der Krim, den Namen, den er noch heute trägt. Der schönste Schmuck dieses Palastes ist sein herrlicher Wintergarten, der den des Winterpalais an Umfang und Schönheit bei weitem übertrifft. Die Großartigkeit des Gebäudes übersteigt alle Vorstellung. Nach Katharinen’s Tode wandelte Paul einen Teil desselben zu einer Kaserne um, und der große Saal, welcher unmittelbar an den Garten stößt, wurde zu einem Lesezimmer für die Offiziere der Garde eingerichtet. In diesem Saale waren die Tafeln aufgereiht, als Potemkin der Kaiserin das berühmte Banquet gab. Er ist von so ungeheurem Umfange, dass, nach den Memoiren des Königs Stanislaus, einst ein ganzes Bataillon Soldaten darin manövriert hatte. Kaiser Alexander ließ ihn herstellen und die ursprünglichen alten Möbel wieder hinein schaffen.

Noch muss ich flüchtig eines Palastes erwähnen, der noch heut den Namen des roten trägt, den Sommergarten an der Südseite begrenzt und seinen Namen einer der vielen bizarren Launen Kaiser Pauls verdankt. Auf einem seiner Hofbälle erschien eines Tages eine Dame in roten Handschuhen, was Paul dermaßen entzückte, dass er andern Tages rot für seine Lieblingsfarbe erklärte und befahl, dem Palast sofort diese Farbe zu geben. Im selben Palaste ist sein Monogramm P. I. in solcher Fülle all und überall in jedem Winkel angebracht, dass ein Engländer, der die undankbare Mühe des Zählens übernahm, davon abstand, da er bis zur Zahl acht tausend gelangt war, ohne das Ziel seines Unternehmens auch nur in der Ferne zu gewahren. Paul hatte viele solcher Marotten. So liebte er das Bunte in dem Maße, dass eine Ukase befahl, an ein und demselben Tage alle Tore, Brücken, Paläste, Wachen etc. im ganzen ungeheuren Reiche buntscheckig anzustreichen; eine Kinderei, die im Laufe der Zeit natürlich verwischt ward.

Interessanter als alle diese Paläste, an denen man doch meistens nur die, immer wiederkehrende, Pracht, den Geschmack und Luxus anstaunt, war mir das bescheidene Häuschen auf der Petersburger Seite, das die Pietät ganz mit Holz, wie mit einem Futterale überzogen. Es ist dasselbe Häuschen, in welchem der größte Russe, nach mühevoll verbrachtem Tagewerk, ausruhte, von wo aus er den Bau der Weltstadt leitete, zu der er den ersten Grundstein gelegt. Mit religiöser Gewissenhaftigkeit werden hier Peters Zimmer noch ganz in dem Zustande erhalten, wie sie zu seiner Zeit gewesen. Noch steht seine Bettlade darin, etwas Gerätschaften, Schreibzeug, Winkelmaß, einige alte Fetzen seiner Kleidung — kurz, alles, alles, was in des großen Mannes unmittelbare Nähe kam, ist seinen Nachkommen heilig, und auch der Ausländer kann sich einer frommen Rührung beim Anblick dieser Reliquien nicht erwehren, die an das Dasein, Denken und Thun des größten Mannes seiner Zeit erinnern. Ehrfurcht und Frömmigkeit seiner Nachkommen haben in dankbarer Erinnerung diesen Ort, seiner volksbeglückenden Wirksamkeit, der göttlichen Verehrung geweiht und sein Schlafzimmer in eine Kapelle verwandelt. Ein einfacher Altar schmückt den einfachen Ort, und täglich werden daselbst in andächtiger Stille zwei Messen gelesen. Auch ein altes Wirtshaus zeigt man dem Fremden, das auf derselben Stelle erbaut ist, wo einst die kleine Schenke stand, in welcher Peter dem holländischen Gesandten, der ihn zu einem, für Russland nachteiligen, Handelsvertrag überreden wollte, nach „Feierabend" ein Rendezvous gab, und dort, von Menzikoff sekundiert, dem Gaste so wacker zutrank, bis er unter den Tisch sank, worauf die beiden Wirte sich entfernten, und es der nächsten Morgenkühle überließen, den Bewusstlosen wieder ins Dasein zurück zu rufen.

Die, der Petersburger-Seite nächst gelegene, Insel ist die Zitadelle, dort nur die „Festung" genannt. Sie ist von Peter dem Großen, nach einem Plane seiner eigenen Hand, fast ganz in Granitstein, gebaut. Im Innern ihrer Kirche, in der Kaisergruft, sind die eroberten Fahnen und Schlüssel der genommenen Städte aufbewahrt; die von Warschau, Oczakoff, Ismael und Derbent nehmen die ersten Stellen ein.

Auch das Brot und Salz ist dort aufbewahrt, welches der Magistrat von Warschau, mit den Schlüsseln der Stadt, dem Feldherrn Suwarow übergab zum Zeichen der gänzlichen Unterwerfung Polens. Der Turm der Kirche ist hoch und mit Gold gedeckt, wie fast alle Kirchtürme Petersburgs.

