Russisches Leben – 11. Groß-Nowgorod und die Gründung der russischen Monarchie

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Nowgorod, Landesgeschichte
Es war an einem freundlichen Nachmittage gegen 5 Uhr, als ich in Begleitung des Braunschweigers in Nowgorod (nicht zu verwechseln mit Nischnei-Nowgorod) ankam. Da es so schönes Wetter und noch so früh war, konnte mich mein Gefährte nicht bewegen, hier über Nacht zu bleiben. „Bedenken Sie doch“, sagte er, „es sind noch 25 Werst bis zur nächsten Poststation, einer kleinen Kreisstadt. Auch finden wir bis dahin kein einziges Dorf, ja, nicht einmal ein Haus, wo wir einkehren könnten. Ich bin so müde, dass ich’s Ihnen nicht sagen kann! Sind Sie denn gar nicht müde?“ –

Ich begreife heute noch nicht, wie es möglich war, dass ich gegen diesen armen Menschen, der mich mit so vieler Aufmerksamkeit behandelte, so grausam sein konnte. Genug, alle seine Vorstellungen und Bitten waren umsonst! nichts konnte mich bewegen hier über Nacht zu bleiben. „Nun, so gönnen Sie mir wenigstens 2 Stündchen Ruhe, darauf mag’s, wenn’s nun einmal sein soll, weiter gehen“, bat er mich. Zwei Stunden, sagte ich, will ich auf Sie warten und wenn Sie dann mitgehen wollen, wird es mir lieb sein. Jetzt legte er sich auf eine Bank, sein Felleisen diente ihm als Kopfkissen. Ich saß neben ihm. 25 Werst – über 3 1/2 deutsche Meilen! . . . es ist wahrlich zu viel für unsere ermüdete Knochen! ist eine Tagesreise für Manchen! . . . so brummte er vor sich hin. Ich bin 40 Jahre alt, fuhr er fort, habe unter den Braunschweiger Jägern gedient, habe einen Teil von Frankreich und ganz Deutschland durchreist und habe überall denjenigen gesucht, der sich mit mir im Marschieren hätte messen wollen . . . endlich finde ich ihn in Russland . . . Aber Sie sollen ihren Mann auch an mir finden, dessen können Sie versichert sein. Ich darf nicht unterlassen, fuhr er fort, Ihnen zu bemerken, dass uns auf diesem 25 Wert langen Wege von der rechten Seite eine feuchte Luft aus Sümpfen, und von der Linken nichts besseres von dem Kanal her anwehen wird, der sich von hier aus bis nach jener Kreisstadt und noch weiter, zieht. Die Nacht ist feucht und kühl . . . wir befinden uns dann zwischen keinen zwei Feuern. . . Ihr Frack ist kein Pelz. Die Cholera ist nicht weit und am liebsten in sumpfigen feuchten Gegenden“, solche Vorstellungen machte er mir.

