Reisefreuden von ehedem

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Dr. Theodor Wolff, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Reisen, Reisewagen, Kutschen, Postkutschen, Verkehrsmittel, Reisezeit, Reiseziel,
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er bekanntlich in die weite Welt, aber volle Berechtigung hat dieses Lob des Reisens doch erst erlangt, seit die modernen Verkehrsmittel, vor allem Eisenbahn und Automobil, geschaffen worden sind, durch die Fahren und Reisen zu einer der am meisten geübten Gepflogenheiten und zugleich auch der angenehmsten und beliebtesten Nebenbeschäftigungen geworden sind. In jenen früheren Zeiten hingegen, die noch immer viele als die gute alte Zeit preisen und wieder herbeiwünschen, hätte ein Dichter das Lob des Reisens nur mit Einschränkung anstimmen dürfen.

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Denn es sah um Reisekunst und Reisetechnik jener vielgelobten Epoche recht fragwürdig aus. Versetzen wir uns zurück in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. An Reisefahrzeugen gab es damals für die Reichen und Vornehmen nur Kutschwagen, große, schwerfällige Fahrzeuge, die noch keine Federung hatten, sondern in Riemen hingen und daher beim Fahren in eine schaukelnde Bewegung gerieten, die auf die Dauer selbst nervenfeste Reisende seekrank machte. Für die übrige Menschheit, soweit sie Lust zum Fahren hatte, gab es nur Fracht-, Last-, Rüst- und Bagagewagen, die für gewöhnlich dem Warentransport dienten, aber gelegentlich auch menschliche Fracht mitnahmen. Ein Mittelding zwischen beiden waren die Postkutschen, die damals noch jeglicher Reisebequemlichkeit entbehrten und überdies noch so selten waren, dass die meisten Menschen sie nur vom Hörensagen kannten. Der Gebrauch von Wagenfahrzeugen, die der Personenbeförderung dienten, war im Wesentlichen auf den Umkreis der

Städte beschränkt. Allzuweit über die Grenzen der Stadt durfte man sich in der Kutsche nicht hinauswagen, denn dort waren noch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Wege derart schlecht, dass sie das Fahren zu einem lebensgefährlichen Unternehmen machten. Musste doch jeder Kutschwagen, der sich aus der Stadt wagte, Leute mitnehmen zu dem alleinigen Zweck, das Fuhrwerk in den zahllosen Fällen, wo es stecken blieb, durch Hebebäume wieder flott zu machen. Wo aber die durchweichten und kotigen Wege das Weiterfahren zur Unmöglichkeit machten, mussten Steine und Äste in den Schlamm geworfen werden, um den Weg passieren zu können, eine Fahrweise, die zu der Redensart „über Stock und Stein“ Veranlassung gegeben hat. Von Brücken, Landstraßen, überhaupt von irgend einer Art des Wegebaues war damals so gut wie nichts vorhanden, und nur wenige vielbesuchte Straßen waren notdürftig instand gehalten.

Unter solchen Verhältnissen konnte auch der Gebrauch der Kutschen nicht über eine Art Sport der Bemittelten hinauskommen. Der eigentliche Fernreiseverkehr sowohl für die Personen wie auch die Waren- und Nachrichtenbeförderung war noch vollständig auf das Pferd angewiesen. Schrieb doch noch am Ende des siebzehnten Jahrhunderts ein Reiseschriftsteller: „Nehmt die Pferde hinweg, und ihr raubt nicht nur den alten und schwachen, sondern überhaupt allen Menschen die Möglichkeit zu reisen, denn die Kutschen sind nur für die ganz großen Heerstraßen brauchbar, und andere Wagen können nur mit den allergrößten Beschwerlichkeiten geführt werden.“ Der Kutschenbesitzer aber, der sich dennoch mit seinem Gefährt auf die Landstraße wagte, brachte Reiseerinnerungen ebenso unvergesslicher Art nach Hause. „Märtyrer der Landstraße“ nennt der berühmte englische Historiker Macauly jene Wagemutigen, und er berichtet, dass eine Kutsche, um eine Strecke von anderthalb englischen Meilen zurückzulegen, bis zu sechs Stunden brauchte. Oft auch gerieten die Kutschen völlig vom Wege ab, überdies liefen Kutscher und Insassen ständig Gefahr, von den Frachtfuhrleuten verprügelt zu werden, weil diese auf die vornehmen Leute, die durch ihr Kutschenfahren die Wege noch schlechter machten, nicht gut zu sprechen waren. In schlimmen Zeiten hatten, wie Macauly sagt, die Reisenden Gefahren zu bestehen, denen man sonst nur auf einer Reise nach dem Eismeer oder durch die Wüste ausgesetzt war. Der Prinz Georg von Dänemark brauchte, als er im Jahre 1703 nach Windsor reiste, für die letzte Strecke von neun englischen Meilen nicht weniger als volle vierzehn Stunden. Diese Langsamkeit der prinzlichen Reise schien selbst den Zeitgenossen etwas übermäßig, und ein Hofchronist gab dieser Meinung Ausdruck mit den bezeichnenden Worten, „dass die lange Reise umso mehr habe überraschen müssen, als seine Königliche Hoheit nur dann anhielt, wenn der Wagen umgeworfen wurde“. In anderen Ländern waren die Reiseverhältnisse auch nicht besser; so ist uns ein Bericht der Madame de Sévigny erhalten, die im Jahre 1672 im Wagen von Paris nach Marseille fuhr und zur Zurücklegung dieser Strecke, für die man heute in der Eisenbahn oder im Automobil kaum einen Vierteltag braucht, nicht weniger als einen vollen Monat benötigte.