In einer der Kasematten, zum Staatsgefängnis umgewandelt, hat Prinz Alexis, Peters des Ersten Sohn, nachdem er als Aufrührer verurteilt war, geendet. Auch die Fürstin Tarakanoff ertrank dort im Jahre 1771 (als bei einem Austritt der Newa das Wasser in die Gefängnisse drang) mit allen übrigen, daselbst aufbewahrten, Staatsgefangenen.

Seitdem haben sich die Sitten in Russland bedeutend gemildert und eine höhere Moralität ist bis in die untersten Volksschichten gedrungen. Im Jahre 1776 waren in Petersburg 4.369 Personen gestorben, wovon 113 totgefunden, der allgemeinen Meinung nach ermordet, worden waren. Welch ein Abstand zu jetzt. Zwar warnen noch neuere Schriftsteller vor der Unsicherheit auf den Straßen in den langen Winterabenden; selbst Kohl, der erst vor elf Jahren über Petersburg schrieb, sieht auf jedem Schlitten, der Nachts über die Newa fährt, einen Leichnams-Kandidaten; aber solche Äußerungen erzeugt lediglich eine übertriebene Besorgnis oder vorgefasste Meinung. Ich bin zu jeder Stunde des Nachts, und zu jeder Jahreszeit von Wassilije-Ostrow heimgekehrt und habe nirgends Grund zur mindesten Besorgnis gefunden. Wohl fällt zuweilen ein Raub oder mörderischer Überfall vor, wohl findet man hin und wieder eine Leiche auf oder unter dem Eise, aber in unserer Mitte wird ja auch zuweilen ein Diebstahl, selbst ein Mord begangen, deshalb ist doch Berlin weder eine „unzivilisierte", noch eine „unsichere" Stadt.

Dabei darf man nicht übersehen, dass manche Leiche, auf offener Straße, in harten Winternächten gefunden, fälschlich der Wirkung einer Gewalttat zugeschrieben wird. Wie oft ist es mir begegnet, in den heitersten Sommernächten an Menschen vorübergefahren zu sein, die mitten auf der Straße in einem vollkommen bewusstlosen Zustande lagen. Sie waren weder erschlagen, noch verwundet, sondern ganz einfach — betrunken. Ein solcher Rausch aber in einer Dezember-Nacht muss unrettbar den Tod nach sich ziehen. Manche erfrieren auch, was fast jeden Winter einigen Schildwachen in Kronstadt begegnet, obschon sie bei starker Kälte Pelze tragen und alle halbe Stunden abgelöst werden. Auch wurden zuweilen dieselben von Wölfen angefallen, was Herrn Kohl Veranlassung gegeben haben mag, die Datschen auf eine Weise zu beschreiben, nach der zu schließen man glauben sollte, in jedem Sommerhause der Umgebung Petersburgs liefen Wölfe und Bären herum, wie bei uns zu Lande die Pinscher und die Pudel. Das Alles gehört aber zu den Ausnahmen, ja die „Wolfsnot" ist so groß bei Petersburg, dass, als der Hof einst einem fremden Prinzen zu Ehren eine Wolfsjagd veranstaltete, nach Beendigung derselben der geistreiche Prinz sich über die seltsame Rasse der erlegten Ungetüme wunderte, denen sämtlich die Haare am Halse abgerieben waren, als ob sie „ein Halsband getragen hätten." — Dem Erfrieren ist der gemeine Mann allerdings eher ausgesetzt, aber hauptsächlich nur in indirekter Folge des Frostes. Hat der Wodka demselben nicht vorgearbeitet, so ist in den Straßen von Petersburg und in dessen nächster Umgebung nicht leicht etwas zu besorgen, besonders da auch der Ärmste mindestens einen Pelz von Hammelfell hat. Ein tüchtiger Schuppenpelz (Wasch-Bär) widersteht selbst einer Kälte von zwanzig und mehreren Graden auf freiem Felde.

Diese Schuppenpelze sind die gewöhnliche Winter-Bekleidung der Petersburger. Fremden, welche hinreisen, wird oft der Rat erteilt, sich in Hamburg oder Leipzig mit einem solchen Pelz zu versehen, da sie in Deutschland ungleich billiger sind. Das ist auch wahr, und wer den Pelz in Deutschland in der Absicht kauft, ihn dort einem Kürschner zu verkaufen, findet dabei wohl seine Rechnung; nicht aber, wer ihn dort tragen will, denn in dem Falle muss er daselbst wieder umgegerbt werden, was kostspielig und umständlich ist. In Deutschland werden diese Pelze aber so schlecht gegerbt, dass sie dort fast unbrauchbar erscheinen. Ich reiste mit einem Bekannten nach Petersburg, der in Hamburg einen solchen Schuppenpelz für achtzig Thaler Pr. Cour. gekauft. Er war schlecht, schwer, wurde nach zwei Monaten hart; der Besitzer quälte sich drei Jahre damit, reiste dann zurück und musste den Pelz wegschenken, weil er ihn im Sommer nicht mitschleppen wollte, und keinen Käufer fand. So kostete ihm sein Pelztragen in drei Jahren achtzig Taler. Ich kaufte, in Petersburg angekommen, bei dem deutschen Kürschner Michaels auf dem Newsky einen Schuppenpelz für 1.000 R. B., circa dreihundert Taler Pr. Cour., trug ihn ebenfalls drei Winter, reiste dann fort und gab ihn dem Verkäufer zurück, der ihn, da er gut erhalten war, mit fünfzehn Talern Pr. Cour. decort zurücknahm. So hatte ich drei Jahre lang für fünfzehn Taler einen Pelz getragen, der leicht, weit, weich und ausnehmend schön war.