Ruhen Sie 2 Stunden aus, sagte ich. Unterdessen gehe ich ein wenig, die Stadt in Augenschein zu nehmen. „Doch nicht in Ernst?“ fragte er. In allen Ernste! sagte ich. Wenn Sie Lust haben mitzugehen, so machen Sie sich bereit. Gehorsamer Diener! rief er aus und drehte sich ein paar mal auf seinem Lager herum. In zwei Stunden bin ich wieder hier, sagte ich und ging zur Türe hinaus. Ich richtete meine Schritte zuerst nach der Kirche zur heil. Sophie, die nach dem Muster der Sophienkirche in Konstantinopel erbaut wurde. Sie ist viereckig, hat eine große hohe vergoldete Kuppel, die von vier kleineren umgeben ist. In ihrem Innern ist sie mit einer Menge Heiligenbilder, von denen die meisten den Stempel eines hohen Altertums tragen, reichlich ausgeschmückt; 12 kolossale Säulen tragen das Gewölbe. Diese Kirche, an die sich so viele geschichtliche Erinnerungen knüpfen, wurde schon im elften Jahrhundert erbaut, sie ist wohl die älteste in ganz Russland. Hier war es, wo jener schlechte Mensch, Namens Peter, die falsche Beweisschrift, sein eigenes Machwerk, hinter einem Heiligenbilde versteckte, wodurch, nach dem Zeugnisse der Annalisten, 60.000 Menschen den schauderhafteten Tod fanden. Dieser Peter, wegen seiner schlechten Streiche einmal in Nowgorod bestraft, wollte sich an der ganzen Stadt rächen. Er verfasste einen Brief verräterischen Inhalts an den König von Polen und versah ihn mit den Unterschriften des Erzbischofs und einiger hohen Würdenträger von Nowgorod, welche so täuschend nachgemacht waren, dass man nicht anders glauben konnte, als jene Männer hätten sie eigenhändig unterzeichnet. Dieses falsche Dokument versteckte er hinter ein Heiligenbild in der Sophienkirche, eilte zum Zaren Iwan dem Schrecklichen nach Moskau und gab an, die Nowgoroder wollten das Vaterland an Polen verraten. Dieser eilte nun mit seiner Leibgarde, die aus lauter Henkersknechten bestand, im Dezember des Jahres 1569 aus Moskau hierher und hielt das schreckliche Blutgericht. Die Zeit erlaubte mir diesmal nicht, alle historisch merkwürdigen Orte und Gebäuden dieser Stadt in Augenschein zu nehmen. Ich stellte mich beim Nachhausegehen auf die Wolkowbrücke, wo der Strom, der die Stadt in zwei Hälften teilt, sehr reißend ist, und meine Phantasie malte sich unwillkürlich das schauderhafte Gemälde von dem Mordgerichte, das der schreckliche Zar hier hielt. Dieser fürchterliche Mensch kam mit seinem Corps Schergen, Opritschniks genannt, d. h. Auserwählte, um die Verräter, die er in fast allen seinen Untertanen witterte, zu züchtigen, und ließ, wie oben gesagt, 60.000 Menschen morden. An Schlitten ließ er die Unglücklichen binden und aus allen Orten der Stadt hierher schleifen, wo der Strom so reißend ist, dass er in der strengsten Kälte nicht zufriert, und ließ sie hinein schleudern. Wem es möglich war, durch Schwimmen einen Versuch zur Rettung zu machen, der wurde mit Äxten, Stangen und Fischerhaken im Wasser erschlagen. Der Freiheitssinn, der sich von den einstmaligen Republikanern dieser Stadt auf die Enkel vererbt hatte, war wohl mit Ursache, dass der wahnsinnige Fürst diese unerhörte Grausamkeit ausübte.

Alles, Alles, was ich in Nowgorod sah, erfüllte mich mit tiefer Wehmut. Die Stadt, wahrscheinlich schon im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung gegründet, ist von ihrer stolzen Höhe, auf der sie sechs Jahrhunderte hindurch gestanden, so tief herab gesunken, dass sie heutzutage kaum noch einen Schatten von ihrer früheren Herrlichkeit zeigt. Und die Urenkel der vielleicht allzu übermütigen Bürger, welche einst diese freie Stadt bewohnten! . . .

Wenn uns schon beim Anblick der Ruinen einst herrlicher Gebäude, die eine Geschichte haben, tiefe Wehmut ergreift; wenn beim Erblassen eines glanz- und ruhmerfüllten Lebens unser Gefühl schmerzlich berührt wird; um wie viel schmerzlicher muss unser Herz betroffen werden beim Anblick eines in Knechtschaft versunkenen Volkes, dessen Väter einst frei waren, wie der Aar, der hoch in den Wolken des Himmels sein Nest baut. Ja, frei waren einst die Slawen, sagt Karamsin, der berühmte russische Geschichtsschreiber, frei waren sie, als sie von Osten nach Westen zogen, um sich im Raume der Welt neue Wohnsitze zu suchen, frei waren sie, wie die Adler, die in den Wüsten der verlassenen Gebiete über ihren Häuptern kreisten.

