50. Die Jungfrau am Waschstein. II.

Vor vielen Jahren sah einmal ein Fischer, wie eine schöne Jungfrau unten am Waschstein stand und ein blutiges Tuch ins Meer tauchte, um die Blutflecken daraus zu entfernen; aber ihre Mühe war vergeblich. Da fasste er sich ein Herz und ruderte näher zu ihr hin und redete sie an mit den Worten: „Gott helf, schöne Jungfrau! Was machst du so spät hier noch allein?“ Die Jungfrau verschwand darauf, aber der Fischer war wie von einer Zauberei befangen, so dass er nicht von der Stelle konnte.

Wie nun Mitternacht kam, sah er die Jungfrau wieder; sie trat zwischen den Kreidefelsen hervor auf ihn zu und sprach zu ihm: „Weil du Gott helf zu mir gesprochen, so ist dein Glück gemacht; folge mir nach!“ Damit kehrte sie zwischen die Felsen zurück, und er folgte ihr in eine große weite Höhle, die er vorher noch nie gesehen hatte. Darin lagen unermessliche Haufen von Silber, Gold, Edelsteinen und Kostbarkeiten aller Art.


Als der Fischer die noch überschaute, hörte er auf einmal auf der See Ruderschlag, und als er sich darnach umblickte, sah er ein großes schwarzes Schiff nahen. Aus demselben stiegen an die tausend Männer, alle in dunkler, alter Tracht und alle das Haupt unter dem Arme tragend. Die schritten still und ohne ein Wort zu sprechen in die Höhle hinein und fingen an, in den aufgespeicherten Schätzen zu wühlen und sie zu zählen. Das waren die Geister des geköpften Störtebecker und seiner Genossen; sie kommen jede Nacht so dahin und zählen ihren Raub, ob er noch vorhanden ist. Nachdem sie lange Zeit in dem Golde herumgewühlt hatten, verschwanden sie alle wieder, und nun füllte die Jungfrau dem Fischer einen Krug mit Gold und Edelsteinen, dass er zeitlebens der Reichtümer genug hatte. Darauf geleitete sie ihn zu seinem Schiffe zurück, und als er sich wieder nach ihr umsah, war sie mitsamt der Höhle verschwunden.

Temme Nr. 211. — Die Sage ist poetisch behandelt von A. von Chamisso, E. H. Freyberg (Pom. Sagen in Balladen und Romanzen, Pasewalk 1836, S. 26 ff.) und in der Sundine 1838, S. 321. Über die Quelle Chamissos handelt Reuschel in der Zeitschr. für vergl. Littgesch. 1900 S. 514 f.