Noch wird ein Pelzwerk in Russland sehr geschätzt, dass aber jetzt nicht allgemein getragen wird, vielleicht seiner großen Kostspieligkeit wegen. Dies sind die sogenannten Baranken, die Felle ungeborener Lämmer. Da die Mutter getötet wird, um das Lamm zu gewinnen, was kurz vor der Werfzeit geschehen muss, wenn die Wolle des Jungen seidenartig sein und einen Silberglanz behalten soll, dabei oft sehr viele Mutterschafe geopfert werden, ehe man ein hinlänglich feines Pelzwerk gewinnt, so kann man sich die Teuerung desselben leicht erklären. Diese Felle liefert Persien, die Bucharei und das Land der Kalmücken. Ehemals hielt man es für ein Produkt des Pflanzenreiches, des sogenannten skythischen Schafes, von dem viel gefabelt worden. Die Tartaren, welche diese Felle verkaufen, behaupten es noch, und fordern, da dies Erzeugnis höchst selten sei, enorme Preise. Die Sage von dieser Pflanze ist über ganz Russland verbreitet. Den ersten Anlass dazu hat wohl Bell von Antermony gegeben, der in den Steppen von Astracan trockene Stauden gewahrte, deren Stamm achtzehn Zoll hoch war, und auf dem sich Büschel von scharfen, stachligen Blättern befunden hatten, in deren Schatten weder Pflanzen noch Gras wuchsen. Hieran knüpfte sich die Sage von einer Tierpflanze, deren Samenkörner denen der Melone glichen, und zu einer Frucht auf einem Stängel, fünf Spann hoch von der Erde erwüchsen, die lammähnlich gewesen, und deren Fleisch, wie das der Krebse, geschmeckt habe. Am Nabel, oder in der Mitte des Bauches, sei sie festgewurzelt, habe Kopf, Augen und alle andern Teile eines Lammes, und lebe so lange, bis die Wurzel alle Gräser und Pflanzen rings umher verzehrt habe, wo sie dann aus Mangel an Nahrung vertrockne. Wölfe und andere reißende Tiere suchten sie als Lieblingsspeise auf. Von dem Felle bereitete man kostbare Turbane, Mützen, Muffen usw.

Dass dergleichen fabelähnliche Sagen sich verbreiten, ist nicht auffallend, bemerkenswert aber ist es, dass sie sogar in die Wissenschaften übergegangen sind. Im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts hörte Herberstein von dem Dasein dieser Pflanze, und vernahm darüber obige Ansichten, die gleichlautend sich in den berühmtesten nachfolgenden Schriftstellern finden, und noch Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geglaubt wurden. Er selbst vernahm von einem gelehrten Russen, dem Gesandten Demetrius in Venedig, dass dessen Vater in Astracan dergleichen Samenkörner erhalten habe, die solche Früchte trügen. Auch beteuerte er, von einem gelehrten Morgenländer und Dolmetscher gehört zu haben, dass in Samarkand und der Umgegend zarte Felle von dort wachsenden Pflanzen als Pelzwerk getragen würden.

Alle Reisebeschreiber Russlands des ganzen sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erzählen jene Fabeln, und selbst Botaniker wie Reutenfels, Struys u.a.m. Kämpfer und Bruce entdeckten zuerst, im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, dass die Baranken Felle ungeborener Lämmer seien, und erstaunten nicht wenig, noch um diese Zeit den Glauben an die „Lammpflanze" in ganz Russland verbreitet zu finden, ein Glaube, der in vielen Teilen desselben noch heute nicht ganz erloschen ist. Die angebliche Pflanze nannte man Baranez (Lamm), daher wohl auch der Name: Baranken.

Eine ähnliche Sage ist in Russland über den großen Fisch Morff, oder Mors, verbreitet. Der Naturforscher Mihow erzählte zuerst, dass er aus dem nördlichen Ozean gegen die, das Eismeer begrenzenden, Berge hinaufstiege, und zwar durch Einhauen seiner großen Zähne in die Erde. Auf dem Berge angekommen, rolle er dann auf der andern Seite wieder hinab. Von den Zähnen dieses angeblichen Fisches mache man Hefte zu Messern, Dolchen, Degen u. s. w., die zu sehr hohen Preisen an Türken und Tartaren verkauft wurden. Auch diese Fabel erhielt sich durch die Schriftsteller über Russland bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Negebauer beschreibt das Seetier Mors so, dass man, trotz der Bergpromenade, das Walross des Eismeeres unfehlbar darin erkennt.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

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Russland 000. Europäisches Russland, Karte

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