In solchen Betrachtungen versunken, standen wir vor der Riesenmauer, welche die Stadt Nowgorod umschließt und auf der sich eine hochherzigen Bewohner einst zum Kampfe gegen die Mongolen rüsteten; – standen wir vor dem einstmaligen Hofe Jarosslaw des Großen, wo er dem freien Volke würdige Gesetze gab; durchwandelten wir die Gefilde an der Newa, wo einst Alexander an der Spitze des Nowgorod’schen Heeres die Schweden und Litauer schlug und den lievländischen Rittern Bedingungen vorschrieb; standen wir am Wolkow, an der Schelona und ließen den Blick schweifen auf den Ilmensee, von wo Nowgorod einst seine Handelsschiffe nach Lübeck, seine Karawanen nach Konstantinopel und durch dicke Urwälder nach Sibirien sandte, um mit deutschen, griechischen und asiatischen Waren in die Heimat, in den von Gottes Segen triefenden Freistaat, Nowgorod, zurückzukehren! Wie blühend war damals ein Handel, wie mächtig ein Kriegsheer, das neben dem Fußvolk 30.000 Reiter hatte; wie zahlreich waren die Einwohner dieser Stadt, die man auf 400.000 schätzte. Was Wunder denn, dass dieser mächtige Freistaat sich jenen berühmten Wahlspruch beilegte, mit dem ein Heer ins Schlachtgewühl stürzte: „Ochto moschet stoiati protiv Bócho dai Welik Nowgorod?“ (Wer vermag etwas gegen Gott und Groß-Nowgorod?) Was Karamsin von den alten Russen, unter denen er hauptsächlich die Nowgororder als die Ältesten verstand, sagte, nämlich, dass sie keine körperliche Züchtigung duldeten, haben wir schon erwähnt. Welch’ ein Wechsel des Geschickes dieses Volkes! rief ich einst aus, als ich einen Leibeigenen, der zu 50 Stockprügel verurteilt wurde, weil er dem Gutsherrn den Obrok nicht entrichten konnte, fragte, von wannen er sei und er mir zur Antwort gab: „Ja Nowgorodskoi!“ (Ich bin ein Nowgoroder!) Seltsam ist es, dass die Leibeigenen aus dem Nowgorod’schen noch immer einen gewissen Stolz darin suchen, dass sie aus diesem Gebiete herstammen. Mit Stolz sagt ein solcher immer: Ich bin ein Nowgoroder! Über keinen Gegenstand in der Geschichte ist so viel gestritten worden, als über die Abstammung und Herkunft der Slawen. Man hält die alten Sarmaten für ihre Stammeltern. Da aber die Geschichtsschreiber des klassischen Altertums alle Völker, welche das nördliche Europa und Asien bewohnten, Sarmaten zu nennen pflegten, so sieht man daraus, dass ihre Werke den neuern Geschichtsforschern nur Stoff zu Vermutungen über die wahre Abstammung der Slawen darbieten. Tacitus teilt die Sarmaten in zwei Stämme, in Roxolanen und Jasüken oder Jasiggen. In diesem letzteren ist die Wurzel rein slawonisch. Jasük heißt noch heutzutage bei den Russen und bei den andern Slawen, wenn diese das Wort auch anders schreiben, Zunge, Sprache. Demnach kann man die Jasiggen als die Stammväter der Slawen betrachten. Wir wissen aus Ovid, dass dieses Volk schon vor Christi Geburt das Land am linken Donauufer bewohnte. Und wie Jornandes berichtet, müssen die Wenden, ein slawischer Stamm, schon im Anfange unserer Zeitrechnung in einem Teile des heutigen Russlands ihre Wohnsitze gehabt haben. Sie wurden von dem mächtigen Gotenkönig Ermanreich gänzlich besiegt. Die Sarmaten, welche man für die Stammeltern der Slawen hält, hatten ursprünglich ihre Wohnsitze in Asien zwischen dem Don, der Wolga und dem Kaukasus. Später breiteten sie sich in Polen, Preußen, Kur- und Lievland aus. Der Sarmanten, unter dem Namen Slawen, geschieht von Byzantinischen Schriftstellern Erwähnung, indem sie sich den Griechen furchtbarer als selbst die Hunnen machten. Karamsin behauptet, dass die slawischen Völker, ansässig vom baltischen bis zum adriatischen Meere, von der Elbe bis nach Asien, durch ihre Kopfzahl wie durch ihre persönliche Tapferkeit, mächtig genug gewesen wären, um ganz Europa zu beherrschen; dass sie aber, machtlos durch geteilte Kraft und Streitigkeiten ihre Unabhängigkeit fast überall verloren hätten. Eins jedoch von diesen Völkern, die Russen, durch Drangsale erprobt, setzt jetzt, durch seine Macht und Größe, die Welt in Erstaunen. Alle andern, welche ihre Wohnsitze in Deutschland, Illirien und Mösien behielten, gehorchen fremden Herrschern, und einige verlernten sogar die Sprache ihres Volkes. Doch also kann das nicht bleiben! spricht der Panslawismus. – Karamsin starb im Jahre 1826 zu St. Petersburg.

