Abschnitt 1

Ideen Das Buch Le Grand


Kapitel X


Es war ein klarer, fröstelnder Herbsttag, als ein junger Mensch von studentischem Ansehen durch die Allee des Düsseldorfer Hofgartens langsam wanderte, manchmal, wie aus kindischer Lust, das raschelnde Laub, das den Boden bedeckte, mit den Füßen aufwarf, manchmal aber auch wehmütig hinaufblickte nach den dürren Bäumen, woran nur noch wenige Goldblätter hingen. Wenn er so hinaufsah, dachte er an die Worte des Glaukos:

„Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;

Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann

Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling;

So der Menschen Geschlecht, dies wächst, und jenes verschwindet.“

In frühern Tagen hatte der junge Mensch mit ganz andern Gedanken an ebendieselben Bäume hinaufgesehen, und er war damals ein Knabe und suchte Vogelnester oder Sommerkäfer, die ihn gar sehr ergötzten, wenn sie lustig dahinsummten und sich der hübschen Welt erfreuten und zufrieden waren mit einem saftig-grünen Blättchen, mit einem Tröpfchen Tau, mit einem warmen Sonnenstrahl und mit dem süßen Kräuterduft. Damals war des Knaben Herz ebenso vergnügt wie die flatternden Tierchen. Jetzt aber war sein Herz älter geworden, die kleinen Sonnenstrahlen waren darin erloschen, alle Blumen waren darin abgestorben, sogar der schöne Traum der Liebe war darin verblichen, im armen Herzen war nichts als Mut und Gram, und damit ich das Schmerzlichste sage – es war mein Herz.

Denselben Tag war ich zur alten Vaterstadt zurückgekehrt, aber ich wollte nicht darin übernachten und sehnte mich nach Godesberg, um zu den Füßen meiner Freundin mich niederzusetzen und von der kleinen Veronika zu erzählen. Ich hatte die lieben Gräber besucht. Von allen lebenden Freunden und Verwandten hatte ich nur einen Ohm und eine Muhme wiedergefunden. Fand ich auch sonst noch bekannte Gestalten auf der Straße, so kannte mich doch niemand mehr, und die Stadt selbst sah mich an mit fremden Augen, viele Häuser waren unterdessen neu angestrichen worden, aus den Fenstern guckten fremde Gesichter, um die alten Schornsteine flatterten abgelebte Spatzen, alles sah so tot und doch so frisch aus, wie Salat, der auf einem Kirchhofe wächst; wo man sonst französisch sprach, ward jetzt preußisch gesprochen, sogar ein kleines preußisches Höfchen hatte sich unterdessen dort angesiedelt, und die Leute trugen Hoftitel, die ehemalige Friseurin meiner Mutter war Hoffriseurin geworden, und es gab jetzt dort Hofschneider, Hofschuster, Hofwanzenvertilgerinnen, Hofschnapsladen, die ganze Stadt schien ein Hoflazarett für Hofgeisteskranke. Nur der alte Kurfürst erkannte mich, er stand noch auf dem alten Platz; aber er schien magerer geworden zu sein. Eben weil er immer mitten auf dem Markte stand, hatte er alle Misere der Zeit mit angesehen, und von solchem Anblick wird man nicht fett. Ich war wie im Traume und dachte an das Märchen von den verzauberten Städten, und ich eilte zum Tor hinaus, damit ich nicht zu früh erwachte. Im Hofgarten vermißte ich manchen Baum, und mancher war verkrüppelt, und die vier großen Pappeln, die mir sonst wie grüne Riesen erschienen, waren klein geworden. Einige hübsche Mädchen gingen spazieren, bunt geputzt, wie wandelnde Tulpen. Und diese Tulpen hatte ich gekannt, als sie noch kleine Zwiebelchen waren; denn ach! es waren ja Nachbarskinder, womit ich einst „Prinzessin im Turme“ gespielt hatte. Aber die schönen Jungfrauen, die ich einst als blühende Rosen gekannt, sah ich jetzt als verwelkte Rosen, und in manche hohe Stirne, deren Stolz mir einst das Herz entzückte, hatte Saturn mit seiner Sense tiefe Runzeln eingeschnitten. Jetzt erst, aber ach! viel zu spät, ent deckte ich, was der Blick bedeuten sollte, den sie einst dem schon jünglinghaften Knaben zugeworfen; ich hatte unterdessen in der Fremde manche Parallelstellen in schönen Augen bemerkt. Tief bewegte mich das demütige Hutabnehmen eines Mannes, den ich einst reich und vornehm gesehen und der seitdem zum Bettler herabgesunken war; wie man denn überall sieht, daß die Menschen, wenn sie einmal im Sinken sind, wie nach dem Newtonschen Gesetze, immer entsetzlich schneller und schneller ins Elend herabfallen. Wer mir aber gar nicht verändert schien, das war der kleine Baron, der lustig wie sonst durch den Hofgarten tänzelte, mit der einen Hand den linken Rockschoß in der Höhe haltend, mit der andern Hand sein dünnes Rohrstöckchen hin und her schwingend; es war noch immer dasselbe freundliche Gesichtchen, dessen Rosenröte sich nach der Nase hin konzentriert, es war noch immer das alte Kegelhütchen, es war noch immer das alte Zöpfchen, nur daß aus diesem jetzt einige weiße Härchen statt der ehemaligen schwarzen Härchen hervorkamen. Aber so vergnügt er auch aussah, so wußte ich dennoch, daß der arme Baron unterdessen viel Kummer ausgestanden hatte, sein Gesichtchen wollte es mir verbergen, aber die weißen Härchen seines Zöpfchens haben es mir hinter seinem Rücken verraten. Und das Zöpfchen selber hätte es gerne wieder abgeleugnet und wackelte gar wehmütig lustig.

