Russisches Leben – 18. Iwan Iwanowitsch

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Moskau, Nationalsitten, Gastfreundschaft, Rangklassen
Wollten wir die Menge von Klöstern und Palästen mit allen ihren Luxusgegenständen, welche die vornehmen Russen in der Umgebung Moskaus besitzen, die vielen Vergnügungsörter, an denen sich Sonn- und Feiertags das Volk belustigt, u. dgl. m. schildern, so würde dieses der Raum unseres Werkes gar nicht fassen können. Aber einen Besuch bei einem alten biedern Russen, zu dem mich mein Freund führte, kann ich nicht unterlassen, hier zu erzählen. Es war ein origineller, sehr treuherziger und dabei sehr religiöser Mann, der seine Nationalsitte treu bewahrt hatte. Er hieß Iwan Iwannowitsch und mit dem Familiennamen Nowikow. Sein Haus war für jeden gebildeten Mann stets offen; aber ganz besonders gut nahm er jeden auf, der wie er, Iwan Iwannowitsch hieß. Mein Freund war sehr vertraut mit ihm, und der Alte war immer hoch erfreut, wenn er ihn besuchte. Als wir beide zu ihm kamen, und mein Freund mich ihm vorstellte und sich dabei den Spaß machte, indem er sagte, ich hieße Iwan Iwannowitsch, war der Alte voll der äußersten Freude, zumal er ein wenig deutsch sprach und mit mir sprechen konnte. Er ließ, mir zu Ehren, ein exzellentes Mittagessen bereiten, wozu er mehrere seiner Freunde einlud; der Champagner floss dabei wie ein Strom. Als wir darauf nach Hause gingen, musste ich ihm das Versprechen geben, ihn während meines Aufenthalts in Moskau noch recht oft zu besuchen. Das tat ich denn auch noch einige Male und er freute sich dabei ganz außerordentlich. Als ich nach mehreren Jahren nach Moskau zurückkehrte, fragte ich meinen Freund, was der gute Alte mache. Er liebt mich noch immer wie früher, sagte er, und hat wohl hundertmal nach Dir gefragt. Aber mit dem „Iwan Iwanowitsch“ ist es vorbei! fügte mein Freund lächelnd hinzu; doch das geht Dich nichts an, sondern nur Leuten, die seine Gastfreundschaft missbrauchten. Würdest Du ihn diesmal nicht besuchen, es täte ihm sehr leid, weil Du einen überaus guten Eindruck auf ihn gemacht hat, und er Dich nicht als Iwan Iwanowitsch, sondern als einen gebildeten Mann und meinen Freund empfangen wird. – Aber so erkläre Dich doch deutlich über das drollige Ding! sagte ich neugierig. Ei nun, sagte mein Freund, es kamen so viele zu ihm, die sich Iwan Iwanowitsch nannten, dass der Alte manchmal bedenklich den Kopf schüttelte, und als einmal. Einer kam, der auch so hieß, dessen ganzes Tun und Wesen ihm aber gar nicht gefiel, sagte er, derb, wie er manchmal ist: „Jeder Hund *) heißt Iwan Iwanowitsch!“ Und seitdem will er von allen ihm Unbekannten, die sich so nennen, nichts mehr wissen. –

*) Die alten Russen rechneten auch den Hund zu den unreinen Tieren, weshalb sie ihn auch nicht duldeten. Daher mag wohl das triviale Schimpfwort der Russen entstanden sein, nämlich Sukinsün (Hundesohn), insofern höchst abscheulich, als man damit Menschen schimpft. Dieser Schimpfname ist in Russland so üblich, dass Iwan Golowin, der freilich kein liebenswürdiges Bild von seinen Landsleuten aufstellt, sagt, mancher Erzbischof schimpfe seine Mönche „Sukinsün!“ Das haben wir nun zwar aus dem Munde eines solchen Geistlichen nie gehört, so viele wir deren auch kannten; dass aber Generale nicht selten ihre Offiziere, zumal wenn diese letztere russischbürgerlicher Herkunft sind, so schimpfen, haben wir mehr als einmal gehört. Im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts scheinen die Russen eine bessere Meinung von dem treuen Haustiere erhalten zu haben, denn der Zar Wassilij Wassilijewitsch hat die ersten Hetzjagden an denen er so viel Vergnügen fand, in Russland anbefohlen.