Erst zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts begann man dem Straßenbau mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden und die Anlage neuer und besserer Wege zu betreiben. Damit trat auch der Wagen allmählich in stärkerem Maße als Personenbeförderungsmittel in das Verkehrsleben ein. Im Jahre 1700 wurde die erste Postkutsche dem Verkehr übergeben. Auch die sogenannte Chaise, ein zwei- oder vierrädriger und mit Verdeck versehener Wagen, trat auf den Plan und der nach seinem Ursprungsort benannte Landauer, ein leichter Reisewagen mit Zurückschlagbarem Verdeck. Erst mit diesen Fahrzeugen entwickelte sich ein etwas lebhafterer Reiseverkehr, der Land und Leute einigermaßen näher brachte. Die Glanzzeit der Postkutsche und des Schwagers Postillion hub an; sie währte bis zur Einführung der Eisenbahnen, und in den Städten entwickelten sich die ersten Anfänge des öffentlichen Lohnfahrwesens mit Fiaker, Omnibus und so weiter. Sogar die ersten Klagen über zu schnelles Fahren der Kutscher — ein Zeichen der allmählichen Hebung des Wagenverkehrs und Reisewesens — wurden laut, und die ersten Maßregeln dagegen wurden eingeführt. So suchte Kaiser Joseph II. dem Wettfahren der Kutscher dadurch ein Ende zu machen, dass er den Polizeidienern das Recht gab, jedem auf der Landstraße oder in der Stadt allzu schnell fahrenden Kutscher, „wem er auch angehöre und wen er auch fahre, auf der Stelle Achtung gegen das Publikum per posteriora vermittels fünfundzwanzig Schmerzen einzuprägen“. Ob dieses etwas drastische Mittel den gewünschten Erfolg hatte, ist nicht bekannt. Öffentliche Lohnwagen auch für weitere Reisen waren die Haudererwagen. Darunter versteht man derbe, verdeckte Fuhrwerke, deren sich die minder wohlhabende Bevölkerung gegen mäßige Gebühr bedienen konnte. Ein Genuss war eine Haudererfahrt freilich nicht, und auf Bequemlichkeit oder sanftes Fahren durften die Reisenden keinen Anspruch erheben, schon deshalb nicht, weil sie sich mit einer Unzahl von Fässern, Paketen, Ballen und sonstigem Frachtgut in den Raum zu teilen hatten. Dennoch belebten die Haudererwagen die Landstraßen in erfreulicher Weise.

