Ukrainische Geschichte - die ältere Geschichte der Ukraine
Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Die Ukrainer wurden nicht nur von ihren russischen Feinden um ihre Freiheit, sondern auch von der Geschichtswissenschaft um ihre Geschichte gebracht. Die Geschichte des ukrainischen Großfürstentums Kiew (10. bis 12. Jahrhundert) und des ukrainischen Königreiches Galizien und Lodomerien (13. bis 14. Jahrhundert) wird von der europäischen Geschichtswissenschaft bekanntlich als russische Geschichte behandelt. Diese Tatsache findet ihre Erklärung darin, dass der Mittelpunkt dieser Geschichte die berühmte Dynastie der normannischen Warägo-Russen war. die im 10. Jahrhundert um Kiew, dem Mittelpunkte des damals unter verschiedenen Stammesnamen auftretenden ukrainischen Volkes ein mächtiges Staatswesen gründete und dem ganzen beherrschten Gebiet ihren dynastischen Namen aufwarf. Die Kiewer Großfürsten erstreckten allmählich ihre Herrschaft über die slawischen Stämme im Norden und über Gebiete mit finnischer Bevölkerung, die sich leicht slawisieren ließ und den moskowitischen Typus hervorbrachte. Der bereits erwähnte russische Anthropologe Iwanowskij stellt fest, dass der russische Typus einen Übergang zum mordwinischen und altaitatarischen bildet. Während sich im Süden, dem eigentlichen Schauplatze der „russischen“ Geschichte, schon seit dem 12. Jahrhunderte der Terminus „ukrainskyj“ (ukrainisch) als Volksbezeichnung herausbildet, entsteht im slawisch-finnischen Norden die Staats- und Volksbezeichnung „moskowskij“ und „Moskwa“. Die Herrschaft über das nördliche Susdal-Moskau war von dem Kiewer Großfürsten auf Angehörige der Dynastie übertragen worden, die untereinander in einem losen Zusammenhange blieben. Die bald eingetretene Auflösung der dynastischen Bande zwischen den warägo-russischen Fürsten im Süden und im Norden bedeutete nur einen natürlichen Scheidungsprozess zwischen den Ukrainern und Moskowitern. Zwischen dem moskowitischen Reiche und den ukrainischen Fürsten aus der warägo-russischen Dynastie entbrennen langwierige Kämpfe, bis es dem Moskowiterreiche gelang, Kiew, das Reich des Südens, zu Falle zu bringen, ohne sich aber dauernd in dessen Besitz setzen zu können.
Aus dieser Darstellung ist zu ersehen, dass alles, was uns als ältere russische Geschichte präsentiert wird, historisches Gut des ukrainischen Volkes ist. Während die Ukraine, wie der polnische Historiker Lelewel sagt, damals auf der gleichen Kulturstufe stand wie die übrigen europäischen Länder, während die Ukrainer, wie der polnische Chronist Stryjkowski verbürgt, um mehr als 200 Jahre früher die Buchstabenschrift kannten als selbst ihre polnischen Nachbarn, und ihre Hauptstadt Kiew als Knotenpunkt des osteuropäischen Handels in so großer Blüte stand, dass sich keine andere slawische Stadt mit ihr vergleichen durfte, war Moskau bis zu den Zeiten Peters des Großen ein Nest der Finsternis, wo die aus der Ukraine kommenden Kulturträger, die hier das Buchdruckergewerbe einführten, als Zauberer verfolgt wurden. — Grundverschieden war auch die Verfassung beider Staatsorganisationen. Während im Reich Kiew nebst Herrschergewalt das demokratische Prinzip in dem zur Mitwirkung an den Staatsgeschäften herangezogenen Fürstengeleite, vorallem aber in den Versammlungen aller Freien stark zur Geltung kam, behauptete sich in Moskau ungeteilt das dem Tatarenchanat entlehnte despotische Prinzip.
