Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 08. Krongebäude.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Was den Blick des Fremden in Petersburg am ersten, und auch wohl am stärksten frappiert, das sind die sogenannten Krongebäude. Zu ihnen gehören sämtliche Staatsbauten. Nächst den kaiserlichen Palästen, den Kirchen, den Admiralitäts-, Generalstabs- und Senats-Gebäuden, so wie den Theatern, Kasernen etc. verdienen die Erziehungs-Anstalten eine besondere Aufmerksamkeit. Sie kosten dem Staate ein, nur in Russland erschwingbares, Geld, und der damit verbundene Aufwand wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, dass der Wahlspruch des vierzehnten Ludwig: „I'état c'est moi!“ nicht nur auch der des Kaisers ist, sondern dass er auch für den Staat sorgt, wie für seine eigene Person. Außer den mannigfaltigen Militär- und Zivil-Instituten bilden die Bergbau- und Forst-Corps die sorgsamsten Erziehungs-Anstalten für die Jugend. Diese merkwürdigen palastähnlichen Gebäude sind mit allen Erfordernissen für Gesundheit und Bequemlichkeit der Bewohner versehen, und die Behandlung der Schüler entspricht vollkommen den Erwartungen, zu denen der äußere Anblick dieser Anstalten berechtigt. Die Aufnahme der Knaben und Jünglinge unterliegt keiner großen Schwierigkeit, da, wie gesagt, hierbei das Interesse des Staats vorwaltet, dem man nicht genug tüchtige Diener erziehen zu können glaubt. Mit dem Eintritt in diese Corps ist nicht nur für alle materiellen und geistigen Bedürfnisse des Eleven bis zu seiner vollendeten Ausbildung gesorgt, sondern gewissermaßen für sein ganzes Leben. Die, auf dem Eintretenden haftende, Verpflichtung, nämlich, nach überstandenen Abiturienten-Examen, mehrere Jahre dem Staate dienen zu müssen, schließt zugleich die Verpflichtung des Staates in sich, nach Verlauf dieser Jahre für eine geeignete Anstellung des jungen Staatsdieners zu sorgen. Die Erziehungs-Art in diesen Corps ist, wie in der école polytechnique zu Paris, eine völlig militärische, wie denn überhaupt jeder Staatsdiener Rang und Klasse des Militärs erhält. Diese Einrichtung erzieht einen eigenen Dienstadel, der den Geburtsadel an Schätzung und Wert im geselligen Leben bei Weitem übersteigt. Der „Dienstadel" bildet einen kräftigen Mittelpunkt zwischen dem Erbadel und dem Bürgerstande, und in ihm finden die schroffen Gegensätze der hohen Aristokratie ihren natürlichen Schwerpunkt. Zu den längst bestehenden Kron-Erziehungs-Instituten gründete der Herzog von Oldenburg vor ungefähr zwölf bis vierzehn Jahren eine „Rechtsschule", die unter dessen Auspizien zu den erfreulichsten Resultaten führte, und den Dikasterien eine Anzahl von Beamten liefert, die namentlich ihrer Unbestechlichkeit wegen in der höchsten Achtung des Volkes stehen. Es kann für einen solchen Beamten keine, Vertrauen erweckendere, Empfehlung geben, als: aus der oldenburgischen Rechtsschule zu stammen. Durch den Erfolg dieser Unternehmung angefeuert, gründete der edle Herzog im Jahre 1840 eine Ackerbauschule bei Kalomeja, 9 Werst von Petersburg, die auch bereits die besten Resultate liefert. Die jungen Leute, welche dort in den verschiedensten Zweigen der Landwirtschaft theoretisch und praktisch gebildet werden, verlassen die Anstalt nach vollendetem Kursus, um in entfernte Provinzen des Reichs gesendet zu werden und dort, als Lehrer oder Beamte angestellt, auf die steigende Kultur der Landwirtschaft zu wirken. Es existieren derlei Anstalten mehrere im Lande; was aber die Oldenburgische vor allen andern vorteilhaft auszeichnet, ist der moralische Fond, der daselbst