Russisches Leben - 02. Riga und Lievland und kurzgefasste Geschichte der deutschen Schwertritter

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, Kopenhagen, Reisebericht, Freundschaft, Freund, Tod, Glauben, Religion, Christentum
Ich beschloss, Kopenhagen, den Ort meiner wehmütigsten Erinnerungen zu verlassen und nach London zu gehen. In Folge dessen begab ich mich eines Morgens an den Hafen, um ein Schiff ausfindig zu machen, das mich dahin trüge; fand aber nicht, was ich suchte, sondern nur eine dänische Brigg, die bereit da stand, um sich noch heute auf den Weg nach Riga zu machen. Und so will ich dich sehen du großes Reich der Slawen, deren Geschichte mich schon in früher Jugend interessierte; will dich sehen alte Residenz Ruriks, Groß-Nowgorod, du einst so stolze Stadt! will dir auf den Ruinen deiner gefallenen Größe eine Träne der Wehmut nicht versagen; will dich sehen, Kiew, du Mutter der russischen Städte, will an Jaroslaw des Großen Grabe auch deinem einstmaligen durch Einheit erhabenen, aber durch Bruderkriege bis zum Schatten zerstörten Glanze eine Zähre der Rührung weinen! so sprach ich leise zu mir und willigte auf der Stelle ein in die Forderung des Kapitäns der dänischen Brigg. Schon am selben Abend trieb uns ein starker Süd-West auf die Ostsee hinaus.

Es waren unter sechs Passagiere. Am andern Tage erhob sich ein heftiger Nord-Ostwind und warf unser leichtes Schiff wie einen Apfel auf den empörten Wellen umher. Wir alle, bis auf einen Kaufmann aus Halle, wurden recht seekrank. Es ist ein abscheuliches Wesen, die Seekrankheit, sie muss empfunden werden, die vollständigste Beschreibung davon verschafft dem, der sie nie gehabt hat, nur eine unvollkommene Vorstellung davon. Als der Sturm sich wieder gelegt und das Schiff wieder ruhig ging, wurden wir auch wieder gesund und hatten den Mut, unsere Verwunderung darüber auszusprechen, dass der Hallenzer frisch und gesund geblieben war und einen guten Appetit zu Speise und Trank zu erkennen gegeben, während bei uns der bloße Geruch der besten Nahrungsmittel eine abscheuliche Revolution in unserm Innern hervorgebracht hatte. Der Kapitän lächelte und sagte, dass er auf allen seinen Seereisen noch keinen starken und dabei blatternarbigen Menschen gesehen, der von der Seekrankheit heftig angegriffen worden wäre. Wir sahen den Kapitän samt dem Hallenzer an und gewahrten erst jetzt, dass beide von den Blattern ziemlich entstellt waren. Am dreizehnten Tage kamen wir in der Nähe von Riga an. Dieser rusische Hafen bezeichnete uns der Kapitän mit dem Namen Boldera oder Bollera und sagte, dass wir hier ans Land müssten. Da erblickten wir auch schon einen russischen Zollaufseher im Range eines Offiziers, der mit sechs Soldaten zu uns ans Schiff gerudert kam. Die dänischen Matrosen hatten sich in ihre neuen Kleider gesteckt und jeder hatte einen nagelneuen Hut auf dem Kopf. Auf unsere Frage, was das zu bedeuten hätte, erwiderten sie, dass man ihnen die neuen Sachen wegnehmen würde, oder dass sie dieselben verzollen müssten, wenn sie sie nicht auf dem Leibe hätten. Sogleich fingen die Russen an, das ganze Schiff zu durchsuchen. Sie betrachteten genau die Wasserfässer und ähnliche Dinge, ob sie keinen geheimen Verborg enthielten, darin Branntwein versteckt sein könnte; an den alten Stiefeln, Strümpfen und Kleidern der armen Schiffsknechte rüttelten und schüttelten sie, ob kein Tee oder Kaffee herauskäme. Darauf spähten sie umher, wie alte Füchse, die auf der Lauer stehen. Der Kapitän aber hatte den Offizier zu sich in die Kajüte eingeladen, wo ein Gabelfrühstück, rundum mit Flaschen besetzt, bereit stand. Unsere Koffer und Reisesäcke wurden mit Bindfäden in die Kreuz und Quer gebunden und mit Pechlack zehn mal mehr versiegelt, als nötig war. Darauf brachte man uns ans Land, und wir gingen zu Fuße nach Riga. Am andern Tage begaben wir uns hier ins Zollamt (Tamoschnjä), wo unsere Effekten hingebracht waren und wo sie vor unsern Augen geöffnet und strenge untersucht wurden. Es ist eben so unangenehm als umständlich, auf einem Kauffarteischiffe in einem russischen Hafen anzukommen; denn man macht außerordentlich viel Umstände mit Allem, zumal mit dem Passe. Wer ein mal auf solchem Schiffe in Kronstadt bei St. Petersburg ankam oder von hier aus abging, der weiß etwas davon zu erzählen. Wir raten daher jedem Reisenden, wenn es von ihm abhängt, auf keinem Kaufahrer nach Russland zu gehen. Seit Jahren ist die Dampfschifffahrt ins Leben getreten, die das Reisen in jeder Beziehung so außerordentlich erleichtert, und welche die Passagiere bei ihrer Ankunft in einem russischen Hafen der unangenehmen Förmlichkeiten überhebt. Wie ganz anders ist die Behandlung, die man den Reisenden angedeihen lässt, welche auf Dampfschiffe in Russland ankommen!*) In Riga ruhte ich zwei Wochen von den Seestrapazen aus. Diese Stadt gründete ein deutscher Mönch, der später auch Bischof, ja sogar das weltliche Oberhaupt von Lievland wurde. Bis zum Jahr 1561 hatten die Heermeister der deutschen Schwertritter, von denen wir noch in der Folge reden werden, ihre Residenz hier aufgeschlagen. In der dritten Woche trat ich meine Reise zu Lande nach St. Petersburg an. Ich wollte der alten Stadt Wenden, wahrscheinlich im Jahr 1205 und ebenfalls von Deutschen gegründet, nicht vorbei reisen, und da der Weg von Riga hierher durch ein wahres Sandmeer führte, ging ich die paar Meilen zu Fuße. Noch am Abend besuchte ich die Ruine einer ehemaligen ungeheuren Ritterburg außerhalb der Stadt, in welcher die Heermeister der Schwertritter früher ihren Sitz hatten.