Ein freundliches Bild des Reiselebens boten freilich nur die wenigen Hauptstraßen; die meisten Landstraßen dagegen befanden sich auch damals noch in bejammernswertem Zustande. Welche Schwierigkeiten selbst in jenen Tagen noch eine größere Wagenreise infolge der elenden Beschaffenheit der Wege verursachte, darüber belehrt uns der folgende reisegeschichtlich berühmt gewordene Bericht. Im Jahre 1721 unternahm ein wohlhabender Bürger aus Schwäbisch-Gmünd mit Frau und Magd im Planwagen eine Reise nach Ellwangen — eine Entfernung, die heute mit der Bahn in einer knappen Stunde zurückgelegt wird. Vorsichtigerweise hatte der fromme Mann vor Antritt der Reise eine Messe für glückliches Gelingen des waghalsigen Unternehmens beten lassen. Doch schon eine Stunde nach Antritt der Fahrt blieb der Wagen auf der durchweichten Landstraße stecken, so dass alle aussteigen mussten, um, bis an die Knie im Morast watend, den Wagen durch gemeinsames Schieben wieder flott zu machen. Das nächste Unglück ereignete sich dann im Dorfe Löbingen, wo das eine Vorderrad in ein Mistloch geriet, so dass der Wagen umschlug und die Insassen sämtlich gehörig zerschunden wurden. Nachdem man übernachtet und am nächsten Tage die Reise fortgesetzt hatte, auch schon glücklich bis zu dem Dorfe Hofen gekommen war, stürzte der Wagen in eine tiefe Pfütze und schlug abermals um. Dabei brach die Magd die rechte Schulter, der Kutscher verstauchte die linke Hand, eine Radachse zerbrach, ein Pferd wurde gelähmt, überdies wurden alle Reisenden in ärgster Weise mit Schmutz und Wasser besudelt. Erst am dritten Tage konnte man mit frischem Wagen und Geschirr die Reise fortsetzen, und am Abend dieses Tages gelangte man endlich „höchst erbärmlichen Zustandes“, wie der Chronist bemerkt, ans Ziel.

Geschätzter Zeit- und Reisegenosse, der du, sei es als Wochenendler, sei es als Urlauber oder Ferienfahrer, vermittels Dampfrosses oder Autos so leicht, so schnell und bequem zu reisen vermagst! Denke, wenn wieder einmal eine Zugverspätung eintreten oder ein Schaffner sich etwas unhöflich gebärden sollte, mit wieviel größeren Misshelligkeiten sich unsere Altvordern abzuplagen hatten, wenn sie eine Reise unternahmen. Dann wird sich dein Reiseärger verflüchtigen. Die Freude am Reisen, auf das man während des ganzen Jahres so sehnsüchtig wartet, nicht durch Kleinigkeiten beeinträchtigen zu lassen, das ist eine Nutzanwendung, die der reisende Mensch von heute, wenn er der Reiseerlebnisse unserer Altvordern gedenkt, zu eigenem Nutz und Frommen ziehen kann.

Reisen im Pferdetragstuhl, 16. Jahrhundert.

Reisekutsche aus der „guten alten Zeit“.

Reisekutsche von Thurn und Taxis zu Frankfurt a. M. zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Kaufmannswagen auf dem Weg zur Messe, 17.Iahrhundert.

Die Gefahren der Landstraße, ein Spottbild aus dem Jahr 1780.

Eine Luxuskarosse Ludwigs XIV. (Mitte des 17. Jahrhunderts).

Der heutige Kraftverkehrswagen der Reichspost. Er ist als Aussichtswagen gebaut und bietet Raum für achtundzwanzig Personen. (Photothek)

Reisefreuden 01 Reisen im Pferdetragstuhl, 16. Jahrhundert

Reisefreuden 01 Reisen im Pferdetragstuhl, 16. Jahrhundert

Reisefreuden 02 Kaufmannswagen auf dem Weg zur Messe 17. Jahrhundert

Reisefreuden 02 Kaufmannswagen auf dem Weg zur Messe 17. Jahrhundert

Reisefreuden 03 Reisekutsche aus den guten alten Zeit

Reisefreuden 03 Reisekutsche aus den guten alten Zeit

Reisefreuden 04 Reisekutsche von Turn und Taxis zu Frankfurt a. M. zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Reisefreuden 04 Reisekutsche von Turn und Taxis zu Frankfurt a. M. zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Reisefreuden 05 Die Gefahren der Landstraße, ein Spottbild aus dem Jahr 1780

Reisefreuden 05 Die Gefahren der Landstraße, ein Spottbild aus dem Jahr 1780

Reisefreuden 06 Eine Reisekutsche aus der Zeit Ludwigs XV., Ende des 18. Jahrhunderts

Reisefreuden 06 Eine Reisekutsche aus der Zeit Ludwigs XV., Ende des 18. Jahrhunderts

Reisefreuden 07 Eine Luxuskarosse Ludwigs XIV., Mitte des 17. Jahrhunderts

Reisefreuden 07 Eine Luxuskarosse Ludwigs XIV., Mitte des 17. Jahrhunderts

Reisefreuden 08 Der heutige Kraftverkehrswagen der Reichspost. Er ist als Aussichtswagen gebaut und bietet Raum für 28 Personen, Photothek

Reisefreuden 08 Der heutige Kraftverkehrswagen der Reichspost. Er ist als Aussichtswagen gebaut und bietet Raum für 28 Personen, Photothek

Kutschenausstellung in London 1879

Kutschenausstellung in London 1879