So etwas kann aber auch nur in Russland vorkommen, wo die Gastfreundschaft so groß ist, dass man sie erlebt haben muss, um sich einen Begriff davon zu machen, denn sie geht über alle Beschreibung. Das Witsch, das man dem Taufnamen des Vaters anhängt, indem man ihm noch ein o vorsetzt, war ehedem eine hohe Würde in Russland. Hat Jemand, wollen wir annehmen, den Taufnamen Stephan und sein Vater Karl, so nennt man ihn Stephan Karl-owitsch. Dem Taufnamen weiblichen Geschlechts hängt man statt des Witsch die Silbe owna an, z. B. Anna Michail-owna. Diese alte russische Sitte bietet uns das vorzüglichste Hilfsmittel zur Umgehung der Etiquette in der Umgangssprache, denn dieser Wohlstandsgebrauch ist im Lande des Titelwesens, in Russland, mehr zu Hause ist, als in irgend einem Lande Westeuropas. Steht man in Russland mit irgend Jemandem von Rang auf gutem Fuße, so überhebt uns dieses keineswegs der Formalitäten hinsichtlich des Titelwesens und man wäre, existierte das Witsch oder Owna nicht, genötigt, diese Personen mit Ew. Hochgeboren! Hochwohlgeboren! ja sogar mit: Ew. Wohlgeboren! anzureden, oder mit: Herr Staats-Rat, Herr Kollegien-Rat, Herr Titular-Rat, welche letztere Art zu reden sich im Deutschen zwar leicht, im Russischen aber nicht ohne Zwang tun lässt, und weil die erstgenannte im Russischen viel üblicher ist, als die letztere, denn Ghosspodin Statskij Sowätnik (Herr Staatsrat) klingt im Russischen sehr gezwungen. Und die andere Redensart; Wasche Wuissokródije (Ew. Hochgeboren) ist zwar die übliche, aber doch nur für das gemeine Volk und auch für die untersten Beamten, um ihre hohen Chefs anzureden; aber für einen Mann von Rang ist sie zu peinlich. Sobald aber Jemand den Generalmajors- oder Wirklichen Staatsrats-Rang erreicht hat, so muss Einer, der kleiner im Range steht, ihn mit: „Exzellenz!“ anreden. Das Witsch und Owna ist aber in der neuern Zeit so allgemein üblich geworden, dass selbst Bürgers- und Bauersleute es unter sich anzuwenden pflegen. Ein Diener unserer hohen Schule, ein verabschiedeter Unteroffizier, der auch auf Befehl des Direktors oder Inspektors Ruthen austeilte, fand sich sehr gekränkt, wenn die Schüler ihn bloß mit einem Taufnamen: Iwan! und nicht mit Iwan Stephanowitsch, anredeten. Gegen alle Schüler, die ihm diese Ehre nicht antaten, hegte er eine kleine Rache, die er ausübte, wenn einer von ihnen Ruthen erhielt, indem er dann desto tüchtiger d’rauf losschlug. Dass aber dieses Witsch in früheren Jahrhunderten eine hohe Würde war, sehen wir daraus, dass Johann der Schreckliche, zum Zeichen seiner besonderen Gnade, dem Kaufmanne Stroganow das Recht erteilte, dieses Witsch führen zu dürfen. Der furchtbare Zar witterte nämlich auch in seinem eigenen Sohne, dem Zaréwitsch Verrat und schlug ihn mit seinem eisernen Stabe auf den Kopf, dass der junge Mann zu Boden stürzte, in seinem Blute schwamm und am vierten Tage darauf starb. Dieser Todesstreich hatte für das Land jene traurigen Folgen, die wir oben bei dem falschen Demetrius gesehen haben. Denn jetzt wurde Fédor, des Zaren jüngerer Sohn, Thronfolger, der aber halb blödsinnig war und das Land unmöglich regieren konnte. Der Zar hatte zwar noch einen Sohn von seiner siebenten Frau, Namens Dimitrij, der aber noch sehr klein war. Als nun Johann starb, wurde Fédor zum Zaren gekrönt; doch Boris Godunow, sein Schwager und erster Minister regierte; der schaffte den jungen Dimitrij aus dem Wege, und wie man vermutet, auch den Zaren Fédor selbst, denn dieser starb plötzlich und Niemand wusste, woran er gestorben war. Damit endigte das Geschlecht Ruriks in direkter Linie, denn Godunów, der sich des Thrones jetzt bemächtigte, stammte von einem unbedeutenden tatarischen Fürsten ab, dessen bildschöne Tochter sich der Vater Johanns des Schrecklichen zur Gemahlin erwählt hatte. Als der grausame Zar den eisernen Stab gegen das Haupt seines Sohnes erhob, wollte Godunow, der zugegen war, den Streich abwehren und wurde dabei schwer verwundet. Dieser hatte sich seitdem nicht vor dem Zaren sehen lassen, weil er so bedeutend verletzt, darnieder lag. Aber eines Tages ging Johann selber zu ihm, und fand hier den Kaufmann Stroganow, der Kenntnisse in der Arzneikunde besaß und schon Manchen von schwerer Krankheit geheilt hatte; der verwundete Godunow war auch unter seiner Pflege. Stroganow hatte dem Kranken ein Haarseil*) gesetzt.

*) Beim Haarseil (auch Eiterband oder Setaceum genannt) handelt es sich um eine Therapiemethode der Bader-Chirurgie des 17. bis 19. Jahrhunderts. Dem Patienten wird mit einer Haarseilzange ein Stück Nackenhaut angehoben, durch dieses wird eine Haarseilnadel mit dem Haarseil, einer Schnur aus Rosshaar, Leinwand oder ähnlichem, durchgestoßen. Das Haarseil verbleibt nun einige Tage unter der Haut, bis sich Eiter bildet, diese Eiterung soll nun zur „Ableitung böser Säfte“ aus dem Rest des Körpers beitragen. Bis ins 19. Jh. wurde diese Therapieform noch bei Tieren angewendet, ohne jedoch einen positiven Einfluss auf Krankheitsherde anderswo im Körper zu haben. Bei dieser Behandlungsform besteht erheblich die Gefahr der bakteriellen Infektion, einer Blutvergiftung oder der Entstehung eines Fistelganges. Bei lokalen Erkrankungen bestimmter Organe wurde das Haarseil auch in der Haut über den vermuteten Krankheitsprozess eingenäht, so auf dem Brustkorb, Bauch oder Extremitäten. Das Haarseil wurde auch zur Behandlung psychischer Erkrankungen in den Irren- und Tollhäusern des 18. Jahrhunderts angewandt. (Quelle: Wikipedia)

