Aloys Wilhelm Schreiber - Die beiden Brüder.

Unter Hirzenach liegen auf jähen, mit Reben bewachsenen Felsen die zerfallenen Burgen Liebenstein und Sternenfels, welche insgemein die Brüder genannt werden. In den alten Zeiten der deutschen Tapferkeit und Minne lebte hier ein Ritter, der zwei Söhne hatte, die er sorgsam erzog. Mit den beiden Knaben wuchs ein Mägdlein heran, das elternlos war, aber reich an Besitztümern. Ihre Jugend ging in herrlicher Blüte auf, und beide Brüder liebten sie, aber ein jeder trug seine Liebe stillverschwiegen in sich.

Die Jungfrau kam nun in das Alter, in dem sie sich verheiraten sollte; und der Vater machte ihr den Vorschlag, unter seinen Söhnen zu wählen. Es war ihr nicht verborgen geblieben, daß in beiden dieselbe Neigung glimme, und sie wollte daher durch ihre Wahl keinen betrüben. Da bat sie der ältere Bruder, der sie dem jüngern geneigter glaubte, selbst, sich für diesen zu entscheiden.


Der alte Ritter segnete seine Kinder und legte ihre Hände ineinander, doch sollte der Tag der Trauung noch auf eine gewisse Zeit hinaus verschoben werden.

Der ältere Bruder sah das Glück des jüngeren ohne Neid, aber die Ruhe war aus seinem Herzen gewichen, und die Jungfrau kam ihm seit ihrer Verlobung nur noch liebenswürdiger vor. Er faßte daher den Entschluß, sich zu entfernen, und ging nach Rense zu dem Fürsten, der ihn gern in sein Gefolge aufnahm.

Um diese Zeit kam der heilige Bernhard an den Rhein und predigte das Kreuz. Fast von allen Burgen zogen Edle nach Frankfurt, wo Kaiser Konrad den frommen Abt dem Volke vorstellte, und ließen sich mit dem Kreuze bezeichnen. Bald wehte von allen Schlössern am Rhein die Fahne mit dem Zeichen des Erlösers, und täglich sah man zu Wasser und zu Land fröhliche Scharen wandern, die nach dem gelobten Lande zogen. Auf den jüngeren Bruder wirkte dies Beispiel mit unwiderstehlicher Gewalt, und er beschloß, gleichfalls nach Palästina zu ziehen und erst bei seiner Heimkehr seine Verlobte zum Altare zu führen. Der alte Vater schüttelte den Kopf, die Jungfrau suchte Tränen zu verbergen; aber der junge Ritter blieb bei seinem Vorhaben, sammelte ein Fähnlein und führte es nach Frankfurt zum Kaiser.

Der Vater starb bald darauf, und jetzt kehrte der ältere Sohn von Rense auf seine väterliche Burg zurück. Seine Liebe wollte wiederkehren in ihrer ganzen Stärke, aber er meisterte sie dadurch, daß er die Jungfrau gewissenhaft als seine Schwester betrachtete. – Zwei Jahre waren bereits vorübergegangen, als die Nachricht kam, daß der jüngere Bruder aus Palästina zurückkehre und eine schöne Griechin mit sich bringe, die ihm angetraut sei. Seine Verlobte versank in stillen Kummer und faßte den Entschluß, in ein Kloster zu gehen.

Der ältere Bruder aber entbrannte in edlem Zorn; er warf dem Boten, den der jüngere vorausgesandt hatte, den Handschuh vor die Füße und sagte: »Dies ist meine Antwort.« Zugleich rief er seine Mannen auf und traf Anstalten zum ernstlichen Kampfe.

Der Kreuzfahrer langte mit der Griechin auf der benachbarten Burg Sternenfels an, welche sein Vater für ihn erbaut hatte. Alsbald begann zwischen den beiden Brüdern eine blutige Fehde, und sie forderten sich schließlich zum Zweikampf heraus. Da trat die Jungfrau mit der Milde eines Engels zwischen sie und versöhnte sie miteinander. Hierauf schied sie aus dem friedlichen Aufenthalt ihrer Kindheit und nahm den Schleier.

Stille Trauer schwebte von nun an über den Zinnen von Liebenstein, aber auf Sternenfels war der Sitz lärmender Freude. Die Schönheit der Griechin und die Anmut ihres Umgangs zogen alle jungen Ritter der Gegend an, und sie ließ sich ihre Huldigungen gern gefallen.

Der ältere Bruder sah das Unglück des jüngern, ehe es dieser selbst erkannte, und verschaffte ihm Gelegenheit, sich von der Untreue seiner Gattin zu überzeugen. Der junge Ritter schnob Rache und wollte die Griechin ermorden, aber sie entfloh noch zur rechten Stunde.

Jetzt schloß der Ältere den Verzweifelnden in seine Arme und sprach zu ihm: »Laß uns miteinander ehelos leben und dadurch den Schmerz der edlen Jungfrau ehren, die ihre Jugend im Kloster vertrauert.« Sie gaben sich die Hände darauf und blieben unverehelicht und ungetrennt bis an ihr Ende. Mit ihnen erlosch ihr Stamm. Traurig blicken die Trümmer ihrer Burgen ins Tal herab und heißen noch heute » die Brüder«.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen