Abschnitt 2

Ideen Das Buch Le Grand


Kapitel XV


Manche Leute, die keine geborene Narren und einst mit Vernunft begabt gewesen, sind solcher Vorteile wegen zu den Narren übergegangen, leben bei ihnen ein wahres Schlaraffenleben, die Torheiten, die ihnen anfänglich noch immer einige Überwindung gekostet, sind ihnen jetzt schon zur zweiten Natur geworden, ja sie sind nicht mehr als Heuchler, sondern als wahre Gläubige zu betrachten. Einer derselben, in dessen Kopf noch keine gänzliche Sonnenfinsternis eingetre ten, liebt mich sehr, und jüngsthin, als ich bei ihm allein war, verschloß er die Türe und sprach zu mir mit ernster Stimme: „O Tor, der du den Weisen spielst und dennoch nicht soviel Verstand hast wie ein Rekrut im Mutterleibe! weißt du denn nicht, daß die Großen des Landes nur denjenigen erhöhen, der sich selbst erniedrigt und ihr Blut für besser rühmt als das seinige. Und nun gar verdirbst du es mit den Frommen des Landes! Ist es denn so überaus schwer, die gnadenseligen Augen zu verdrehen, die gläubig verschränkten Hände in die Rockärmel zu vermuffen, das Haupt wie ein Lamm Gottes herabhängen zu lassen und auswendig gelernte Bibelsprüche zu wispern! Glaub mir, keine Hocherlauchte wird dich für deine Gottlosigkeit bezahlen, die Männer der Liebe werden dich hassen, verleumden und verfolgen, und du machst keine Karriere, weder im Himmel noch auf Erden!“

Ach! das ist alles wahr! Aber ich hab nun mal diese unglückliche Passion für die Vernunft! Ich liebe sie, obgleich sie mich nicht mit Gegenliebe beglückt. Ich gebe ihr alles, und sie gewährt mir nichts. Ich kann nicht von ihr lassen. Und wie einst der jüdische König Salomon im Hohenliede die christliche Kirche besungen, und zwar unter dem Bilde eines schwarzen, liebeglühenden Mädchens, damit seine Juden nichts merkten, so habe ich in unzähligen Liedern just das Gegenteil, nämlich die Vernunft, besungen, und zwar unter dem Bilde einer weißen, kalten Jungfrau, die mich anzieht und abstößt, mir bald lächelt, bald zürnt und mir endlich gar den Rücken kehrt. Dieses Geheimnis meiner unglücklichen Liebe, das ich niemanden offenbare, gibt Ihnen, Madame, einen Maßstab zur Würdigung meiner Narrheit, Sie sehen daraus, daß solche von außerordentlicher Art ist und großartig hervorragt über das gewöhnliche närrische Treiben der Menschen. Lesen Sie meinen „Ratcliff“, meinen „Almansor“, mein „Lyrisches Intermezzo“ – Vernunft! Vernunft! nichts als Vernunft! –, und Sie erschrecken ob der Höhe meiner Narrheit. Mit den Worten Agurs, des Sohnes Jake, kann ich sagen: „Ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir.“ Hoch in die Lüfte hebt sich der Eichwald, hoch über den Eichwald schwingt sich der Adler, hoch über dem Adler ziehen die Wolken, hoch über den Wolken blitzen die Sterne – Madame, wird Ihnen das nicht zu hoch? eh bien –, hoch über den Sternen schweben die Engel, hoch über den Engeln ragt – nein, Madame, höher kann es meine Narrheit nicht bringen. Sie bringt es hoch genug! Ihr schwindelt vor ihrer eigenen Erhabenheit. Sie macht mich zum Riesen mit Siebenmeilenstiefeln. Mir ist des Mittags zumute, als könnte ich alle Elefanten Hindostans aufessen und mir mit dem Straßburger Münster die Zähne stochern; des Abends werde ich so sentimental, daß ich die Milchstraße des Himmels aussaufen möchte, ohne zu bedenken, daß einem die kleinen Fixsterne sehr unverdaulich im Magen liegenbleiben; und des Nachts geht der Spektakel erst recht los, in meinem Kopf gibt’s dann einen Kongreß von allen Völkern der Gegenwart und Vergangenheit, es kommen die Assyrer, Ägypter, Meder, Perser, Hebräer, Philister, Frankfurter, Babylonier, Karthager, Berliner, Römer, Spartaner, Türken, Kümmeltürken – Madame, es wäre zu weitläuftig, wenn ich Ihnen all diese Völker beschreiben wollte, lesen Sie nur den Herodot, den Livius, die „Haude- und Spenersche Zeitung“, den Curtius, den Cornelius Nepos, den „Gesellschafter“ – Ich will unterdessen frühstücken, es will heute morgen mit dem Schreiben nicht mehr so lustig fortgehn, ich merke, der liebe Gott läßt mich in Stich – Madame, ich fürchte sogar, Sie haben es früher bemerkt als ich –, ja, ich merke, die rechte Gotteshülfe ist heute noch gar nicht dagewesen – Madame, ich will ein neues Kapitel anfangen und Ihnen erzählen, wie ich nach dem Tode Le Grands in Godesberg ankam.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Zweiter Teil