In diesem Ding erblickte der schreckliche Zar ein neues prächtiges Marterwerkzeug, deren er schon so viele ausgegrübelt und in Anwendung gebracht hatte, dass er kein neues mehr ergrübeln konnte. Sogleich wollte er die Wirkung dieses Dinges sehen, und da er einen Schwiegervater hasste, so befahl er dem Arzt Stroganow, diesem Mann, der völlig gesund war, ein paar Haarseile auf der Brust und auf der Seite einzuziehen, was auch geschah. „Zeugte wohl ein solches Ausgrübeln von Mitteln zur Qual von einem gerührten und vom Vaterschmerze zerrissenen Herzen?“ fragt Karamsin, indem er darüber eine Betrachtung anstellt, ob der Schmerz, dem sich der Zar nach dem Tode seines Sohnes hinzugeben schien, ein natürlicher gewesen sein konnte. Dem Kaufmann Stroganow aber erteilte er dafür, dass er den Kranken behandelte und auch dem Schwiegervater des Zaren ein paar Haarteile eingezogen, das Vorrecht, den Vaternamen oder das Witsch führen zu dürfen, ein Vorrecht, defen sich damals nur die höchsten Würdenträger des Reiches erfreuen durften.

Iwan Iwanowitsch war ein reicher, vielseitig gebildeter und dabei sehr religiöser Mann. Als ich ihn kennen lernte, zählte er schon über die siebzig, aber er war frisch und munter, wie ein lebensfroher Fünfziger. Seine heitern Launen, sein sorgenfreies Leben und eine weise Mäßigkeit in allen physischen Genüssen hatte ein noch Jugend strahlendes und von Natur schönes Gesicht vor Runzeln bewahrt und ihm jenen Zauber verliehen, dem selbst junge Frauen nicht widerstehen können. In seinem großen klaren Auge drückte sich die unbeschreibliche Gutmütigkeit eines Herzens aus. Sein ganzes Tun und Wesen bekundete die feine Erziehung, die er genossen. Er war Hofmann von Natur, nicht durch Kunst. Und daher kam es wohl auch, dass er manchmal. Einem, der etwas heuchelte, was ihm nicht eigentümlich war oder sich ungebührlich betrug, auf eine russisch derbe Art die Wahrheit sagte. In einer andern Beziehung aber sah ich nie einen Menschen, der so viel Gewalt über sich selbst hatte, als er. So blickte er z. B. mit stoischem Gleichmut auf manche seiner Lieblingsspeisen und Getränke, ohne etwas davon zu kosten, weil er wusste, dass es ihm nicht wohl bekommen würde. Aber dabei unterließ er bei Tische nicht, seine schüchternen Gäste beständig aufzumuntern, damit sie nur recht wacker zugreifen möchten. Proschú pokórnäschij, Ghosspodá! Bitte gehorsamst meine Herren! sagte er mit treuherzigem Kopfnicken und freute sich aufrichtig, wenn man bei Tische einen ausgezeichnet guten Appetit zu erkennen gab. Lud er Jemanden bei sich zur Tafel ein, so fügte er, nach alt russischer Sitte hinzu, man müsse aber vorlieb nehmen mit dem, was Gott bescheert hätte. Milosti prossim! milosti prossim! wir bitten gefälligst! sagte er bei der Einladung. Nun hatte aber der liebe Gott bei dieser Gelegenheit immer sieben bis acht Schüsseln voll der leckerhaftesten Speisen und neben andern guten alten Weinen auch einige Flaschen Champagner beschert. Seine Küche war täglich für sechs und mehr unverhoffte Gäste bestellt. Ehe man sich zu Tische setzte, gingen, nach russischer Sitte, zwei Diener mit dem Vorgerichte umher, dass aus zweierlei Branntwein, zerlegten Hering und Scheiben roher Zwiebel bestand, und präsentierten es auf einem schönen Teller jedem der Gäste, dem Range nach. Zwiebeln und Hering war immer mit ein wenig feinem Öl und Essig angemacht. Bei Tische saßen die Gäste auch dem Range nach. Iwan Iwanowitsch hatte sich im Dienste seines Vaterlandes den Staatrats-Rang oder die fünfte Klasse erworben und so kam ihm das Prädikat „Hochgeboren“ zu. An seiner Tafel saß er aber immer neben denen, welche im Range die Kleinsten waren.

Als ich ihn mit meinem Freunde das erste Mal besuchte, gewann er mich bald so lieb, dass er, mir zu Ehren, am andern Tage nicht nur ein exzellentes Essen bereiten, sondern auch noch sechs Mann Musikanten kommen ließ, die da recht lustig aufspielten. Obgleich es nun nicht das erste Mal war, dass ich einem Festessen beiwohnte, so machte doch diesmal die Musik einen seltsamen Eindruck auf mich. Ich ließ dann und wann den Blick auf die Musikanten gleiten und wenn ich recht sah, so strich der eine den Bass mit der linken Hand, aber doch so ernstlustig, wie es sich gehörte. Pogáluitje kuschatje, Ghosspodá! Ich bitte, lassen Sie sich’s wohlschmecken, meine Herren! munterte der treuherzige Alte seine Gäste auf, und unter der luftigen Musik erfüllte jeder seine Bitte. Wie bunt ist doch das Spiel des Lebens, dachte ich, die da oben streichen sich warm und müde, während man hier bei Tische zwar dasselbe tut, aber auf eine ganz verschiedene Weise. Als am Ende der Champagner erschien, brachte unser Wirt, nach üblicher Sitte, den ersten Toast aus auf die Gesundheit Sr. Majestät des Kaisers, Nikolai Pawlowitsch und die Musik spielte die herzergreifende Hymne: Bóge Zar chranij! Gott behüte den Zaren und ein jeder stimmte ein. Das war in der Tat ein köstlicher Ohrenschmaus, der auch das Herz erquickte, zumal einige der Gäste schöne Stimmen hatten und nach den Regeln der Kunst sangen. Es war dabei gar nicht zu hören, dass der da oben den Bass mit der Linken strich.