In demütiger Unterwürfigkeit überdauerte Moskovien die Tatarenherrschaft, während Kiew und das spätere Hauptzentrum der ukrainischen Macht, das Königreich Galizien und Lodomerien (Halitsch und Wladimir), an der Erschöpfung im ewigen Kampfe gegen die asiatischen Nomaden zugrunde ging. Eines der ukrainischen Länder, das Königreich Galizien, wird um die Mitte des 14. Jahrhunderts polnischer Besitz. Alle anderen, ehemals ukrainischen Länder werden Bestandteile des von den litauischen Fürsten gegründeten Litauisch-ruthenischen Großfürstentums, in welchem das ukrainische Element im öffentlichen Leben und in der Kultur vorherrschte. Ruthenisch war die Amts- und Hofsprache dieser Herrscher auch nachdem sie Könige von Polen geworden waren und zwar bis Ende des 16. Jahrhunderts. Die litauische Gesetzsammlung „Litowskij Statut“ war in seiner ersten Redaktion überhaupt nur in ruthenischer Sprache geschrieben.
Mit der vollzogenen Union Polens, Litauens und der Ukraine im Jahre 1569 beginnt die politische Bedeutung der Ukraine zu sinken. Während sich der Gedanke der politischen Selbständigkeit der Ukrainer im Litauisch-ruthenischen Staate noch vielfach ausleben konnte, wurden ihm in Polen mit der Zeit Schranken gesetzt, die das ukrainische Volk nach einer hundertjährigen Zugehörigkeit zum Polenreiche in einem erfolgreichen Aufstande brach.
Aus dieser Darstellung ist zu ersehen, dass alles, was uns als ältere russische Geschichte präsentiert wird, historisches Gut des ukrainischen Volkes ist. Während die Ukraine, wie der polnische Historiker Lelewel sagt, damals auf der gleichen Kulturstufe stand wie die übrigen europäischen Länder, während die Ukrainer, wie der polnische Chronist Stryjkowski verbürgt, um mehr als 200 Jahre früher die Buchstabenschrift kannten als selbst ihre polnischen Nachbarn, und ihre Hauptstadt Kiew als Knotenpunkt des osteuropäischen Handels in so großer Blüte stand, dass sich keine andere slawische Stadt mit ihr vergleichen durfte, war Moskau bis zu den Zeiten Peters des Großen ein Nest der Finsternis, wo die aus der Ukraine kommenden Kulturträger, die hier das Buchdruckergewerbe einführten, als Zauberer verfolgt wurden. — Grundverschieden war auch die Verfassung beider Staatsorganisationen. Während im Reich Kiew nebst Herrschergewalt das demokratische Prinzip in dem zur Mitwirkung an den Staatsgeschäften herangezogenen Fürstengeleite, vorallem aber in den Versammlungen aller Freien stark zur Geltung kam, behauptete sich in Moskau ungeteilt das dem Tatarenchanat entlehnte despotische Prinzip.
In demütiger Unterwürfigkeit überdauerte Moskovien die Tatarenherrschaft, während Kiew und das spätere Hauptzentrum der ukrainischen Macht, das Königreich Galizien und Lodomerien (Halitsch und Wladimir), an der Erschöpfung im ewigen Kampfe gegen die asiatischen Nomaden zugrunde ging. Eines der ukrainischen Länder, das Königreich Galizien, wird um die Mitte des 14. Jahrhunderts polnischer Besitz. Alle anderen, ehemals ukrainischen Länder werden Bestandteile des von den litauischen Fürsten gegründeten Litauisch-ruthenischen Großfürstentums, in welchem das ukrainische Element im öffentlichen Leben und in der Kultur vorherrschte. Ruthenisch war die Amts- und Hofsprache dieser Herrscher auch nachdem sie Könige von Polen geworden waren und zwar bis Ende des 16. Jahrhunderts. Die litauische Gesetzsammlung „Litowskij Statut“ war in seiner ersten Redaktion überhaupt nur in ruthenischer Sprache geschrieben.
Mit der vollzogenen Union Polens, Litauens und der Ukraine im Jahre 1569 beginnt die politische Bedeutung der Ukraine zu sinken. Während sich der Gedanke der politischen Selbständigkeit der Ukrainer im Litauisch-ruthenischen Staate noch vielfach ausleben konnte, wurden ihm in Polen mit der Zeit Schranken gesetzt, die das ukrainische Volk nach einer hundertjährigen Zugehörigkeit zum Polenreiche in einem erfolgreichen Aufstande brach.