*) Aber wir raten auch jedem, der sich von seinen Effekten trennen muss, den Koffer, Sack oder wie die Behälter heißen mögen, mit seinem eigenen Siegel wohl zu versehen! Als ich in späteren Jahren per Dampfboot in St. Petersburg ankam, führte ich eine Kiste voll Bücher und Kupferstiche mit mir. Diese Kiste wurde im Zollamte blombiert und mir der Bescheid erteilt, sie samt den Büchern in der Zensur-Komitee wieder in Empfang zu nehmen. Als der Zensor die Kiste öffnete, um die Bücher in Augenschein zu nehmen, fehlten mir die schönsten Werke samt den Kupferstichen. Der Zensor riet mir dieser halben eine Bittschrift einzureichen, denn er war ein edler Mann, der sich über solchen gewalttätigen Diebstahl ärgerte und zu mir sagte, es sei dieses schon öfter vorgekommen. Die Bittschrift half indes nichts, die teuersten meiner Bücher waren fort. Ich hätte die Kiste auch mit meinem Siegel versehen müssen, da sie ohne Schloss war, was ich nicht getan hatte.

Von hier fuhr ich über Wolmar und Walk nach Dorpat. Auffallend war mir in hiesiger Stadt der Umstand, dass ich nicht nur unter den alten Einwohnern, sondern auch unter allen lievländischen Studenten selten einen fand, der die russische Sprache verstand. Das hiesige Burschenleben mit allen seinen Comments ist so rein deutsch, dass ich während der paar Tage, die ich hier verlebte, nicht anders glaubte, als ich befände mich in einer echt deutschen Universitätsstadt. Das einzige, was mich aus der Täuschung brachte war, dass die Musensöhne keine Kanonenstiefeln u. dgl. m. trugen, sondern alle in einer Uniform steckten. Noch im Jahr 1842 lernte ich in St. Petersburg zwei reiche junge lievländische Edelleute kennen, die ihre Studien auf der Universität zu Dorpat gemacht, und welche von der russischen Sprache so viel wie nichts verstanden, obgleich sie als Kandidaten der Rechte ausgetreten waren, folglich schon im Range eines Hauptmanns 2. Klasse standen. Kandidat wird der russische Student bei einem Abgang von der Universität genannt, wenn alle Professoren ihm eine hohe Zensur schrieben; denn schrieb Einer „mittelmäßig“, so heißt er nicht so und steht bloß im Leutnantsrang. Den beiden Kandidaten wurde es außerordentlich schwer, in St. Petersburg auch nur ein ihrem Range untergeordnetes Amt zu erhalten, trotz dem, dass sie mit glänzenden Empfehlungsschreiben hierher gekommen waren, weil sie nicht russisch verstanden, auf welches man vor Jahren gar nicht so sehr achtete.

Seit dem Jahr 1844 ist das anders; denn Kraft eines Kaiserlichen Ukases, kann Keiner auf russischen Hochschulen seine Studien vollenden, der nicht russisch spricht und nicht im Stande ist, irgend ein fremdes Werk in die russischer Sprache zu übersetzen. Und trotz dem, will und will es mit dem Studium der russischen Sprache nicht recht gehen, weil den deutschen Rittern von der Ostsee förmlich die Lust dazu fehlt. Von Dopart fuhr ich in einem langen gedeckten Wagen nach St. Petersburg, der Eigentümer desselben hieß Jakobson. Man findet noch viele schwedische Namen unter dem lievländischen Volke. Ein Studiosus aus Königsberg, der von den dörpt’schen Burschen brüderlich empfangen und einige Tage außerordentlich gut von ihnen bewirtet worden war, riet mir zu dieser Fahrt. Ein Paar Fräulein, eine Lievländerin und eine Russin, zwei vielseitig gebildete Damen, waren unsere Begleiterinnen. Das Russische aus ihrem Munde hörte sich so weich und lieblich an, dass ich darüber erstaunte. Auffallend ist es, dass die russische Sprache aus dem Munde eines Mannes, und spräche er auch noch so schön, nie so lieblich und harmonisch klingt, als aus dem einer Dame, zumal aus dem Munde einer St. Petersburgerin, die dem höheren Stande angehört. Die beiden Fräulein waren in ihrer zartesten Jugend hierher gekommen. Alle Moskowiter sprechen zwar reiner russisch, als die Bewohner der Residenz an der Newa, aber ihre Sprache klingt viel härter, ein wenig barbarisch.

Kreuzritter

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Geschichte der Kreuzzüge, Cover

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