Iwan Iwanowitsch war ein gelehrter Mathematiker. Er las den Leibnitz, den er für den größten Gelehrten aller Nationen und aller Zeiten hielt, und auch manchen andern Philosophen im Original. Allen Respekt vor dem großen Leibnitz! pflegte er zu sagen. In seinen jüngeren Jahren trug er auf einer Hochschule einige Zeit unentgeldlich Fortifikation vor, eine Wissenschaft, die bis zum Anfange der Dreißiger Jahre auf russischen hohen Schulen gelehrt wurde. Seit dem aber ist diese Professur den Universitäten entzogen und in die Kriegsschulen übergeführt worden. Er las auch andere Schriftsteller in deutscher, französischer und englischer Sprache, ohne sich dabei eines Wörterbuches zu bedienen. Aber das Sprechen in diesen Sprachen fiel ihm überaus schwer, er stockte in der Rede, weil ihm die Wörter nicht immer einfielen. Daher unterhielt er sich auch ungern mit Jemandem in einer fremden Sprache. Aber desto feiner und gewandter war er in der russischen Konversation, da floss seine Rede wie Honigseim. Hätte man seine Erzählungen, wie er sie aus dem Stegreif machte, unverändert niedergeschrieben, so hätte man ein interessantes Buch für Herz und Verstand daraus schaffen können. Nicht selten erzählte er auch allerlei komisches Zeug, aber immer gewürzt mit Bemerkungen, wie sie nur der feinste Menschenkenner machen kann. Wenn seine Zuhörer sich dann krank lachen wollten, blieb er dabei vollkommen ernst, wie ein echter Komiker, und das war dann vollends zum tot lachen. Ich bedauerte es eben so sehr, wie er es bedauerte, dass ich damals von seinen Erzählungen in russischer Sprache nichts genießen konnte. Lernen Sie russisch, sagte er freundlich zu mir. Wenn einmal die Bande der verhassten Zensur in unserm Lande gesprengt sind und die Morgenröte eines neuen geistigen Lebens an dem Himmel wahrer Zivilisation aufgegangen sein wird, dann wird auch unsere Sprache eine der berühmtesten Sprachen der Welt werden. Sie hat einen guten Fond, ist daher auch der höchsten Vervollkommnung fähig. Bildsam, wie die deutsche Sprache, hat sie auch mit ihr das gemein, dass sie den Geist aller andern Sprachen in sich auffassen und ihn sich zu eigen machen kann. Wenn Sie nochmals nach Moskau kommen, müssen Sie so viel gelernt haben, um sich mit mir im Russischen zu unterhalten, bat er mich. Ich gab ihm das Versprechen. Als ich mehrere Jahre darauf wieder zu ihm kam, hatte ich wirklich so viel russisch gelernt. Er empfing mich auch diesmal mit so viel Liebe und Güte, dass ich es nicht beschreiben kann. Er hatte weder von seiner Gesundheit, noch von seiner früheren Heiterkeit etwas verloren, und doch gemahnte er mich, als ob eine Veränderung in ihm vorgegangen wäre.

Schon in unserer ersten Unterredung leuchtete es mir ein, dass er sich einige Zeit mehr mit geistlichen, als mit gelehrten oder schön-wissenschaftlichen Büchern befasst haben musste. Als ich bald darauf mit ihm in ein Kabinett ging, sah ich hier den Thomas von Kempis in dem alten Mönchlatein und auch eine russische Übersetzung auf seinen Tische liegen. Dass er schon früher sehr religiös war, haben wir bereits erwähnt. Jetzt aber sagte er mir im Vertrauen, dass er der römisch-katholischen Kirche weit mehr zugetan sei, als der russischen. „Es geht mir nicht allein so“, sagte er, „denn Sie finden viele Leute dieser meiner Gesinnungen und Überzeugungen unter unserm vornehmsten Adel, besonders unter denen, die einmal im Auslande waren. Es ist ein trauriges Zeichen unserer Verfassung, dass man das nicht laut äußern darf.“ Wie er sich aber während des ganzen Nachmittags, den ich bei ihm zubrachte, gegen mich äußerte, so konnte er auch der protestantischen Kirche nicht abhold sein. Da es bezeichnend für Vieles ist, wollen wir aus dieser Unterhaltung einiges dem Leser hier mitteilen und dann auch eine der Anekdoten folgen lassen, die er mir am selben Abend erzählte.

Als wir in einem Kabinett uns nebeneinander setzten und ich den Thomas von Kempis erblickte, sagte ich zu ihm, indem ich mit der Hand darauf wies: das ist ein höchst lehrreiches Buch! – „Ich bin ganz Ihrer Meinung!“ antwortete er, „und ich glaube, dass kein wahrer Weltweiser eine andere Meinung davon haben kann, denn es ist das Buch, vor welchem der große Leibnitz die höchste Hochachtung hatte. Es ist mir ein Rätsel“, fuhr er fort, „wie dieser Mönch zwischen den Mauern eines Klosters zu all der Weisheit und erstaunenswerten Kenntnissen des menschlichen Herzens die er in diesem Buche beurkundet, gelangen konnte.

