Ukrainische Geschichte - ein Jahrhundert der Kämpfe mit Moskau

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Die Befürchtungen des Kiewer Metropoliten waren nicht unbegründet, denn schon der Unterzeichner des Perejaslawer Vertrages, Zar Alexey, macht sich vertragsbrüchig, indem er hinter dem Rücken Chmelnickyjs mit den Nachbarstaaten Pläne schmiedete, die mit der staatlichen Souveränität der Ukraine im Widerspruche standen. Chmelnickyj sieht sich nach neuen Freunden um, wobei ihn der Tod ereilt. Sein Nachfolger Wyhowskyj bricht mit Moskau und geht einen Bund mit Polen ein, demzufolge die Ukraine als ein ebenbürtiges Großfürstentum mit eigener Armee, eigenem Münzwesen usw. und mit einem gewählten Hetman an der Spitze den Polenkönig als Großfürsten anerkannte. Die moskowitische Armee erlitt von Wyhowskyj bei Konotop eine fürchterliche Niederlage. Aber das gegenseitige Misstrauen beider unierten Völker konnte durch eine noch so geschickte Diplomatie nicht überbrückt werden. Die Union von Hadiatsch war nur von kurzer Dauer. Es bricht eine Periode der größten Wirrnisse in der Ukraine an, die in der Teilung der Ukraine zwischen Moskau und Polen 1667 ihr vorläufiges Ende findet. Der westliche Teil des Landes, zur rechten Seite des Dniepr, gerät an Polen, der östliche, rechts des Flusses, an Moskau. In einem späteren Vertrage wird ein Teil der westlichen Ukraine der Türkei abgetreten, der gewaltige Landstrich zwischen dem Dniepr und Dniester aber als neutral erklärt und gewaltsam entvölkert.

Letzterer Akt bildete den traurigen Abschluss einer Erhebung, die die Vereinigung beider Teile der Ukraine bezweckte. Seit der Teilung gab es zwei ukrainische Hetmanen. In der Person des Hetmans der mit Polen vereinigten westlichen Ukraine, Peter Doroschenko, meldet sich ein glänzender Verfechter der Idee der Unabhängigkeit der vereinigten Ukraine und gegen die Verpflichtung der Türkei, „die ganze Ukraine bis Przemysl und Sambor zu befreien“, nimmt er das Protektorat des Sultans als dessen Vasall an. Trotz vielfach geglückten Kämpfen gerät jedoch Doroschenko in die Hände des Zaren, der ihn nach dem Norden als einen Wojwoden verbannt. Nicht so glimpflich behandelte Moskau die anderen Kämpfer um die ukrainische Selbständigkeit. Der Zeitgenosse Doroschenkos, Hetman der östlichen Ukraine Mnohohrischnyj, bei dessen Wahl Moskau den Perejaslawer Vertrag mit der Einschränkung bestätigte, dass dem Hetman kein Recht mehr zustehen sollte, Gesandte fremder Mächte zu empfangen, wurde in eine Falle gelockt und nach Sibirien verschickt. Sein Los teilte auch sein Nachfolger Samojlowytsch, welcher selbst nach Sibirien verbannt wurde, dessen Sohn aber als Aufwiegler die Todesstrafe erlitt. Die Unzufriedenheit der Kosaken über diese Gewalttätigkeiten suchte die Regierung dadurch zu paralysieren, dass sie einerseits unter den Kosakenoberen Intrigen säte, andererseits aber die Freiheiten der Ukraine bei jeder neuen Hetmanswahl, wenn auch immer in beschränktem Ausmaße, bestätigte. Fast unmerklich machte die Ukraine den Umwandlungsprozess aus einem selbständigen Staatswesen zur Stellung einer Provinz durch. Noch bei der Wahl Mnohohrischnyjs wurde ein Vertrag zwischen Moskau und der Ukraine nach internationalen Gebräuchen erneuert, aber seinem Nachfolger selbst die beschränkte Möglichkeit, auf die auswärtige Politik Einfluss zu nehmen, genommen, die in der Teilnahme der ukrainischen Delegierten an diplomatischen Konferenzen in Petersburg zunächst doch noch immer gegeben war. Im Lande selbst trieb Moskau sein Zerstörungswerk dadurch, dass es seinen Kreaturen zu Würden in der Ukraine verhalf, und setzte seinem Unterjochungswerke die Krone auf, indem es trotz verzweifelten Protestes die ukrainische Geistlichkeit dem Moskauer Patriarchen unterordnete.

