Abschnitt 2

Englische Fragmente


I Gespräch auf der Themse


Gar wunderlich sind doch die Menschen! Im Vaterlande brummen wir, jede Dummheit, jede Verkehrtheit dort verdrießt uns, wie Knaben möchten wir täglich davonlaufen in die weite Welt; sind wir endlich wirklich in die weite Welt gekommen, so ist uns diese wieder zu weit, und heimlich sehnen wir uns oft wieder nach den engen Dummheiten und Verkehrtheiten der Heimat, und wir möchten wieder dort in der alten, wohlbekannten Stube sitzen und uns, wenn es anginge, ein Haus hinter den Ofen bauen und warm drin hocken und den „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ lesen. So ging es auch mir auf der Reise nach England. Kaum verlor ich den Anblick der deutschen Küste, so erwachte in mir eine kuriose Nachliebe für jene teutonischen Schlafmützen- und Perückenwälder, die ich eben noch mit Unmut verlassen, und als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.

Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich klingen, als ich dem gelben Mann antwortete: „Lieber Herr, scheltet mir nicht die Deutschen! Wenn sie auch Träumer sind, so haben doch manche unter ihnen so schöne Träume geträumet, daß ich sie kaum vertauschen möchte gegen die wachende Wirklichkeit unserer Nachbaren. Da wir alle schlafen und träumen, so können wir vielleicht die Freiheit entbehren; denn unsere Tyrannen schlafen ebenfalls und träumen bloß ihre Tyrannei. Nur damals sind wir erwacht, als die katholischen Römer unsere Traumfreiheit geraubt hatten; da handelten wir und siegten und legten uns wieder hin und träumten. O Herr! spottet nicht unserer Träumer, dann und wann, wie Somnambüle, sprechen sie Wunderbares im Schlafe, und ihr Wort wird Saat der Freiheit. Keiner kann absehen die Wendung der Dinge. Der spleenige Brite, seines Weibes überdrüs sig, legt ihr vielleicht einst einen Strick um den Hals und bringt sie zum Verkauf nach Smithfield. Der flatterhafte Franzose wird seiner geliebten Braut vielleicht treulos und verläßt sie und tänzelt singend nach den Hofdamen (courtisanes) seines königlichen Palastes (palais royal). Der Deutsche wird aber seine alte Großmutter nie ganz vor die Türe stoßen, er wird ihr immer ein Plätzchen am Herde gönnen, wo sie den horchenden Kindern ihre Märchen erzählen kann – Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken.“

Während nun das Dampfboot, und auf demselben unser Gespräch, den Strom hinaufschwamm, war die Sonne untergegangen, und ihre letzten Strahlen beleuchteten das Hospital zu Greenwich, ein imposantes palastgleiches Gebäude, das eigentlich aus zwei Flügeln besteht, deren Zwischenraum leer ist, und einen mit einem artigen Schlößlein gekrönten, waldgrünen Berg den Vorbeifahrenden sehen läßt. Auf dem Wasser nahm jetzt das Gewühl der Schiffe immer zu, und ich wunderte mich, wie geschickt diese großen Fahrzeuge sich einander ausweichen. Da grüßt im Begegnen manch ernsthaft freundliches Gesicht, das man nie gesehen hat und vielleicht auch nie wiedersehen wird. Man fährt sich so nahe vorbei, daß man sich die Hände reichen könnte zum Willkomm und Abschied zu gleicher Zeit. Das Herz schwillt beim Anblick so vieler schwellenden Segel und wird wunderbar aufgeregt, wenn vom Ufer her das verworrene Summen und die ferne Tanzmusik und der dumpfe Matrosenlärm herandröhnt. Aber im weißen Schleier des Abendnebels verschwimmen allmählich die Konturen der Gegenstände, und sichtbar bleibt nur ein Wald von Mastbäumen, die lang und kahl emporragen.

Der gelbe Mann stand noch immer neben mir und schaute sinnend in die Höhe, als suche er im Nebelhimmel die bleichen Sterne. Noch immer in die Höhe schauend, legte er die Hand auf meine Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken unwillkürlich zu Worten werden, sprach er: „Freiheit und Gleichheit! man findet sie nicht hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne sind nicht gleich, einer ist größer und leuchtender als der andere, keiner von ihnen wandelt frei, alle gehorchen sie vorgeschriebenen, eisernen Gesetzen – Sklaverei ist im Himmel wie auf Erden.“

„Das ist der Tower!“ rief plötzlich einer unserer Reisegefährten, indem er auf ein hohes Gebäude zeigte, das aus dem nebelbedeckten London, wie ein gespenstisch dunkler Traum, hervorstieg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Vierter Teil