Aber woher kommt der Name Slawe, da er mit denen der Sarmaten, Wenden, Anten, Roxolanen und Jasiggen gar keine Ähnlichkeit hat? Das ist eine Frage, über die sich die Gelehrten fast eben so viel gestritten, als über die Herkunft dieser Völker, die ein gelehrter Russe der neuern Zeit von den Budinern, Neuren, Borystheniten, und nicht von den Sarmaten noch von den Skythen, abstammen lässt. Karamsin und viele Andere leiten das Wort „Slawe“ von Sláwa: Ruhm, Glanz, Ruf, Ansehen, Herrlichkeit, Lob, Ehre, ab. Die Slawen wären demnach Männer von Ruhm, Ehre, Glanz, Herrlichkeit usw. Da sich nun die Nowgoroder, die alten Anwohner des Ilmensee und des Wolkow vor allen ihren Stammgenossen Slawen nannten, so erhellt daraus, dass es freie Männer gewesen sein müssen, welche glänzende, ruhmvolle Taten vollbrachten. Andere Gelehrte dagegen leiten diesen Namen von Slówo (das Wort, die Rede) ab, welches Wort, zumal von den Moskowitern, die das o gern wie a aussprechen, fast wie Sláwa ausgesprochen wird. Und demnach hielten sie sich für Männer der Rede, und alle andern, wenigstens alle Völker des Abendlandes, für nicht slawisch Redende oder gar für Stumme. Und in der Tat, dieses Volk nannte sich nicht Slawen, sondern Slowjenen (die Redenden). Es ist sehr lächerlich, dass Iwan Golowin in seinem Buche mit so vieler Selbstgenügsamkeit sagt, die Slawen nenneten sich Männer des Ruhmes und der Rede, während sie die Deutschen Stummen (Njemzi) nenneten. Und wenn sie das auch taten und noch tun, und wenn auch das Wort Njemez (Deutscher) von stumm (nemü) abzuleiten ist, so gereichte das den Slawen eben so wenig zur Ehre, wie den Deutschen zur Unehre. Die alten Slowjenen nannten aber nicht bloß die Deutschen, sondern alle Völker des Abendlandes Njemzi, wie die Türken noch alle Europäer Franken nennen. Man sieht hieraus, dass sie, indem sie dieses taten, sich dasjenige dabei gar nicht dachten, was Iwan Golowin sich dabei denkt. Aussallend ist es indes, dass man späterhin alle Völker des Abendlandes mit deren eigenen Namen, denen man russische Endungen gab, z. B. Italiänez, Schweizarez, bezeichnete, während man das Wort Njemez allein zur Bezeichnung des Deutschen, beibehielt, ohne dass es die geringste Analogie mit seinem Ländernamen, Germanija hat, wie das bei den andern Namen, z. B. Italija, Schweizarija usw. nicht der Fall ist. Dass man sich aber nie etwas Unrühmliches dabei dachte noch denken konnte, ist eben so natürlich als einfach und erhellt auch daraus, dass Nestor, der Vater der russischen Geschichte, Rurik und seine Brüder: Njemzi nennt; dass die Deutschen von den Nowgorordern ganz besonders hochgeschätzt wurden, indem sie vielen Tausenden von ihnen nicht bloß das Ehrenbürgerrecht in der freien Stadt erteilten, sondern ihnen sogar einen ansehnlichen Teil derselben einräumten, wo die Deutschen als geliebte und geachtete Gäste wohnten, ihre Warenlager hatten und Handel trieben. Wahrscheinlich waren die Deutschen die ersten aus allen Völkern des Abendlandes, welche mit den Nowgorordern, oder den baltischen Slawen, Handelsgeschäfte machten, und da sie mit ihnen nicht sprechen konnten, wurden sie von ihnen Njemzi genannt, wie der gemeine Russe auch noch heutzutage Jeden ohne Ausnahme, mit dem er nicht sprechen kann, Njemez nennt (der Plural ist Njemzi). „Ne umejet!“ sagt er schlechtweg von einem solchen, d. h. er versteht nicht, wie er denn auch freilich von einem Stummen sagt.