Noch größere Fortschritte machte das Unterjochungswerk unter dem Hetman Iwan Mazeppa. Der glühende Patriot und geniale Politiker musste es durch Jahrzehnte gewähren lassen, dass die Blätter von dem Baume der Autonomie der Ukraine eines nach dem andern herunterfielen, und wartete nur den geeigneten Moment ab. Doch wer kennt nicht den tragischen Ausgang des Tages, an dem mit dem tapferen Schwedenkönig auch die Ukraine ihre größte Niederlage erlitt und der im Verein mit Karl XII. ausgesponnene Traum Mazeppas, den ukrainischen Staat wieder zu errichten, zerrann. Schon vor der Schlacht bei Poltawa hatte Peter der Große seine Rachegelüste befriedigt. Er eroberte den Sitz Mazeppas, Baturyn, dessen Einwohner er sämtlich abschlachten ließ, Mazepa selbst wurde in Anwesenheit der Kosakengeneralität in effigie aufgehängt und über ihn feierlich der Bannfluch ausgesprochen, der bis vor 15 Jahren in ganz Russland am ersten Sonntag der großen Fastenzeit wiederholt wurde.*)

*) Die Freunde Mazeppas, die mit ihm das Exil teilten, bemühten sich, der Ukraine mit Hilfe fremder Staaten die Freiheit zu bringen. Die von dem in der Türkei gewählten Nachfolger Mazeppas, Orlyk unternommene Aktion mit der Türkei scheiterte; es gelang der Türkei, bloß die — natürlich nie gehaltene — Verpflichtung Peter dem Großen abzugewinnen, dass er sich in die Angelegenheiten der Ukraine nicht einzumischen habe. Die ukrainischen Emigranten suchten Zuflucht in verschiedenen Ländern Europas, hauptsächlich in Schweden; Orlyk selbst trat zuletzt in die französische Armee als Brigadier ein.

Der Umwandlungsprozess der Ukraine in eine russische Provinz ging jetzt ungehindert vor sich. Die Hetmansgewalt wurde gänzlich unterdrückt, dem Hetman ein Kleinrussisches Kollegium beigegeben, welches bald die ganze administrative Gewalt an sich riss. Der Ukraine wurde offiziell der Name Kleinrussland und dem ukrainischen Volke die Bezeichnung „k1einrussisch“ aufgezwungen. Die politischen Geschäfte der Ukraine, die bisher dem Ministerium des Äußeren oblagen, wurden als die Geschäfte einer gewöhnlichen Provinz dem Senate unterstellt. Damit die Kraft des Kosakentums gebrochen werde, zerstreute Peter der Große die ukrainische Armee nach allen Windrichtungen, schickte einen Teil in den Krieg gegen die Türkei, den anderen gegen Persien; gegen 70.000 Kosaken wurden aber unter dem Verwande von Kriegszügen an die Newa und an die Wolga geschickt, wo den wackeren Kriegern statt des Säbels die Schaufel in die Hand gedrückt wurde. Mit den Knochen der von Epidemien hinweggerafften ukrainischen Kosaken wurde der Grund unter den Bau von Petersburg gelegt. Seit dem Tode des Nachfolgers Mazeppas verlor die Hetmanswürde ihre ganze Bedeutung oder wurde überhaupt nicht erneuert. Der provisorisch zur Hetmanswürde erhobene, nicht mehr aus freier Wahl hervorgegangene Hetman Polubotok wird in das Fort Petropawlowsk gesteckt. Die im Jahre 1750 vorgenommene Wahl des letzten Hetmans der Ukraine, des Grafen Kyrill Rasumowskyj, war nur ein Ausfluss der persönlichen Sympathien der Zarin Elisabeth für den Bruder ihres kirchlich angetrauten Gemahls aus dem ukrainischen Kosakengeschlechte Rosum.