zu einer höheren Geltung gelangt und dem Beamtenstande alljährlich eine Anzahl Individuen liefert, deren Inkorruptibilität sprichwörtlich geworden ist; sicher eine hohe Wohltat für ein Land, das an dieser Eigenschaft keinen Überfluss leidet. Die öffentlichen Erziehungs-Anstalten (Corps genannt) stehen unter dem speziellen Schutze, ja, so zu sagen, unter der persönlichen Ober-Aufsicht des Kaisers. Vor seinen „visites domiciliaires" sind sie weder Tag noch Nacht sicher. Oft springt Nikolaus von seinem eisernen Feldbette (denn auf einem andern hat er nie geschlafen) mitten in der Nacht auf, schwingt sich auf seine einspännige Droschke und stattet den öffentlichen Instituten seine nächtliche Inspektions-Visite ab. Nicht selten bedient er sich auch des ersten besten Fuhrwerks, das er an den Straßenecken findet. So fuhr ihn ein Isworstschik einst in einer schneeigen Nacht in seinem Schlitten nach einem entfernten Teile der Stadt. Das Fuhrwerk musste sehr lange warten, und als der Kaiser wieder herab kam, es zu besteigen und bezahlen wollte, fand es sich, dass er kein Geld bei sich hatte. Schmunzelnd meinte der Jsworstschik, das habe nichts zu bedeuten, und als der Zar, sich in den Schlitten werfend, zerstreut ein „Na domo" (nach Hause) rief, trieb jener sein finnländisches Pferdchen im gestreckten Trabe dem Winterpalais zu, und hielt in dessen Nähe plötzlich an, den Fuhrherrn fragend anschauend. Befremdet stieg der Kaiser ab, bestellte ihn für den nächsten Abend an denselben Ort, und fragte weggehend: „Kennst Du mich?" Ein pfiffiges „Nein" war die Antwort, und am nächsten Abend erhielt er eine stattliche Belohnung, wohl minder für sein Zutrauen, als seine schelmisch schlaue Diskretion. Bei solchen nächtlichen Visiten in den Corps finden strenge Untersuchungen statt. Der erste Blick des Kaisers beim Eintritt in den Korridor ist auf das Thermometer gerichtet; wehe! wenn der nicht die vorgeschriebenen 14 Grad anzeigt. Dann werden die Säle durchwandert, ob überall Licht, überall die diensttuenden Dujouranten wachend sind. Nun werden die Betten der Schüler untersucht; der Kaiser zieht die Decken herab, und in der einen Hand ein Licht, wendet er mit der andern die Buben hin und her und untersucht aufs Strengste die Reinlichkeit der Wäsche und Körper. Oft fordert er sie auf, um ihre Körperstärke zu erproben, mit ihm zu ringen, und es müsste für den plötzlich hinzutretenden Fremden kein uninteressantes Schauspiel sein, den Selbstherrscher aller Reussen zu sehen, wie fünf bis sechs Knaben an seinem gigantischen Körper wie an einem Obstbaume hängen, und die äußerste Kraft aufbieten, den Herrn über vierzig Millionen Menschen auf den Fußboden zu werfen. Heinrichs IV. Replik an den spanischen Gesandten: „vous êtes père? je puis donc continuer ma curse!“ hat bis auf Meidinger alle Grammatiken und Vademecum's füllen helfen; von den väterlichen Spielen des mächtigsten Monarchen Europas mit wildfremden Knaben weiß man nichts als die lächerlichsten und abenteuerlichsten Gerüchte, die Müßiggang und Plauderwut erfinden. In den vertraulichsten Familienzirkeln des Hofes wird nicht selten über diese Ausgeburten einer korrupten Phantasie gescherzt, und als Beweis, dass solche Albernheiten zu seinen Ohren kommen, sagte Nikolaus zu dem charmanten Vicomte de Custine, als er ihm die Knaben in den Corps zeigte, deren munteres, frisches Wesen jenem auffiel: Voici de ces jeunes gens, dont je dévore chaque semaine quelques uns*); und Graf Orloff, der gerade hinzutrat und ihm vorgestellt wurde, präsentierte sich selbst als le fameux empoisooneur!**) —

