Abschnitt 2

Lieber Leser!


Man hat es mißbilligt, daß ich den russischen Dienst verlassen habe. Ich kam durch Zufall hin und durch Zufall weg. Ich bin schlecht belohnt worden; das ist wahrscheinlich auch Zufall; und ich bin noch zu gesund an Leib und Seele, um mir darüber eine Suppe verderben zu lassen. In der wichtigsten Periode, der Krise mit Polen, habe ich in Grodno und Warschau die deutsche und französische diplomatische Korrespondenz zwischen dem General Igelström, Pototzky, Möllendorf und den andern preußischen und russischen Generälen besorgt, weil eben kein anderer Offizier im Hauptquartier war, der so viel mit der Feder arbeiten konnte. – „Sie sind noch nicht verpflichtet“, sagte Igelström zu mir, als er mir den ersten Brief von Möllendorf gab. „Sie haben nicht geschworen.“ – „Der ehrliche Mann“, antwortete ich, „kennt und tut seine Pflicht ohne Eid, und der Schurke wird dadurch nicht gehalten.“ – Man hat den alten Stabsoffizieren Dinge von großer Bedeutung abgenommen und sie mir übergeben, als Möllendorf noch die Piliza zur Grenze forderte, und als man nachher russisch die Dietienen in Polen nach ganz eigenen Regeln ordnete und leitete. Igelström, Friesel und ich waren einige Zeit die einzigen, die von dem ganzen Plane unterrichtet waren. Ich habe gearbeitet Tag und Nacht, bis zur letzten Stunde, als der erste Kanonenschuß unter meinem Fenster fiel; und mir deucht, daß ich denn auch als Soldat meine Schuldigkeit nicht versäumte, wenn ich gleich während des langen Feuers kartätschensicher zuweilen in einer Mauernische neben den Grenadieren saß und in meinem Taschenhomer blätterte. Zu den russischen Arbeiten hatte der General Dutzende; zu den deutschen und französischen, die der Lage der Sachen nach nicht unwichtig sein konnten, niemand als mich; das wird Igelström selbst, Apraxin, Pistor, Bauer und andere bezeugen. Als der Franzose Sion ankam, waren die wichtigsten Geschäfte schon getan. Dafür wurde mir dann und wann ein Geiger vorgezogen, der einem der Subows etwas vorgespielt hatte. Das ist auch wohl anderwärts nicht ungewöhnlich. Ich hatte das Schicksal, gefangen zu werden. Der General Igelström schickt mich nach Beendigung der ganzen Geschichte mit einem schwerverwundeten jungen Manne, der mein Freund und dessen Vater der seinige war, nach Italien, damit der Kranke dort die Bäder in Pisa brauchen sollte. Wir konnten nicht hin, weil die Franzosen alles besetzt hatten. Die Kaiserin starb; ich konnte unmöglich an dem Tage zurück auf meinem Posten sein, den Paul in seiner Ukase bestimmt hatte, und wurde aus dem Dienst geschlossen. Man hat in Rußland wenig schöne Humanität bei dem Anblick auf das flache Land. Schon vorher war ich bald entschlossen, nicht zurückzugehen, und es ward nun ganz. Der Kaiser gab mir auf meine sehr freimütige Vorstellung an ihn selbst, da ich durchaus keinen Dienstfehler gemacht hatte, endlich den förmlichen ehrenvollen Abschied, den mir der General Pahlen zuschickte. Es ist sonst Gewohnheit in Rußland, Offizieren, die einige Dienste geleistet haben, ihren Gehalt zu lassen; ich erhielt nichts. Das war vielleicht so Geist der Periode, und es würde Schwachheit von mir sein, mich darüber zu ärgern. Wenn ich jetzt etwas in Anregung bringen wollte, würde man die Sache für längst antiquiert halten, und der Sinn des Resultats wird heißen: Wir Löwen haben gejagt. – Ich will mir den Nachsatz ersparen. Wenn ich nicht einige Kenntnisse, etwas Lebensphilosophie und viel Genügsamkeit hätte, könnte ich den Rock des Kaisers um ein Stückchen Brot im deutschen Vaterlande umhertragen.