Wenn man das so bedenkt, kann man es jenen nicht verargen, die da behaupten, das Buch rühre nicht von einem Autor her, sondern alle Weisen des ganzen Klosters hätten daran gearbeitet. Und dennoch spricht die gleichmäßige Art des Gedankenvortrages, die tiefe heilige Einfalt, die mit der höchsten Weisheit Hand in Hand durch das ganze Buch hindurch geht, deutlich, dass es eben nur einen einzigen Autor zum Verfasser haben kann. Und um diesen weisen von Gott so hoch erleuchteten Mann stritten ja auch die Italiener und Franzosen mit den Deutschen, indem jede dieser Nationen ihn zum Landsmann haben möchte. Papst Clemens XIIII. behauptet fest, er müsse ein Italiener gewesen sein; allein ohne Grund, denn nichts ist leichter zu beweisen, als dass der Verfasser der „vier Bücher von der Nachfolge Christi“ ein echt deutscher Mönch gewesen ist. „Dem sei nun wie ihm wolle“, fuhr der gemütliche Alte fort, „es ist das Buch aller Bücher, ist, um mit Fontenélle zu reden, das vortrefflichste Buch, das je aus der Hand eines Menschen kam; denn das Evangelium kam nicht aus Menschenhänden.

Wenn man mit Salomon Alles angeschaut hat, was unter der Sonne geschieht, dann wird einem die hohe Weisheit, die im Gewande der tiefsten heiligen Einfalt auf jeder Seite dieses Buches steht, erst recht begreiflich. Wahrhaftig, er hat Recht und wird ewig Recht behalten, dass Alles und Alles Eitelkeit ist, außer Gott lieben, welches die höchste Weisheit ist. Und besäße man auch, wie König Salomon sie besessen, alle Herrlichkeiten dieser Welt, sie sind vergänglich, vorübereilend, folglich eitel! Eitel ist es auch, ein langes Leben zu wünschen und um ein frommes Leben wenig besorgt zu sein; feine Hoffnungen auf Dinge zu setzen, von denen der unwissendste Mensch weiß, dass sie, gleich den Rauch, sich in ein Nichts auflösen und dabei um das, was vor allem andern Not tut und ewigen Bestand hat, sich nicht zu bekümmern. Man sollte meinen, es sei unmöglich, dass der Mensch, zumal der verständige und gelehrte, seine Glückseligkeit in Dingen suchen könnte, von denen er weiß, dass sie ganz gewiss und ehe er sich’s versieht, zunichte werden, während er darüber das Allernotwendigste und ewig Bestehende versäumt. Und doch ist es so. Das kommt daher, weil wir keinen lebendigen Glauben haben und wir auch gar nicht darnach trachten, ihn zu erringen. Aber es gibt Menschen, die gar nicht nötig haben zu glauben, indem sie die vollkommendste Gewissheit haben, dass, wenn sie dieser oder jener ihre wilden Leidenschaften nur auf kurze Zeit die Zügel lassen, fiel mit fort in den Abgrund des Verderbens gerissen werden. Und trotzdem tun sie es doch! tun es, manchmal einer flüchtig vorübereilenden Sinnenlust halber, und machen sich dadurch, nicht festen für ihr ganzes Leben unglücklich. Ich kannte solcher Toren nicht wenige. Als es geschehen war, saßen sie da, sich und ihren Angehörigen zur Sorge und Qual und beweinten und beklagten ihre Torheit; allein es war zu spät, geschehene Dinge können nicht ungeschehen gemacht werden. Und so wird es uns dereinst allen ergehen, die wir hienieden den Lastern frönen, die da sind: Geiz, Hochmut, Eigensinn, Hartherzigkeit gegen die Armen und wie sie alle heißen; denn wir wissen recht gut, dass Gott kein Wohlgefallen daran haben kann, und dass sie nur zum Verderben führen können. Der Mensch glaubt nicht gern an das, was er nicht gern hat. An ein Unglück, das ihm bevorsteht, glaubt er entweder gar nicht oder doch nur sehr schwach, und sprächen auch viele Gründe dafür, dass es auf ihn anrücken und ihn unvermeidlich treffen werde, er glaubt noch nicht fest daran, denn er glaubt lieber, dass es doch vielleicht an ihm vorüberziehen könnte, ohne ihn zu treffen und so hascht er nach allerlei Beweisen, um jene Gründe wegzudemonstrieren. So geht es uns auch mit dem Glauben an eine Vergeltung nach dem Tode, und zumal denen, die Ursache haben zu wünschen, dass fiel nur ein Hirngespinnst schwachköpfiger Toren sei. Es gibt Männer der Wissenschaften, welche an die positive Religion nicht glauben können, die aber doch edel genug find, das Glaubensglück ihrer Nebenmenschen auf keine Weise zu stören. Wenn diese Männer von der einen Seite zu bedauern sind, so muss man sie doch auch von der andern schätzen und achten. Aber es gibt unter ihnen auch wahre Hochmutsteufel, die da wähnen, dass nur sie allein die rechten Begriffe von der Gottheit hätten, und die sich in Wort und Schrift über das lustig machen, was uns doch das Heiligste im Leben sein soll, ohne dass dadurch für Forschung und Wissenschaft etwas gewonnen wird, Hochmütige, die uns sogar handgreiflich machen wollen, wie Gott den Menschen hätte von Natur ausstatten müssen, wenn er ihn dereinst seines Glaubens und seiner Handlungen wegen vor Gericht ziehen wollte. Wie werden diese Überklugen dereinst vor dem großen Weltenschöpfer dastehen! Schlimmer, als manche freche unwissende Leute, die sich unter ihres Gleichen ein Ansehen zu geben verstehen, als wüssten die Alles und manchmal dreist genug sind, sich in ein Examen zu wagen, wo sie aber von den hundert Fragen, die man ihnen vorlegt, keine einzige zu beantworten vermögen, schlimmer, schlimmer als diese werden sie einst vor Gott stehen!