Von allen Slawen dieser großen Volksfamilie sind für unsere Erzählung zwei Stämme am interessantesten. Der eine Stamm sind die alten Anwohner des Ilmensees und des Wolkow, welche den Staat Nowgorod gründeten und baltische Slawen genannt wurden; der andere, die Gründer des Staates Kiew, welche unter dem Namen Poliänen (Polen, Laichen) bekannt sind. Sonst bewohnten auch noch viele andere slawische Völker das heutige Russland, die ganz verschiedene Namen führten, welche sie sich teils nach den Namen ihrer Heerführer, teils nach den Örtern und Flüsse, wo sie wohnten, beigelegt hatten. Z. B. Wiätitschen, die an der oberen Wessna, an der Oka und am Don wohnten, gaben sich ihren Namen von ihrem Heerführer Wiätko; die Radimitschen, welche in der heutigen Statthalterschaft Moghilew wohnten, nannten sich so, weil ihr Oberhaupt Radin hieß. Die Derewier gaben sich ihren Namen von den Wäldern, in denen sie lebten. Sie sollen die ersten aus der großen slawischen Volksfamilie gewesen sein, welche sich aus Baumstämmen Hütten erbauten, und durch die Nebeneinanderstellung derselben, Dörfer gründeten. Deréwnjä heißt noch heutzutage Dorf und Dérewo heißt Baum, Holz. Sie wohnten in dem heutigen Wolhynischen Gouvernement. Die Polotchanen bewohnten die Gegend, wo die Polota in die Düna mündet, daher ihr Name, usw.

Neben den baltischen Slawen wohnten finnische Stämme, deren große Volksfamilie sich aber auch auf der ungeheuren Strecke von der Newa bis zum Ende der Lena, tief in Asien, verbreitet hatte und noch verbreitet ist. Daher sind sie nach den Russen, auch noch heutzutage das zahlreichste Volk in ganz Russland. Wie die Slawen, hatten auch sie verschiedene Namen z. B. Letten, Jatwäken, Jugrier, Esten, Liven, Isschoren, Karelier, Permer, Sirjananen, Mordwinen usw. Nicht ohne Grund wollen einige Gelehrten einen kleinen Unterschied zwischen Finnen und Tschuden wissen. – Von andern Nationen umgeben und ihnen untertänig, sagt Karamsin, verloren die Slawen die Einheit ihrer Sprache, und es entstanden im Verlauf der Zeit verschiedene Mundarten derselben, von denen folgende die bedeutendsten sind.