Ich habe mich in meinem Leben nie erniedrigt, um etwas zu bitten, was ich nicht verdient hatte; und ich will auch nicht einmal immer bitten, was ich verdiente. Es sind in der Welt viele Mittel, ehrlich zu leben; und wenn keines mehr ist, finden sich doch einige, nicht mehr zu leben. Wer nach reiner Überzeugung seine Pflicht getan hat, darf sich am Ende, wenn ihn die Kräfte verlassen, nicht schämen, abzutreten. Auf Billigung der Menschen muß man nicht rechnen. Sie errichten heute Ehrensäulen und brauchen morgen den Ostrazismus für den nämlichen Mann und für die nämliche Tat.

Wenn ich vielleicht noch vierzig Jahre gelebt habe und dann nichts mehr zu tun finde, kann es wohl noch eine kleine Ausflucht werden, die Winkel meines Gedächtnisses aufzustäuben und meine Geschichte zur Epanorthose der Jüngeren hervorzusuchen. Jetzt will ich leben, so gut und ruhig man ohne einen Pfennig Vorrat leben kann. Es wird gewiß gehen, wie es bisher gegangen ist: denn ich habe keine Ansprüche, keine Furcht und keine Hoffnung.

Was ich hier in meiner Reiseerzählung gebe, wirst Du, lieber Leser, schon zu sichten wissen. Ich stehe für alles, was ich gesehen habe, insofern ich meinen Ansichten und Einsichten trauen darf; und ich habe nichts vorgetragen, was ich nicht von ziemlich glaubwürdigen Männern wiederholt gehört hätte. Wenn ich über politische Dinge etwas freimütig und warm gewesen bin, so glaube ich, daß diese Freimütigkeit und Wärme dem Manne ziemt, sie mag nun einigen gefallen oder nicht. Ich bin übrigens ein so ruhiger Bürger, als man vielleicht in dem ganz meißnischen Kreise kaum einen Torschreiber hat. Manches ist jetzt weiter gediehen und gekommen, wie es wohl zu sehen war, ohne eben besser geworden zu sein. Mache ich die Runde jetzt, ich würde wahrscheinlich mehr zu erzählen haben und Belege zu meinen vorigen Meinungen geben können. Freilich möchte ich gern ein Buch gemacht haben, das auch ästhetischen Wert zeigte; aber Charakteristik und Wahrheit würden durch ängstliche Glättung zu sehr leiden. Niemand kann die Sache und sich selbst besser geben, als beide sind. Ich fühle sehr wohl, daß diese Bogen keine Lektüre für Toiletten sein können. Dazu müßte vieles heraus und vieles müßte anders ein. Wenn aber hier und da ein guter, unbefangener, rechtlicher, entschlossener Mann einige Gedanken für sich und andere brauchen kann, so soll mir die Erinnerung Freude machen.


Leipzig, 1803 Seume

Nach gewissenhafter Überlegung habe ich im wesentlichen nichts verändern können. Faktisch waren die Dinge so, wie ich sie erzähle; und im übrigen ist meine Überzeugung nicht von gestern und ehegestern. Wahrheit und Gerechtigkeit werden immer mein einziges Heiligtum sein. Warum sollte ich zu entstellen suchen? Zu hoffen habe ich nichts, und fürchten will ich nichts. Über Vortrag und Stil werden freilich wohl die Kritiker noch manche Ausstellung zu machen haben, gegen deren Richtigkeit ich nicht hartnäckig streiten will. Aber es war mir unmöglich, das Ganze mehr umzuschmelzen, und die lebendigere Individualität möchte auch bei dem Guß mehr verloren als gewonnen haben. Ich lege dieses zwar nicht als ein vollständiges Gemälde, aber doch als einen ehrlichen Beitrag zur Charakteristik unserer Periode bei den Zeitgenossen nieder, und ich bin zufrieden, wenn ich damit nur den Stempel eines wahrheitliebenden, offenen, unbefangenen, selbständigen, rechtschaffenen Mannes behaupte. Gegen den Strom der Zeit kann zwar der einzelne nicht schwimmen, aber wer Kraft hat, hält fest und läßt sich von demselben nicht mit fortreißen. Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß einst ursprüngliche Gerechtigkeit sein werde, obgleich die unglücklichen Versuche noch viele platonische Jahre dauern mögen. Nur wirke jeder mit Mut, weil sein Tag währt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802