“ sagte Iwan Iwanowitsch und fuhr nach einer Weile fort: „Ich danke meinem Gott und Erlöser für seine Gnade, die er mir dadurch erwiesen, dass meine Wissenschaften mich nie veranlassen konnten, an der geoffenbarten Religion zu zweifeln, dass ich stetes mein Wissen Stückwerk achtete und seit meinem Burschen-Leben darnach trachtete, ein Christ zu werden – denn wir sind es, leider! größtenteils nur dem Namen nach – ferner, dass ich tröstete und ermahnte wo ich konnte und auch der Armen immer tätig gedachte. O, dass ist ein köstliches Bewusstsein, ein starker Stab am Rande des Grabes! – Aber verstehen sie mich auch deutlich, mein teurer junger Freund?“ fragte er mich, indem er mit seiner Rechten meine Hand erfasste und mit der Linken eine Träne trocknete, die einige Minuten lang in einem schönen großen Auge geglänzt hatte, „verstehen Sie mich auch deutlich? Nicht durch meine guten Werke, sondern nur durch die Gnade Gottes und seine grundlose Barmherzigkeit, hoffe ich selig zu werden! O, wie Recht hat doch jener hocherleuchtete katholische Geistliche, wo er sagt: „Wenn man durch eine guten Werke in den Himmel kommen könnte, so möchte ich nicht hinein; denn da gäbe es dort oben eben so viel und noch mehr Streit, als hier auf Erden: jeder würde behaupten, er habe mehr Gutes getan, als der andere; da wir aber Alle nur aus Gnade selig werden können, so hat keiner sich vor dem andern seiner guten Werke zu rühmen.“ – „Mit solcher Deutung der heiligen Schrift wird nicht nur der Fortschritt in den Tugenden gehemmt,“ sagte neulich mein Beichtvater, ein sonst ehrwürdiger Protopope (Oberpastor) zu mir, „sondern sie ist auch dem Geiste der Lehre Christi diametral entgegen! Denn was sind das für Schätze, von denen Christus spricht, die wir sammeln sollen, und die weder von den Dieben gestohlen, noch von den Motten verzehrt werden können? Sind es nicht die guten Werke, von denen der Evangelist sagt, wo er die Toten selig preist, die im Herrn sterben, welche uns nachfolgen bis weit über das Grab hinaus? Denn jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert! das hat ja Christus der Herr selbst gesagt.“ – „Ja, mein teurer Otéz! (Vater)“ sagte ich, „Sie haben Recht, der Glaube muss in Liebe tätig sein, muss in Handlungen sich zeigen, sonst ist er tot und kann uns nichts nützen; aber unserer guten Werke haben wir uns nicht zu rühmen, und können daher auch nicht hoffen, vermittelt ihrer den Himmel zu erwerben!“ – „Und warum denn nicht?“ fragte mein Beichtvater kopfschüttelnd, „nur durch gute Werke, durch Fasten, Almosen geben usw. können wir selig werden, Christus der Herr hat es ja selbst gesagt.“ „Aber teurer Otéz,“ erwiderte ich, „wenn Sie Ihrem Knechte große Summen gäben, damit er sie unter die Arme verheile, kurz, wenn Sie ihn mit allem möglichen versähen, dass er im Stande wäre, gute Werke zu verrichten, und er es täte, hätte er sich derselben zu rühmen? und wäre er dadurch berechtigt, sich für besser zu halten, als andere, die Sie nicht in den Stand setzten, solche Werke zu verrichten?“ „Allerdings hätte er sich ihrer zu rühmen, denn er hätte ja seine Pflicht erfüllt, und er wäre auch in so weit besser als andere, weil er durch die Tat bewiesen, dass er ein treuer Knecht ist, was bei jenen andern noch immer in Frage stünde“, behauptete mein Beichtvater fest. „Aber Bátjuschka“, fragte ich ihn, „wenn Sie nun diese andern, die nicht in Ihrem Interesse wirkten, sich also auch nicht als Ihre treue Knechte bewährt hätten, wenn Sie dieselben dessen ungeachtet mit eben so viel Gunst und Gnade überhäuften, wie Jenen, könnte man Ihnen dieser halben mit gerechtem Grunde einen Vorwurf machen?“ – Mein Beichtvater schwieg, als wüsste er keine Antwort darauf. Nach einer Weile sagte er: „In einer Hinsicht nicht, in einer andern aber wäre ich doch kein ganz gerechter Mann!“ – Also war oder handelte jener Herr nicht ganz gerecht, als er seinen Arbeitern, die in der elften Stunde kamen, denselben Lohn erteilte, den er den andern gab, die des Tages Mühe und Hitze getragen hatten? Er schwieg. Vergessen Sie nicht, teurer Vater, fuhr ich fort, was der Apostel sagt, nämlich, wenn wir auch Alles getan hätten, seien wir doch unnütze Knechte. Wie sollte da einem der Mut nicht vergehen, durch eine guten Werke selig werden zu wollen! – „Ei nun“, versetzte der Otéz, „wenn wir nur durch die Gnade Gottes und nicht durch gute Werke in den Himmel kommen können, so sehe ich nicht ein, warum man sich hienieden kasteit; denn so ist es ganz einerlei, ob wir die Tugend üben oder dem Laster frönen!“ – „Das ist durchaus nicht einerlei, Bátjuschka“, sagte ich, „denn wer von Beiden hat dereinst die gegründetste Hoffnung auf die Gnade Gottes?“ „Allerdings der Tugendhafte,“ entgegnete er, „aber nicht bloß Hoffnung auf Gnade, sondern auch auf Gerechtigkeit! Wenn unser Herr und Kaiser Allergnädigt geruht, einem den Adel zu verleihen, so hat das eigentlich nicht Se. Majestät getan, sondern das Gesetz hat es getan; und wem hat es das Gesetz*) getan? Dem Verdienste! Sollte im Himmel nicht dieselbe Gerechtigkeit existieren?“– „Mein teuerster Otéz,“ sagte ich, indem ich mich an den naiven Vergleich des deutschen Humoristen, des Dichters Claudius erinnerte, „wenn Sie die Gerechtigkeit des Himmels mit der auf Erden vergleichen wollen, so sieht es schlimm aus, so schlimm, als wenn Sie die Sonne nach Ihrer alten Wanduhr stellen wollten!“ –