1) Die russische, die ausgebildetste von allen übrigen und die am wenigsten mit fremden Wörtern vermischte;
2) die polnische, vermischt mit vielen deutschen und lateinischen Wörtern;
3) die tschechische in Böhmen und Mähren; sie ist dem Dialekte der altrussischen Bibelübersetzung am ähnlichsten und steht in der Mitte zwischen der polnischen und kroatischen Sprache; der in Ungarn übliche Dialekt wird der slawakische genannt und ist nur in der Aussprache von der tschechischen unterschieden;
4) die illirsche, d. i. die bulgarische, bosnische, serbische, slawonische und dalmatische;
5) die kroatische, der windischen in Steiermark am ähnlichsten, aber auch ähnlich den Mundarten in der Lausitz, im Kasubischen und Buchawischen. – In Meißen, Brandenburg, Pommern, im Mecklenburgischen und auch im Lünenburgischen war vor Zeiten die slawonische Sprache Volkssprache. Jetzt ist es natürlich die deutsche, sagt Karamsin nicht ohne Wehmut. Die Böhmen und Polen, welche sich zur römisch-katholischen Kirche bekennen, nahmen das lateinische Alphabet an, mit Hintansetzung des vom Papste Johann XIII. förmlich verbotenen cyrillischen oder slawonischen. Die slawischen Völker hatten vor einem Jahrtausend eine demokratische Verfassung. Viele der in dem heutigen Russland lebenden Stämme wurden von andern Völkern tributpflichtig gemacht; nur die baltischen Slawen behaupteten bis zum Jahr 859 ihre Unabhängigkeit. Da kamen fremde Eroberer von der skandinavischen Halbinsel (Normannen) von den Russen, Waräger genannt, übers Meer herüber, und belegten die Nowgororder mit einem Tribut. Zu dieser Zeit und auch nach derselben, hatten die Skandinavier sich fast überall furchtbar gemacht. In England wurden die Dänen, in Frankreich Normannen, und in Russland Waräger genannt. Sie plünderten nicht nur fast alle großen Küstenstädte Europas, sondern sie drangen auch auf den Strömen tiefer in das Land ein, und plünderten Köln, Paris, Hamburg und andere Städte. England eroberten sie ganz. Sie gründeten auch eigene Staaten, z. B. in Neapel, Frankreich, Russland, wovon wir bald reden werden. Ja, sie haben sogar, wie dänische Gelehrten behaupten, lange vor Columbus, den Weg nach Amerika gefunden. Der Däne Gardar, von schwedischer Herkunft, war der erste Normane, der im Jahr 863 Island entdeckte. 874 begann der Norweger Ingolf die Kolonisation dieses Landes, welche in 70 Jahren vollendet wurde. Erichs des Roten Sohn Leif, der Glückliche, machte im Jahre 1000 eine Entdeckungsreise in dem heutigen Neufoundland, das er damals Helluland nannte, in Bezug auf die flachen Steine daselbst. Desgleichen auch in Neuschottland, Weinland, Neuengland. Der berühmteste unter den ersten Entdeckern Amerikas ist Thorfim Karlsefne, ein Isländer. Er besuchte Grönland im Jahr 1006. So erzählt der gelehrte Däne, Carl Rafe in seinem Werke, das vor kurzem in Kopenhagen erschienen ist.

Zwei Jahre hatten die Skandinavier die baltischen Slawen und ihre Nachbarn, die Finnen mit einem leichten Tribut belegt, als die Unterjochten sich einigten und die fremden Zwingherren wieder zurück übers Meer jagten. Nun entstand eine große Anarchie unter den Slawen, alle wollten befehlen, keiner gehorchen. Es herrschte überall Streit und Unordnung, nirgends war Sicherheit des Eigentums, es gab unter ihnen keine Gerechtigkeit mehr. Die meisten mochten sich wohl viel behaglicher unter dem leichten Drucke der Skandinavier, als unter der rohen Willkür ihrer eigenen Oberbeamten gefühlt haben. Daher kam es wohl auch, dass der Rat Gostomüsls, eines alten und allgemein geliebten Nowgororders, fast allgemeinen Beifall fand. Nach diesem Rate, der auch befolgt wurde, sollten sich die baltischen Slawen einen Herrscher aus den tapferen Skandinaviern wählen. Sogleich wurde eine Gesandtschaft aus Nowgorordern und Finnen zu den Normannen übers Meer geschickt, welche, nach Nestor, dem Vater der russischen Geschichte, zu ihnen also sprachen: „Unser Land ist groß und gesegnet; nur Ordnung mangelt darin: also kommt, seid unsere Fürsten und herrscht über uns.“ – Kurze kräftige Worte! Drei Brüder aus dem Stamme Ross oder Russ, Namens Rurik, Sino und Truwor, entweder durch ihr Geschlecht, ihre Tapferkeit oder ihre Reichtümer berühmt, nahmen es an, über Männer zu herrschen, die zwar für ihre Freiheit zu kämpfen, aber die erkämpfte nicht zu bewahren verstanden. Von zahlreichen Waffengefährten umgeben, verließen sie 862 ihr Vaterland auf immer und zogen als Fürsten zu den Slawen und Finnen. Rurik machte Nowgorod zu seiner Residenz, Sino setzte sich am weißen See, im Gebiete der Westen fest, und Truwor schlug in Isborsk, im Lande der Kriwitschen, im heutigen Pskow'schen Gouvernement, einen Thron auf. Rurik führte bald das Feudalsystem in seinem Reiche ein. Seine Landsleute erhielten die höchsten Ehrenstellen; aus ihnen hatte er sich, zum eigenen Schutze, seine Leibwache gebildet. Die Großen des Landes hetzten bald das gemeine Volk gegen den Herrscher auf. Es entstand ein heftiger Aufruhr: der Kniäs Wiädim stand an der Spitze. Aber Rurik, umgeben von einer starken Leibgarde, zog ihm entgegen und erschlug ihn mit eigener Faust. Nachdem noch andere Anführer gefallen waren, war der Aufruhr auch bald gedämpft. Rurik zog nun den Strick der Despotie noch straffer an. Nowgorod belegte er mit einer Abgabe von anderthalb Zentner Silbers jährlich. Sino und Truwor starben nach zwei Jahren. Rurik vereinigte ihre Fürstentümer mit dem seinigen. Sein Gebiet bestand zuerst bloß aus den heutigen Gouvernements St. Petersburg, Nowgorod, Pskow und der Provinz Estland. Später unterwarf er sich durch Waffengewalt auch noch andere slawische und finnische Gebiete. Zwei Normänner, Namens Askold und Dir, die mit Rurik ins Land gekommen waren, zogen an der Spitze vieler ihrer Landsleute, zu denen sich auch noch Slawen und Finnen gesellten, gegen Konstantinopel, um Beute zu machen. Als sie an die Ufer des Dnjepr kamen, erblickten sie das hochgelegene Kiew, damals noch ein Städtchen, das wahrscheinlich schon vor Christi Geburt erbaut wurde. Seine slawischen Einwohner zahlten den Chasaren, einem Stamme der Tataren, Tribut. Askold und Dir schlugen die Chasaren, eroberten Kiew und herrschten als Fürsten darin. Viele Normänner zogen sie hierher, und so vermischten sich die Skandinavier, sowohl im Nowgorod’schen als im Kiew’schen mit den Slawen, und nannten sich nach Ruriks Familiennamen: Rossen oder Russen. Rurik setzte seinen Neffen Oleg zum Regenten ein, da sein Sohn Igor noch sehr klein war, und starb 879, nachdem er 17 Jahre regiert hatte.