Aber der Geist der ukrainischen Unabhängigkeit war noch lange nicht geschwunden und der Protegé der Zarin Elisabeth, der sich auch das Wohlwollen Katharinas II. zu erwerben verstand, ging insgeheim ans Werk, in seinem Geschlechte eine Hetmansdynastie zu begründen. Eine dahingehende Petition der Kosakenoberen wurde natürlich nicht nur abschlägig beschieden, sondern ließ bei der Zarin den Entschluss zur Vornahme von Maßregeln reifen, „dass die Zeit und der Name der Hetmanen verschwinde“.

Im Jahre 1764 wurde die Hetmansgewalt definitiv abgeschafft, und während sich heute, da wir diese Zeilen schreiben, auf dem Boden der Ukraine große Ereignisse vorbereiten, erleben die Ukrainer gleichzeitig das traurige 150jährige Jubiläum des definitiven Verlustes ihrer staatlichen Unabhängigkeit (1764 bis 1914).

Wohl war noch ein letzter Überrest der ukrainischen Autonomie in der Organisation der Saporoher oder Sitsch-Kosaken geblieben, die sich von den als Kriegerstand im Lande angesiedelten Kosaken dadurch unterschieden, dass sie ein autonom verwaltetes befestigtes Lager am unteren Dniepr unterhielten. Aber auch sie konnten der Nivellierungspolitik der Zarin Katharina nicht standhalten, im Jahre 1775 wurde ihre Festung erobert und zerstört, der Oberbefehlshaber Kalnyschewskyj aber im Kloster Soloweck interniert, wo er in der schrecklichen Einzelhaft bis 1801 sein Leben fristete. Die Kosaken selbst wurden teils an die Scholle gebunden, teils in reguläre privilegierte Kavalleriegattung umgewandelt, ein Teil wanderte aber aus und gründete ein Kriegslager an der Mündung der Donau auf türkischem Territorium. Auch auf österreichischem Territorium suchten die ausgewanderten Kosaken Zuflucht. Sie kehrten schließlich, an der Neige des 18. Jahrhunderts, nach Russland zurück.

Mit den Maßregeln, die selbständige Ukraine zu unterdrücken, gingen die Bemühungen der russischen Regierung dahin, das ukrainische Volk auch durch soziale Knechtung mürbe zu machen. Während die russische Regierung die raffiniertesten Mittel in Bewegung setzte, um das einfache Volk gegen die besitzenden ukrainischen Klassen auszuspielen, während die Tätigkeit des Kleinrussischen Kollegiums durch den Vorwand beschönigt wurde, das Volk gegen die „kleinen Tyrannen“, d. h. die Kosakenoberen, in Schutz zu nehmen, wurde allmählich auch in der Ukraine, die seit den Zeiten Chmelnickyjs keine Leibeigenschaft kannte, diese Institution unter Katharina II. in einer noch krasseren Form eingeführt, als sie jemals unter der Polenherrschaft bestand. Die Agitation der russischen Regierung gegen die Träger der ukrainischen Unabhängigkeit vermochte jedoch das Volk nicht umzustimmen. Als Katharina II. im Jahre 1767 im Vertrauen auf die Erfolge dieser Agitation die ukrainischen Stände ihre Wünsche in der von ihr einberufenen Verfassungskommission vorbringen ließ und die Änderung und Besserung der Verhältnisse in Aussicht stellte, erklärten die Mandanten sämtlicher ukrainischen Stände, es sei der Wunsch der Nation, dass nicht nur die Überreste der früheren Einrichtungen nicht aufgehoben, sondern dieselben in der Form ergänzt werden, wie sie im Perejaslawer Vertrage festgesetzt wurden. Doch war das Schicksal der Ukraine in Russland bereits besiegelt. Selbst das zur Hälfte aus Ukrainern bestehende „Kleinrussische Kollegium“ wurde 1782 abgeschafft und das Land in Gouvernements eingeteilt.