Was sagen Sie zu unseren Popen? fragte mich jetzt Iwan Iwanowitsch. Sie wissen es wohl nicht besser, antwortete ich. Das ist der alte pharisäerische Geist, der noch in unserer Kirche lebt, das sie sich für besser halten als andere, das Brüsten auf seine guten Werke, das Töten des Geistes und das zähe Festhalten an den äußern Formen des Kultus, gegen welches Christus der Herr mit allem Eifer und unaufhörlich ankämpfte, um es zu vernichten. Ach, wie wird mir zu Mute“, fuhr der treuherzige Alte fort, wenn unsere Popen: Himmel und Erde, den Allmächtigen und die irdischen Herrscher, die Heiligen und Höflinge in ihren Gleichnissen mit einander verflechten. -

*) In jedem andern Staate verleiht der Landesherr den Adel, in Russland nicht, denn hier kann nur das Gesetz es tun, weil hier der Verdienstadel existiert, der in verschiedene Klassen eingeteilt ist, wovon noch später die Rede sein wird. In Russland kann man sich mit Geld Orden erwerben, ohne dass dabei dem Gesetze zu wieder gehandelt werden braucht; aber niemals eine der Adelsrangklassen, denn die können nur durch persönliche Dienstleistungen erworben werden.

So trug mir derselbe Protopope noch am vergangenen Montage ein Gleichnis vor, nämlich das: wie der Kaiser die Bitte eines geringen Untertans viel eher gewähre, wenn dieselbe durch Fürsprache einer Minister oder Günstlinge unterstützt würde; also würde auch Gott unsere Bitte lieber erhören, wenn die Heiligen sie ihm vortragen und für uns mitbitten würden. Das einzige, was ich dagegen einzuwenden habe, mein teurer Otéz, sagte ich, ist, dass unser Gesetz *) den Zutritt eines jeden schlichten Untertans zu Se. Majestät dem Kaiser dermaßen erschwert hat, dass es unter Millionen kaum Einem gelingt, ihm seine Bitte mündlich vorzutragen, weshalb denn auch die Fürsprache eines Ministers oder Höflings dem Bitten den nur erwünscht sein kann; dass aber dagegen Gott der Herr den Zutritt zu einem Gnadenthrone keinem einzigen nicht nur nicht verboten, noch erschwert hat, sondern dass er, die ewige Liebe und Demut, sogar vor der Tür eines jeden steht und anklopft, um eingelassen zu werden, damit wir ihm dann in unserem eigenen Stübchen, ohne irgend einen Fürsprecher, unsere Bitte vortragen können, ja noch weit mehr, damit er uns das Schönste und Kostbarste von der Welt bereite; denn das versichert uns der Mund der Wahrheit selbst: Siehe, ich stehe draußen und klopfe an, wer mir öffnet, zu dem gehe ich ein und halte das Abendmahl mit ihm. Ja, er treibt die Liebe und Demut so weit, dass er uns nachgeht, wenn wir uns verirrt oder verloren haben, um uns aufzusuchen – und wenn er uns gefunden – uns an den schönsten und sichersten Ort zu tragen, im Fall wir uns dessen nicht weigern, denn er zwingt Keinen, er lässt Jedem seinen freien Willen.