Oleg mochte sich unter den freiheitsliebenden, zu Aufständen geneigten Nowgorordern nicht heimisch gefühlt haben; denn er zog mit Igor und an der Spitze eines starken Heeres tief ins Land ein, eroberte Smolensk und darauf Kiew, wo er Askold und Dir meuchelmörderisch umbringen ließ. Kiew gefiel ihm so sehr, dass er hier ein Hoflager machte und ausrief: „Du sollst von nun an fein die Mutter aller russischen Städte!“ Nachdem er sich ringsumher alle anderen noch unabhängigen Volksstämme unterworfen, und den Thron seines Mündels in Kiew befestigt hatte, zog er an der Spitze eines gewaltigen Heeres gegen Konstantinopel, nagelte seinen Schild an eins der Tore und erzwang von dem griechischen Kaiser einen für sich eben so vorteilhaften, als für Konstantinopel schmählichen Frieden. Mit überaus reicher Beute kehrte er nach Kiew zurück. Er unterwarf sich nach und nach noch viele Gebiete, auch Podolien, Wolhynien und selbst Galizien. So wurde Russland schon im 10. Jahrhundert ein mächtiger Staat. Oleg vermählte seinen Neffen Igor mit Olga, welche später, da sie sich hatte taufen lassen, von der russischen Kirche heilig gesprochen wurde. Olga, heißt es, soll von armen normannischen Eltern, die unter Rurik nach dem nunmehrigen Russland gekommen waren, herstammen. Sie war von großer körperlicher Schönheit und besaß einen männlichen Geist. Nach Igors, ihres Mannes Tode, führte sie zwölf Jahre die Regentschaft. Sie rächte sich auf eine furchtbare Weise an den Derewiern, die ihren Mann ermordet, weil er ihnen einen unerschwinglichen Tribut auferlegt hatte. Aus Liebe zu ihrem Geburtsorte gab sie der Stadt Pskow die ausgedehntesten Freiheiten. Und so bildete sich diese Stadt mit der Zeit zu einer Republik, ganz so wie Nowgorod.

Oleg starb, nachdem er 33 Jahre regiert hatte. Ihm folgte Igor, der eben genannte, in der Regierung, der von 912 bis 945 herrschte.

Die slavischen Gesandten vor Rurik, dem Gründer des Russischen Reiches

Die slavischen Gesandten vor Rurik, dem Gründer des Russischen Reiches