*) Hier sind einige dieser jungen Leute, ich verschlinge jede Woche ein paar
**) der berühmte Giftmischer


Da ich des Vicomte de Custine erwähne, kann ich nicht umhin, auch seines traurigen Buches zu gedenken, das durch seine drei Auflagen und den, darin enthaltenen, Unsinn eine momentane Berühmtheit erlangt hat. Ich will nicht von den Widersprüchen, den Inkonsequenzen und Äußerungen persönlicher Rücksichten und Leidenschaften sprechen, von denen das Buch wimmelt, ich will mich nur einfach an die Tatsache halten, dass Monsieur de Custine es unternahm, der Lesewelt in zwei dicken Groß-Oktavbänden eine, auf eigene Anschauung gegründete, Schilderung der politischen und sozialen Verhältnisse eines Landes zu liefern, dessen Sprache und Sitten ihm völlig fremd waren, das er nie zuvor betreten, und in dem er, um die gehörigen Materialien zu sammeln, sich — beinahe ganzer drei Monate aufhielt, eine Zeit, die er mit Visiten, Bällen, Konzerten, Theater, Paraden, Manövers, Hoffesten und überdies noch mit Reisen nach Moskau, Charkow und, glaube ich, auch nach Kasan verbrachte. Hätte der edle Vicomte, der in dem ersten Teile seines schlechten Buches — noch in Petersburg geschrieben — den Kaiser wie ein Schoßhündchen beleckte, in der Hoffnung, die nachgesuchte Amnestie für seinen polnischen Protégé zu erhalten, und nach dem Scheitern dieser Hoffnung im zweiten Teile denselben Mann mit Indiskretionen, Unwahrheiten und unlauterem Geschwätz aller Art überschüttete — hätte der edle Vicomte seine Tageszeit verbracht in den Straßen, auf den Plätzen, durch die öffentlichen Gebäude, Hallen, Wirts-, Wein-, Kaffeehäuser u. s. w. zu bummeln, und Abends, statt glänzende Soiréen zu besuchen, sich zu seinem Dwornick gesetzt und mit ihm sich über das Treiben, Leben und Leiden der Russen unterhalten, so hätte er mehr Wahrheit und mehr Wissenswertes erfahren, als in den Kotterieen, in die er trempirte und die seine echt französische Schwatzhaftigkeit missbrauchten, um ihm allerhand Märchen aufzubinden, die unter die Leute zu bringen in ihren Kram passte, und zu deren Verbreitung sie nun, nach Kotzebue, keiner Glocken mehr bedurften, da die Frau Base bereits darum wusste. Es gehörte aber damals auch etwas mehr Charakter dazu, als dessen sich Hr. v. Custine erfreut, um nicht in das allgemeine Horn zu stoßen, denn es herrschte zu jener Zeit ein so hartes Vorurteil gegen Russland, dass es bis zu den größten persönlichen Ungerechtigkeiten führte, und in Deutschland war das, natürlich der Mode und Nachahmungssucht wegen, nicht minder der Fall als in Frankreich. Nicht lange nach dem Erscheinen besagten Werkes kehrte ich aus Russland zurück und traf an einem Oktober-Tage unter den Linden den, seiner seltenen Talente, seiner Gelehrsamkeit und seines männlichen Charakters wegen, hochachtbaren und von allen, die ihn kennen, hochgeachteten Staatsrat Gretsch. Bei unserem Wiedersehen ward er von einer fast kindlichen Wehmut ergriffen. „Mein Gott! rief er, Sie hier und das wusste ich nicht; welch ein Unglück! welche Tage habe ich hier verlebt!" Und nun ergoss er sich in Klagen über das geringschätzige, misstrauische Benehmen, das er von allen Seiten erfahren und dem er sich Preis geben musste, so lange seine Geschäfte, rein literarischer und wissenschaftlicher Natur, ihn an Berlin fesselten. Diese waren beendet und morgen wollte er reisen, und auf meine Bitte, nur noch Einen Tag zu verweilen, versicherte er, er hielte es um keinen Preis länger aus, und wünsche nur, recht viele Berliner in Petersburg zu bewillkommnen, damit sie eine schwache Idee von Gastfreundschaft bei den rohen nordischen Barbaren sich aneignen könnten. Während solcher allgemeinen Stimmung erschien das Buch des Hrn. v. Custine und erregte, wenn auch ein flüchtiges, doch großes und allgemeines Interesse; auch dem Kaiser kam es zu Händen, und ein Zufall spielte mir ein Exemplar in die Hände, in dem er selbst die markantesten Stellen rot angestrichen hatte. Ob er sich über die Bosheit mancher Beziehungen geärgert, weiß ich nicht; dass er über die Fülle von Albernheiten aber oft herzlich gelacht, das glaube ich aus eigner Erfahrung verbürgen zu können.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

007 St. Petersburg, Die Börse

007 St. Petersburg, Die Börse

008 St. Petersburg, Der Kaiserliche Winterpalst

008 St. Petersburg, Der Kaiserliche Winterpalst

009 St. Petersburg, Die Isaakskirche

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013 St. Petersburg, Der Narwa- Triumphbogen (Errichtet 1816)

013 St. Petersburg, Der Narwa- Triumphbogen (Errichtet 1816)

014 Sternwarte von Pulkowa

014 Sternwarte von Pulkowa