*) Der Kaiser darf weder auf der Straße noch sonst an einem Orte angeredet werden, um ihm eine Bitte vorzutragen oder eine Bittschrift zu überreichen oder irgend ein Wort mit ihm zu sprechen. Wer diesem Gesetze zuwider handelt, wird auf der Stelle festgenommen und in Arrest gebracht, wo er, je nach Umständen, keine geringe Strafe zu erwarten hat. Und redet der Kaiser selbst Jemanden an, was zwar selten, aber doch manchmal geschieht, so wird der Angeredete auch in Arrest geschleppt. In St. Petersburg und auch in Westeuropa weiß man allerlei Stückelchen hiervon zu erzählen; viele aber sind keine bloßen Märchen. So zum Beispiel ist es Tatsache, dass Kaiser Alexander einmal einen französischen Schauspieler, den damaligen Liebling der St. Petersburger, auf der Straße anredete und einige Scherzworte mit ihm wechselte. Kaum aber hatte Se. Majestät sich entfernt, als auch die Polizeileute den armen Franzosen, der nicht gutwillig gehen wollte, mit Gewalt fortschleppten. Als der Kaiser am selben Abend ins Theater fuhr, um der Vorstellung bei zu wohnen, konnte das Stück nicht gegeben werden, weil jener Monsieur, der die Hauptrolle darin zu spielen hatte, spurlos verschwunden war, d. h. in Arrest saß, wo alle seine Beteuerungen, dass er am Abend auftreten müsste, nicht berücksichtigt wurden. Natürlich befahl der Kaiser jetzt, den armen Teufel wieder in Freiheit zu setzen, indem er ja nicht schuld war, dass Se. Majestät ihn angeredet hatte. In keiner Stadt Europas herrscht wohl mehr Sauberkeit auf den Trottoirs, als in St. Petersburg. Da muss jeder Hauseigentümer, so oft sich ein wenig Schmutz vor seinem Hause zeigt, fegen lassen. Und wenn es im Winter zwanzigmal an einem Tage schneit und zwanzigmal aufhört zu schneien, so muss auch zwanzigmal gefegt und eben so oft Sand gestreut werden, d. h. auf die Trottoirs, denn auf der Mitte der Straße lässt man den Schnee den ganzen Winter hindurch liegen. Wenn ein Dwornik (Hausknecht) das Fegen und Sandstreuen einmal vergisst, wird es ihm durch die Polizei vermittelt abscheulicher Hiebe in Erinnerung gebracht. An einem Wintermorgen ging ich einmal unweit der Blauen Brücke zu St. Petersburg an einem Hause vorüber, wo kein Sand gestreut war, und so vorsichtig ich auch ging, ich fiel dennoch nieder und tat mir sehr wehe. Dasselbe geschah mit einem Anderen und mit einem Dritten und Vierten während der Minute, die ich brauchte, um mich wieder förmlich aufzurichten. Das Trottoir vor diesem Hause war ein trügerisches Ding, man sah es ihm durchaus nicht an, dass auf ihm so gefährlich zu gehen war, bis man darauf kam und plötzlich niederstürzte, da fühlte man's, dass es glatt war. Kaum war ich zehn Schritte weiter gehinkt, da erschien der Kaiser, von keinem Anderen begleitet, um denselben Weg zu gehen, den ich gekommen war. Ich hatte schon einen Satz gebildet, um Se. Majestät auf die glatte Stelle aufmerksam zu machen, allein ich erinnerte mich jenes ernsten Gesetzes, daher verbiss ich die Worte auf der Zunge und grüßte nur. Der Kaiser dankte mir, indem er seinen linken Zeigefinger an seine Schläfe legte und ging in seiner genommenen Richtung weiter. Kaum aber kam er auf das verhängnisvolle Trottoir, so fiel er auch nieder. Aber gleich dem geübtesten Springer stand er plötzlich wieder auf beiden Füßen und ging auf der Mitte der Straße seines Weges. Ob Se. Majestät sich wehe getan, und was dem armen Hausknecht geschah, der Sand zu streuen vergessen, wagte ich nicht zu fragen.

Bátjuschka, wie wollen Sie die grenzlose Liebe und Langmut mit der Härte und dem Hochmute sündhafter Menschen vergleichen? Denn sündhaft sind wir alle, im Purpurmantel, im Messgewande, im Frack und im groben Kaftan! O, mein Erlöser! ich erliege, erdrückt vor dem bloßen Gedanken deiner Liebe und Demut gegen die Menschen, mein Geist verliert sich darin und ich vermag nichts klar zu begreifen, als dass sie ein Abgrund sind, den kein erschaffener Geist zu ergründen vermag!“ – Und was gab der Mann Gottes Ihnen zur Antwort hierauf? fragte ich den treuherzigen Iwan Iwanowitsch. „Er strich sich mit der Linken seinen langen Bart, mit der Rechten hielt er einen langen Stock, auf den er sich stützte, wie ein Alter, der schwach auf den Beinen ist und richtete sich so vom Stuhle auf. Beim Fortgehen sagte er, dass ich fasten und beten müsste, aber er befürchte, dass mein Gebet zu sündhaft sei, als dass Gott es erhören könnte und ich hätte daher wohl Ursache, die Heiligen anzuflehen, auf dass sie mein sündhaftes Gebet gleichsam weihten, um es dem Allerheiligsten vortragen zu können; ich müsste meine ketzerischen Gesinnungen ändern, denn ich wich in allem von den Dogmen der alleinseligmachenden Kirche ab, so könnte ich, einem Missetäter gleich, nicht in den Himmel kommen. Zu einem Totschläger wird er dasselbe sagen.“ – Wenn er Ihre freimütigen Äußerungen dem Archierei mitteilte? bemerkte ich, Sie würden unfehlbar zur Strafe in ein Kloster gesperrt werden! – „Das tut er nun doch nicht, denn es ist sonst ein höchst achtbarer Mann, der erleuchtet und gelehrt genug ist, zu begreifen, dass, um Gott im Geiste und in der Wahrheit anzubeten, noch manches Bund Stricke nötig ist, die Käufer und Verkäufer samt ihren Wechseltischen und Waren aus unsern Tempeln hinaus zu treiben. So lange er aber noch in seiner Risä (swjäschtschennitschesskaja Risa, Priesterrock) geht, wagt er nicht anders zu lehren und zu ermahnen. Und wenn er es dem Erzbischof auch sagte, ich würde ihm meine Gesinnungen nicht verhehlen, denn sie sind gut und nach meiner Überzeugung auch den christlichen Lehren entsprechend, denen aller Zwang zuwider ist.

So der treuherzige mir ewig unvergessliche Iwan Iwanowitsch.

Die Anekdote aber ist folgende:

Aus dem russischen Volksleben

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Moskau

Moskau

Tierhetze in Moskau

Tierhetze in Moskau

Volksbelustigung der Russen

Volksbelustigung der Russen

Russische Kirche

Russische Kirche