Ich war nicht müde, aber ich bekam doch Lust, mich noch einmal auf die hölzerne Bank zu setzen, in die ich einst den Namen meines Mädchens eingeschnitten. Ich konnte ihn kaum wiederfinden, es waren so viele neue Namen darüber hingeschnitzelt. Ach! einst war ich auf dieser Bank eingeschlafen und träumte von Glück und Liebe. „Träume sind Schäume.“ Auch die alten Kinderspiele kamen mir wieder in den Sinn, auch die alten, hübschen Märchen; aber ein neues falsches Spiel und ein neues häßliches Märchen klang immer hindurch, und es war die Geschichte von zwei armen Seelen, die einander untreu wurden und es nachher in der Treulosigkeit so weit brachten, daß sie sogar dem lieben Gotte die Treue brachen. Es ist eine böse Geschichte, und wenn man just nichts Besseres zu tun weiß, kann man darüber weinen. O Gott! einst war die Welt so hübsch, und die Vögel sangen dein ewiges Lob, und die kleine Veronika sah mich an mit stillen Augen, und wir saßen vor der marmornen Statue auf dem Schloßplatz – auf der einen Seite liegt das alte, verwüstete Schloß, worin es spukt und nachts eine schwarzseidene Dame ohne Kopf mit langer, rauschender Schleppe herumwandelt; auf der andern Seite ist ein hohes weißes Gebäude, in dessen oberen Gemächern die bunten Gemälde mit goldnen Rahmen wunderbar glänzten und in dessen Unterge schosse so viele tausend mächtige Bücher standen, die ich und die kleine Veronika oft mit Neugier betrachteten, wenn uns die fromme Ursula an die großen Fenster hinanhob – Späterhin, als ich ein großer Knabe geworden, erkletterte ich dort täglich die höchsten Leitersprossen und holte die höchsten Bücher herab und las darin so lange, bis ich mich vor nichts mehr, am wenigsten vor Damen ohne Kopf, fürchtete, und ich wurde so gescheut, daß ich alle alte Spiele und Märchen und Bilder und die kleine Veronika und sogar ihren Namen vergaß.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Zweiter Teil